Zwei Gefühle, eine Tat

„... und hier bleibst du!“, hallte es durch einen langen Flur.

„Aber Mama!“, erwiderte ein Mädchen, doch im nächsten Augenblick wurde ihr Rufen durch ein lautes Knallen unterbrochen. Dann verriegelte sich ihr Zimmerschloss.

„Sie kann mich doch nicht schon wieder einsperren“, schmollte das grün-haarige Mädchen, „... dann sind wir mal wieder allein.“

Das Mädchen schlenderte zu ihrem Bett und setzte sich zwischen einen Berg von komisch aussehenden Stofftieren.

Nicht nur ihre Stofftiere waren merkwürdig, sondern auch das ganze Zimmer.

Ihr Bett stand in einem geöffnetem Schrank, ein Stuhl hatte Puppenbeine und lange blonde Haare, die über die Lehne hingen und der Kronleuchter, der das Zimmer erhellte, war aus Stoff – seine Glühbirnen sahen aus wie Katzenaugen. An der Wand hing eine Uhr in der Form eines Clowns, dessen Schnurrbart die Zeit anzeigten und im Goldfischglas schwamm ein lebendiger Puppenkopf.

Es war wirklich ein merkwürdiges Zimmer und ein merkwürdiges Mädchen.

 

In der folgenden Nacht konnte das Mädchen schlecht schlafen. Es stand auf und ging zur Tür. Überraschenderweise war diese nicht mehr abgeschlossen.

„Ich hab Durst ...“, murmelte sie vor sich hin und ging zur Küche.

Das Mädchen bemerkte, dass in der Küche jemand war und lauschte an der Tür.

„Wir müssen sie wegschicken!“, seufzte ihr Vater.

„Findest du das nicht etwas übertrieben?“, fragte ihre Mutter.

„Ich hab heute schon jemand angerufen und hab mich informiert. Morgen Früh holen sie zwei Lehrer einer Sonderschule ab.“

„Eine Sonderschule?“

„Ja, sie kümmern sich sehr sorgfältig um Tsuru meinten sie. Sie fördern Kinder wie sie, mit besonderen Fähigkeiten.“

„Aber...“

„Glaub mir, das ist die richtige Entscheidung!“

Ihre Mutter seufzte. Dann hörte man, wie sie sich auf einen Stuhl setzte.

„Was wird uns das kosten?“, fragte sie.

„Nichts. Sie meinten, sie kümmern sich um die Kinder zum Wohle der Gesellschaft. Außerdem würden sie durch Spendenaktionen unterstützt...“

„Ich weiß wirklich nicht, ob das die richtige Entscheidung ist!“, wandte die Mutter ein.

„Jetzt hör doch endlich damit auf! Sieh dir doch an, was Tsuru anstellt! Wie sie unser Leben auf den Kopf stellt und wie wir in der ganzen Stadt geächtet werden! Nicht einmal die Nachbarn reden noch mit uns. Hast du es nicht langsam satt?“

Tsurus Mutter konnte nichts mehr sagen.

 

Tsuru schluckte. Ein schwerer Kloß kroch ihr die Kehle hinab in ihre Brust und fühlte sich eigenartig schwer an. Hatte sie richtig gehört? Hatte sie gerade gehört, dass ihre Eltern sie hassen? Sie hassen, weil sie anders war? Tsuru konnte auf einmal nicht mehr klar denken. Dann ging sie in ihr Zimmer zurück und zog sich an.

„Ich will nicht auf so eine doofe Schule!“, schmollte sie, während ein paar Tränen ihre Wange hinunter liefen.

Sie schnappte sich die Kekse, die sie unter ihrem Bett versteckt hatte und ihr Lieblingshäschen, das sie liebevoll Kûosa nannte. Dann stieg sie aus ihrem Fenster.

„Ich werde von zu Hause weglaufen!“, nahm sie sich vor und wischte sich mit ihrem Ärmel die letzten Tränen vom Gesicht.

Sie wollte einfach weglaufen. Weg von Zuhause. Sie wollte nicht auf so eine doofe Schule. Sie wollte nicht, dass ihre Eltern sie hassen. Sie wollte keine Probleme machen.

Tapfer lief sie durch die Dunkelheit der Nacht und kam schon bald zum nahe liegenden Sumpf. Es war feucht und stank. In der Dunkelheit konnte sie schlecht sehen, schaffte aber, einen Pfad zu finden, der nicht vom Schlamm verdreckt war. Ihre Schritte wurden immer leichter. Sie irrte erst ein wenig umher und fand schon bald einen Pfad aus Moos, der sie zu einem trockenen Ort führte. Die Müdigkeit machte sich in Tsuru breit und das Mädchen setzte sich auf den Boden um eine kleine Pause zu machen.

 

Sie gähnte und lehnte sich etwas zurück. Da war ein Baumstamm, an dem sie sich gemütlich und kuschelig anlehnen konnte.

Doch der Baumstamm bewegte sich, als Tsuru diesen berührte.

„Oh, was bist du denn für ein lebendiger Baumstamm?“, wunderte sie sich und stand auf.

Mit ihren Händen tastete sie den Stamm ab und merkte, dass es sich um Fell handelte.

Sie drückte auf dem Ding herum und kuschelte sich dann an den flauschigen Berg aus Haaren.

„Du bist so weich!“, schwärmte sie und drückte ihr Gesicht noch fester an das Fell.

Das Ding schnappte nach Luft. Erst dachte Tsuru, dass es lachen würde, weil sie es kitzle, doch dann erkannte sie, dass es hustete.

„Was ist denn mit mir los? Bist du etwa krank?“

Das Ding drehte sich auf die andere Seite.

„Du bist ja ein Bär!“

Der Bär schnaufte und hustete ab und zu.

Tsuru tat so, als würde sie bei ihm Fieber messen und kündete dann stolz ihr Ergebnis fest, als ob sie eine Doktorin wäre: „Fieber hast du keins... Hast du Hunger? Willst du was essen?“

In dem Moment glitzerten die Augen des Bären und Tsuru kramte aus ihrer Tasche einige Kekse.

„Hier kannst du etwas haben.“

Sie schob dem Bären einen Keks nach dem anderen in den Mund. Er kaute genüsslich darauf herum und weinte vor Glück.

„Du bist ja ein lieber Bär!“, lachte sie und der Bär lachte mit. Tsuru setzte sich neben den Bären und streichelte seinen Kopf. Irgendwann schlief sie dabei ein.

 

Am nächsten Morgen wachte Tsuru auf. Sie tastete neben sich um den Bären zu spüren. Doch er war nicht mehr da. Allmählich machte sie die Augen auf und nachdem sie einmal herzhaft gähnte, erkannte sie zwei Schatten. Es waren zwei Männer in schwarzen Mänteln.

„Bist du Tsuru Gappei?“, fragte sie einer der Männer.

„Ja... was...?“, antwortete sie.

„Das ist sie also“, erkannte der Andere.

Beide der Männer trugen lange schwarze Mäntel und Kapuzen, wodurch ihre Gesichter nicht zu erkennen waren.

„Wir sind hier um dich abzuholen.“

„Lasst mich! Ich gehe nicht mit euch! Und ich gehe nicht nach Hause!“, brüllte Tsuru und stand auf.

Doch der Mann mit der tieferen Stimme packte sie am Arm und ließ sie nicht mehr los.

„Lass los!“, schrie sie.

„Die Handschellen“, sagte der eine und der andere holte sie aus seiner Tasche heraus. Er versuchte sie Tsuru anzulegen, doch diese biss ihm in die Hand.

„Du kleines Balg! Wirst du still sein und mitkommen! Autsch!“, beschwerte sich der Mann in schwarz.

„Ich habe gesagt, ich werde nicht mitkommen!“, schrie sie noch lauter.

„Jetzt reicht es mir!“, meinte der Kerl, der sie festhielt, schnappte sich die Handschellen und legte sie der Kleinen an.

„NEIN!“, schrie Tsuru und ihr Echo hallte durch den Wald.

Plötzlich leuchteten ihre Hände, sie aktivierte ihre Kräfte. In jenem Augenblick hörte man ein lautes Schnaufen und dann fühlte man ein starkes Beben.

Ehe sich die Männer versehen konnten, wurde sie schon von einem riesigen Bären nieder gestoßen und die Attacke, die sich eigentlich gegen ihre Angreifer richtete, traf den unschuldigen Bären.

Die Männer die im Dreck lagen, wurden Zeuge eines besonderen Schauspiels.

Das Licht umhüllte den Bären, der nun über dem Boden zu schweben schien. Neben ihm schwebte Kûosa, Tsurus rosa farbenes Lieblingshäschen. Die Lichtfluten brachten nun auch die Körper zum Leuchten.

Es war so grell, dass die Männer sich die Hände vor die Augen halten mussten, um nicht geblendet zu werden.

 

Es war still. Der Nebel kroch langsam die Lichtung hinauf und tauchte die Szene in eine düstere Atmosphäre.

Die Männer in schwarz standen auf und klopften sich den Dreck von der Kleidung.

„Dieses Balg!“, beschwerte sich der eine.

„Endlich habe ich ihre Fähigkeit miterlebt, bemerkenswert“, sagte der andere.

„Sie wird uns behilflich sei.... n...“, verstummte der Mann, als er erkannte, was sich vor ihm auftat.

Ein gut drei Meter großes Monster richtete sich aus dem Nebel auf. Sein Schnaufen ließ die Körper der Männer erzittern.

Es hob seine Pranke und schlug die Männer zu Boden. Sie standen nicht mehr auf.

Danach trug das Monster das Mädchen weg vom Schauplatz. An einer anderen Lichtung setzte er sie wieder ab und deutete mit seinen Krallen auf einen Korb voller Essen.

Tsuru schaute sich das Monster genauer an und erkannte, dass sie mit ihrer Fähigkeit Kûosa, ihr Lieblingshäschen und den Bären, den sie mit Keksen fütterte, vereinigt hatte.

Das Monster lächelte sie an und deutete wieder auf den Korb mit Essen.

„Hast du... Hast du mir das Essen geholt?“, fragte sie ihn.

Sie bekam ein Nicken zur Antwort.

„Willst du mein Freund sein?“

Das Monster legte das breiteste Grinsen auf, das es drauf hatte.

„Dann heißt du jetzt Kûosa!“, lachte sie und Kûosa nahm sie in seine Arme und knuddelte sie.

Das Mädchen und das Monster aßen zusammen. Nach einiger Zeit gingen sie weiter. Es war zu unsicher und sie wollten nicht noch einmal von den Männern in schwarz gefunden werden.

Jedoch trafen sie bald auf eine Gruppe junger Menschen, der sie sich dann anschlossen.