Der Vogel

Mit einem Kreischen und wildem Flattern, sodass sich einige kaputte Federn aus seinem Gefieder lösten, hob der Vogel in die Lüfte und drehte erst einige Runden in der Luft, um sich warm zu fliegen.
Genauso drehte ich meine Runden und beobachtete dabei die Umgebung. Es war dreckig. Der graue Schnee lag wie kleine Hügel am Straßenrand. Kleine Kieselsteine krönten die Hügel in einem unregelmäßigen Muster. Auf einem Haufen waren viel mehr Steinchen im Schnee, als auf dem Gehweg daneben. War ja sehr praktisch.

Mitten auf dem Weg lag eine rot-weiße Zigarettenschachtel, die ich schon von weitem sehen konnte. Zerknüllt lag sie dort auf dem grauen Untergrund. Aus dem halb zerrissenen Deckel versuchte sich eine kaputte Zigarette heraus zu drücken.
In der Nähe verweilte ich etwas und sah mich in der Umgebung um. Nicht weit von mir entfernt war eine Gruppe Jugendlicher.
Es handelte sich um einen Jungen und zwei Mädchen, wobei das eine Mädchen schon eher aussah wie ein Junge. Ein stämmiger Junge. Ein stämmiger Junge mit Schulterlangen Haaren. Wie sie die Kippe zwischen ihren Fingern hin und her bewegte, sie dann zum Mund führte und einmal tief einatmete, bestärkte meine erste Annahme, dass es sich eigentlich um einen Jungen handeln sollte.
Aber sie war ein Mädchen.
Die Mütze, die sie trug war dick. Aus dicker Wolle gemacht. Sie war dick.
Der Junge, der komischerweise der kleinste von allen war, was vielleicht auch daran lag, dass das zweite Mädchen auf hochhackigen Schuhen lief, sah immer wieder gierig zum rauchenden Mädchen.
Man spürte die Coolness, die die Luft zum vibrieren brachte, als das dicke Mädchen eine Schachtel aus ihrer Jacke zog und dem Jungen eine Zigarette abgab.

Es war Tag, aber trotzdem kam es mir so vor, als würde die kleine Flamme des Feuerzeugs und die Glut der Zigarette den Ort erhellen. Von der Ferne her strahlte die Glut schwach eine Wärme aus, die mich nach einigen Momenten erreichten. Das Gefühl verflog aber wieder, als der Junge die Zigarette von seinen Lippen absetzte und aus dem kleiner werdenden Spalt seines Mundes der neblige Rauch heraus geblasen wurde.
Für kurze Zeit konnte ich das Gesicht des zweiten Mädchens beobachten. Ihr Blick war mehr als interessant. Sie sah wirklich glücklich aus, als würde sie sich in dieser schweren Zeit des Lebens und dem Stress, den sie vielleicht in der Schule hat, vielleicht doch etwas abheben und einfach den Moment genießen.
Die drei Freunde sprachen nicht viel. Ich bewegte mich kaum, um keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen und sie weiterhin still zu beobachten.

Von Irgendwoher kam auf einmal Musik, zu der ich mich unbewusst etwas bewegte. Die Jugendlichen auf der anderen Seite bewegte sich auch. Aber anders. Sie bewegten sich wie junge Menschen, Menschen die nicht an die Zukunft denken.
Menschen, die nämlich an die Zukunft denken, bewegen sich viel vorsichtiger als die, die es nicht tun. Vorsichtiger deswegen, weil sie jeden Schritt bedenken, weil sie nicht verletzt werden wollen, weil sie vielleicht Angst haben.
Junge Menschen haben keine Angst. Sie wollen sich jedem Problem stellen und wenn es brenzlig wird, rennen sie davon. Sie rennen um Ecken, in Gassen, über Zäune, auf Brücken nur um der Gefahr zu entkommen, die sie zunächst eigentlich mit stolzer Brust entgegen gegangen sind. Sie können das, weil sie jung sind.
Leute, die über vorsichtig geworden sind mit dem Alter, können das nicht mehr, weil sie der Gefahr entgegenstehen müssen. Ihnen bleibt nicht die Wahl, wegzulaufen.

Das dicke Mädchen zog den letzten Zug ihrer Zigarette. Sie ließ sich dabei viel Zeit und genoss jeden Partikel an Rauch, den sie in ihre großen Lungen pumpte. Dann atmete sie noch langsamer aus und schnippte den Stummel auf die Straße.
Ihre Hände verschwanden in ihrer Jackentasche – es war auch wirklich kalt um diese Jahreszeit – und dann bemerkte ich, wie sich ihre Zunge von innen an ihr Lippenpiercing drückte und es hin und her bewegte.
Sie sagte nichts und ihre Freunde auch nicht.
Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass die drei eine Konversation führten. Ich verstand sie nicht, das war nicht meine Welt. Trotzdem versuchte ich, dem Nichtreden zu lauschen. Ich spürte die Worte, hörte und verstand sie aber nicht.

Ich wäre noch lange so sitzen geblieben, wären die Drei auch noch länger geblieben. Das taten sie aber nicht. Sie schlenderten weiter. Wohin sie gingen, wusste ich nicht. Ob ich sie jemals wieder sehen würde, wusste ich auch nicht.
Vielleicht war es mir egal.
Ich flog davon und am dunkel werdenden Himmel sah ich noch den Vogel, der durch die Luft glitt und dabei immer kleiner wurde, bis ich verschwand.