Verletzte Schwingen, auf zur Rettung

Es war ein kühler Frühlingsmorgen, als ein Junge mit hellbraunem Haar sich aus seinem Bett quälte.

„Und schon wieder ein einzigartiger Morgen“, murmelte der Junge, stand auf und ging ins Bad. Gähnend betrachtete er sein Spiegelbild.

„Was mach ich heute nur?“, fragte er sich und putzte sich die Zähne.

Als er damit fertig war, ging er zurück in sein Zimmer und hockte sich auf sein Bett.

Sein Zimmer war strahlend weiß. Es sah aus, als wäre es frisch gestrichen worden. Vielleicht lag dieser Eindruck auch nur daran, dass durch das große Fenster eine Menge Licht in den Raum hineinströmen konnte.

In seinem Zimmer stand ein riesiger Schrank. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich einige Magazine und Hefte. Gegenüber davon stand ein Regal mit einigen Büchern. Sein Bett befand sich direkt neben dem großen Fenster.

Ein riesiges Plüschtier lag neben dem Bett auf dem Boden.

„Du sollst doch nicht immer runterfallen“, sagte der Junge und lag das Plüschtier wieder auf seinen richtigen Platz.

Da bemerkte er, dass die Schublade unter seinem Bett offen stand. Einige Heftchen ragten aus dem Spalt. Dann hörte er stimmen, schnell stopfte er die Hefte in die Schublade und schob sie noch rechtzeitig zu, bevor die Tür geöffnet wurde.

„Guten Morgen, Sohn“, meinte ein Mann, der wohl Mitte vierzig war.

„Morgen Paps“, antwortete ihm sein Sohn.

„Kommst du zum Frühstück?“, bat sein Vater und ging wieder.

„Klar, ich zieh mich noch schnell an!“, rief er ihm hinterher, als er zur Tür stürmte um sie wieder zu schließen.

„Zum Glück hat er mich nicht erwischt“, sagte der Junge und seufzte. Er ließ sich nieder und streckte sich noch einmal.

Es war nicht einfach, der Sohn des Bürgermeisters zu sein. Auch wenn sein Vater nicht viel sagte, geschweige denn viel von ihm verlangte, fühlte sich der Junge unter Druck gesetzt. Es war, als hätte sein Vater eine einschüchternde Aura.

Aber daran wollte er jetzt nicht denken. So stand er wieder auf, um sich seine Kleidung aus dem Schrank zu holen.

Was wollte er anziehen? Er hatte schon eine Idee!

Tief hinter seinen normalen, sauberen Klamotten kramte er etwas ganz besonderes heraus. Bei dem, was er heute tragen wollte, handelte es sich um ein gelbes, dreckiges und zerrissenes Unterhemd und eine abgenutzte alte Lederjacke. Dazu noch graue Shorts, das war das perfekte Outfit!

„So kann ich heute wieder Nacho besuchen gehen“, grinste der Junge und ging in die Küche.

Dann setzte er sich an den Küchentisch zu seinen vier Schwestern. Sie alle waren älter als er gewesen.

Von klein auf war er es schon gewohnt gewesen, dass seine Schwestern mit ihm spielten und ihn ärgerten, wie sie nur konnten.

„Na, was machst du heute?“, wollte die Jüngste von ihnen wissen und wuschelte ihm durchs Haar.

„Lass das!“, wehrte er sich und stieß ihre Hand weg, „Ich geh spielen...“

„Doch nicht schon wieder mit diesem Jungen“, meinte die älteste Schwester.

„Was habt ihr nur gegen Nacho?“, wunderte er sich und stopfte sich Toast in den Mund.

„Du weißt doch, dass Vater was dagegen hat!“, meinte die Schwester, die gerade durch die Zeitung blätterte.

„Dass ich gegen was etwas dagegen habe?“, meinte plötzlich der Vater, der mit der Aktentasche in den Raum kam.

Er blickte seinen Sohn an und wusste schon was los war.

„Oh oh...“, meinte Denji nur und sprang auf.

„Du gehst doch nicht schon wieder zu diesem Bettlersjungen!?“, brüllte sein Vater durch den Raum, doch der Junge war schon verschwunden, „Denji! Komm zurück!“

„Ach Schatz... Lass den Jungen doch spielen, er ist erst dreizehn geworden. Lass ihn doch sein Leben leben“, wollte ihn seine Frau besänftigen.

 

Denji schlenderte durch die Straßen. Er verstand einfach nicht, was für ein Problem sein

Vater mit diesen Leuten hatte. Sie waren auch doch auch Menschen!

Aber seinem Vater ging es anscheinend sowieso nur ums Geld. Nur wer Geld hatte, sollte ihn wählen und nur wer Geld hatte, konnte dann auch für die Stadt zahlen.

Es war immer dasselbe mit seinem Vater.

Vielleicht ging Denji auch deswegen, rein aus Trotz, immer wieder in die Armenviertel der Stadt um seinen besten Freund Nacho zu besuchen. Genau wie er es heute auch tat.

Er genoss es, durch die Straßen zu schlendern. An der Ecke mit der Bäckerei in eine kleine Gasse einzubiegen und dann durch ein verworrenes Labyrinth von kleinen, dunklen Gassen dann zu einem Hinterhof zu gelangen.

Dort lag er schon im Schatten und hielt wohl ein Nickerchen, sein bester Freund Nacho.

„Hey...“, begrüßte er seinen Freund, kniete sich vor ihn hin und stupste ihn mit dem Zeigefinger in den Magen, „Hey... wach auf!“

Nacho zuckte auf, öffnete seine Augen und erblickte Denji, der grinsend neben ihm saß.

„Wie... wie geht es dir?“, fragte Nacho und gähnte noch einmal herzhaft.

„Ach, ganz okay, wollen wir heute was unternehmen?“, grinste Denji wieder.

Er wusste, dass sein Freund diesem Grinsen nicht widerstehen konnte.

„Klar, was willst du machen?“, meinte Nacho und stand auf. Er öffnete eine Tür, deren grüner Lack schon abblätterte und sagte seiner Mutter, dass er mit Denji etwas unterwegs sei.

Dann liefen die Freunde gemeinsam durch die Gegend.

„Ich hab davon gehört, dass die Baustelle in der Nähe vom Geisterhaus geschlossen wurde. Wegen komischen Ereignissen haben die Bauarbeiter das Bauen aufgehört! Ich habe das Gefühl, dass das mit dem Geist zu tun hat, das muss ich einfach untersuchen!“

„Meinst du? Na gut“, meinte Nacho und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf.

„Ist bei dir alles in Ordnung?“, hakte Denji nach.

Er wusste, dass Nachos Familie Probleme mit dem Geld hatte. Es gab Tage, da hatten sie nicht einmal was zu Essen gehabt. Deswegen brachte Denji ab und zu etwas zu Essen von Zuhause mit.

„Es geht schon. Dad hat letztens für ein paar Tage in einem Restaurant ausgeholfen, das Geld was er verdient hat, reicht noch etwas“, erklärte Nacho, als wäre dies etwas ganz normales gewesen.

 

Die Jungs ließen sich Zeit und gingen noch einmal gemeinsam durch die Stadt. Sie mochten es, die Leute zu beobachten und sich Zeit zu lassen. Dadurch konnten beide einmal an etwas anderes denken, als immer an die Probleme von Zuhause.

Das mochte Denji an Nacho auch so sehr. Durch ihn konnte er alles andere einfach vergessen. Nur merkte er nach einiger Zeit, dass er nicht nur alles andere vergessen konnte, sondern auch, dass er nur noch an ihn denken musste.

Anfangs konnte Denji dieses Gefühl, das er in sich spürte, nicht wirklich zuordnen. Aber dann merkte er langsam, dass er Nacho nicht nur als Freund betrachtete.

Einerseits faszinierte ihn Nachos Freiheit. Die Freiheit die Denji so nie hatte, da er von seiner Familie so unter Druck gesetzt wurde.

Andererseits war es auch seine Willensstärke, die Denji wie eine riesige Welle einnahm. Obwohl Nacho so viele Probleme hatte, gab er nie auf zu kämpfen, egal was kommen würde.

Zuletzt merkte Denji, dass er seine dunklen Haare mochte und seine von der Sonne gebräunten Haut.

„... Denji... Denji?“, wunderte sich Nacho und winkte mit seiner Hand vor seinem Gesicht herum, „Träumst du schon wieder?“

Denji atmete geschockt auf.

„Oh... ja...“, stotterte er während er tief in die dunklen Augen seines Freundes blickte.

„Wir sind da“, bemerkte Nacho und betrachtete die Baustelle, „Die steht ja echt leer.“

„Meinte ich doch! Wollen wir sie untersuchen?“

„Klar“, sagte Nacho und folgte seinem Freund.

 

Sie liefen ein wenig umher, nahmen die Baugeräte unter die Lupe und untersuchten erst einmal die Lage. Anscheinend hatte ein Bagger den Zaun zum nebenstehenden Grundstück zerstört, auf dem das von den Kindern gefürchtete Geisterhaus stand.

Die Kinder munkelten, dass dort ein Mann lebte, obwohl das Haus schon seit Jahren leer stand. Einige Kinder behaupteten sogar, dass ab und an ein Postbote vorbeikommen würde um Briefe abzugeben. Wegen diesem Grund, war es auch eine beliebte Mutprobe für die Kinder gewesen, dort hineinzugehen und alle Räume abzuklappern.

Die Mädchen trauten sich nie, das wusste Denji. Selbst die stärksten Jungs trauten sich manchmal nicht, dabei verstand er nicht, was so gruselig dabei war. Er selbst war schon einige Male dort drin gewesen und konnte nichts Gruseliges ausfindig machen.

Aber irgendwo musste doch etwas Wahres an der Geistergeschichte sein, oder? Daran glaubte er ganz fest.

„Lass uns nach oben gehen!“, forderte Denji und zerrte Nacho mit zum Eingang. Nun, Eingang konnte man das nun wirklich nicht nennen. Das Haus hatte kaum eine Fassade.

So gingen die beiden Jungs die Treppen nach oben. Bis zum dritten Stock gab es schon einen Boden. Ab dem vierten Stock lagen nur alte Holzbretter auf den Stahlbalken.

Doch Denji wollte noch weiter hinauf, in den fünften Stock. Dort sollten einige Bauarbeiter den Geist gesehen haben.

„Ist es hier nicht zu gefährlich?“, meinte Nacho, dem das Ganze nicht ganz geheuer war.

„Aber wenn hier doch der Geist sein soll!“, wandte Denji ein und lief etwas herum.

„Du hast in dem Geisterhaus doch auch nie diesen Geist gesehen!“, beschwerte sich Nacho und wollte schon wieder zurückgehen.

Doch dann passierte es. Nacho trat auf ein morsches Brett und es krachte ein. Die nebenstehenden Bretter verloren ihren Halt und so viel Nacho hinab. Er versuchte sich noch irgendwo festzuhalten, aber er konnte nicht, da sein Arm so schnell gegen den Stahlträger geschleudert wurde, sodass er auf einmal taub war.

„Denji!“, rief er im selben Augenblick.

Ein Glück, dass Denji seit längerem schon Kampfunterricht genommen hatte, weswegen er so schnelle Reflexe hatte, dass er zum Loch sprintete und Nacho gerade noch so an einem Arm festhalten konnte.

„Ich hab doch gesagt es ist gefährlich!“, brüllte Nacho der sich mit voller Kraft an Denjis Ärmel festhielt.

„Arg... du bist so schwer!“, schrie Denji, aus dessen Hände Nachos Arm langsam zu gleiten drohte, „Gib mir deinen zweiten Arm, dann zieh ich dich hoch!“

Denji klemmte sich mit seinen Beinen stark an den Stahlbalken. Er zitterte vor Anstrenung.

„Ich... ich kann nicht“, meinte Nacho leise.

„Das... das sehe ich!“, unterbrach ihn Denji mit nervöser Stimme, „Egal was ist, schau nur nicht nach unten!“

„Ich spüre meinen Arm nicht mehr...“, murmelte Nacho und war kurz davor nach unten zu sehen.

„Das ist kein Wunder, dein Arm ist voller Blut“, erklärte Denji, der Nachos Arm nun viel fester packte. Mit all seiner Kraft versuchte er seinen Freund nach oben zu ziehen.

Denji brüllte und strengte sich noch viel mehr an.

„Denji... ich...“, murmelte Nacho vor sich hin, der auf einmal viel blasser im Gesicht wurde.

Denji zog und zog und schaffte es, dass Nacho mit dem Oberkörper nun wieder auf den Brettern lag. Dann packte er ihn an seiner Hose und zog ihn komplett nach oben.

„Wir sollten ins Krankenhaus“, meinte Denji voller Panik. Er ging mit Nacho einige Schritte zurück, wo der Boden stabiler war.

Nacho sackte in die Knie. Während er vor Schwindelgefühlen nach hinten fiel, stieß er einen Stapel Kisten um, auf denen schwere Rohre lagen. Einer davon fiel Nacho auf den verletzten Arm.

Dieser brüllte so laut er nur konnte.

„Oh verdammt!“, schrie Denji und hob mit aller Kraft das schwere Rohr von seinem Arm, „Nacho, Nacho... ist alles in Ordnung!?“

Kurz bevor er das Rohr beiseite brachte, glitt es ihm aus seinen schwitzenden Händen und es landete wieder auf der Verletzung. Nacho antwortete nicht. Er hatte sein Bewusstsein verloren. Mit aller Kraft brachte Denji das Rohr endlich beiseite.

„Verdammt“, brüllte Denji und zog Nacho auf seinen Rücken. Er schlenderte die Treppen hinab und erreichte dann bald die Straße. Mit dem bewusstlosen Nacho auf seinem Rücken, machte er sich auf den Weg zu einem Arzt.

Nach nicht allzu langer Zeit trafen sie dann auf einen Mann, der die Jungs bemerkte.

Dann schien es für Denji alles wie in sekundenschnelle abzulaufen. Der Mann erkundigte sich nach dem verletzten Nacho, trug ihn auf seinen Armen und stürmte mit Denji zum nächsten Arzt. Beim Arzt angekommen, wurde der Verletzte gleich versorgt.

Denji musste die ganze Zeit im Wartezimmer warten. Es war schrecklich. Tränen strömten unaufhörlich über sein Gesicht.

 

Nach einiger Zeit durfte Denji dann in das Krankenzimmer. Dort saß Nacho in einem Bett, mit einem dicken Verband um seine Brust gewickelt.

„Nacho...“, meinte Denji vorsichtig, „Wie geht es dir?“

Nacho wandte seinen Kopf beiseite und betrachtete die Sonne, die schon auf ihrem Sinkflug war. Er seufzte.

„Geht schon...“, sagte er schwach.

„Es tut mir Leid, wir hätten nicht dort hinauf gehen sollen“, entschuldigte sich Denji, der sich die Schuld für den Unfall gab.

„Wenn es dich nicht stört, würde ich gerne etwas schlafen“, bat Nacho, lag sich hin und schloss seine Augen.

„Kein Problem“, meinte Denji. Doch es war ein Problem. Es tat ihm so schrecklich Leid. Denji wollte doch nur, dass alles wieder in Ordnung zwischen den beiden sei. Doch irgendwie merkte er, dass Nacho noch etwas länger auf ihn sauer sein würde.

Er wartete, bis sein Freund endlich eingeschlafen war. Vorsichtig ging er zu seinem Bett und betrachtete den schlafenden Nacho.

„Es tut mir wirklich Leid“, flüsterte Denji und legte seinen Kopf auf seine Brust. Still flossen weitere Tränen.

Doch er merkte, dass etwas komisch war. Vorsichtig tastete er Nachos Oberkörper ab und merkte, dass etwas anders war. Als er sich wieder aufrichtete, entdeckte er, dass Nacho ein Arm fehlte.

Geschockt schluckte er einige Tränen. In diesem Augenblick kam der Arzt herein.

„Was ist mit ihm passiert?“, hakte Denji sofort nach.

„Sein Arm hatte zahlreiche, irreparable Verletzungen, wir mussten ihn abnehmen“, erklärte der Arzt, „Könntest du mir einen Gefallen tun?“

Der Arzt war nett. Er wuschelte den weinenden Denji tröstend durchs Haar.

„Du musst jetzt stark sein, ja? Tu es für ihn“, meinte der Arzt und legte ein Brett, an das einige Blätter geklemmt waren beiseite, „Könntest du seinen Eltern Bescheid geben? Das wäre sehr wichtig.“

Denji merkte, dass ihm nichts anderes übrig blieb. Außerdem war es das Einzige, was er momentan tun konnte. Er nickte. Der Arzt verstand und ging aus dem Raum.

So blieb Denji noch ein kurzen Augenblick. Er beugte sich wieder zu Nacho und sprach zu ihm: „Ich gehe schnell zu deinen Eltern, ja? Du kommst bestimmt allein zurecht...“

Er schniefte und wischte sich einige Tränen aus dem Gesicht. Dann setzte er wieder sein Lächeln auf.

„Ich liebe dich, Nacho“, flüsterte er und küsste ihn sanft auf seine Lippen, „Das wollte ich dir schon immer einmal sagen.“

Still machte er sich dann auf den Weg um Nachos Eltern die Nachricht zu überbringen.

Irgendwie spürte Denji, dass er nun nicht mehr gebraucht werden würde. Deswegen schlenderte er im Sonnenuntergang nach Hause.