Übersicht Kapitel 6 - 10

Kapitel 6 – In Brand gesetzte Nacht

 

Alayna streckte sich und gähnte, bevor sie sich an den massiven Holztisch in der Küche der Hütte setzte. Erstmal rieb sie sich die Augen, gähnte noch einmal herzhaft und rutschte dann mit ihrem Stuhl näher an den Tisch heran.

Der Tisch war wie üblich gedeckt. Jedoch hatte ihre Familie anscheinend schon gefrühstückt. Natürlich war der Platz ihres Bruders voller Krümel und Milchflecken. Ihre Mutter hatte nur einen Kaffee getrunken, was man von der Sauberkeit ihres Besteckes her sehen konnte. So kannte sie ihre Familie.

Alayna nahm sich also ein Brötchen aus dem schon fast geleerten Korb in der Mitte des Tisches. Dann schnitt sie ihn mit dem Messer entzwei und setzte die zwei halben Brothälften wieder zurück auf den Teller.

Verschlafen tastete sie den Bereich neben sich ab und wollte das Glas mit der Marmelade finden, fand es aber nicht.

 

„Was suchst du denn, Mäuschen?“, hörte sie plötzlich ihren Vater sagen, der ihr gegenüber saß.

„Nur die Marmelade, Paps...“, antwortete sie und fühlte sich dabei komisch.

Stimmt, es fiel ihr wieder ein. Sie waren in der Hütte auf dem Hügel, weit weg von Zuhause und erholten sich vom Alltagsstress.

„Hast wohl mal wieder lange geschlafen. Dein Bruder ist übrigens Draußen. Vielleicht könntest du später nach ihm schauen?“, erzählte ihr Vater in einer so beruhigenden Stimme, dass Alayna hätte einschlafen können, so wie sie es früher immer getan hatte, als er ihr Geschichten vor dem Schlafengehen erzählt hatte.

Alayna war zufrieden. Es fühlte sich gut an.

Sie tastete weiter nach der Marmelade, sie konnte sie einfach nicht sehen und finden. Warum half ihr Paps nicht?

 

Auf einmal schlugen die Fenster zu und ein starker Wind kam auf, der die Fensterläden immer wieder abwechselnd gegen die Hüttenmauer und die Fenster schlagen ließ.

„Scheint heute zu stürmen und das so früh am Tag?“, murmelte ihr Vater, stand auf und ging hinaus.

Alayna sah ihrem Vater hinterher. Warum hatte sie nicht sein Gesicht gesehen?

Irgendwie bekam Alayna Bauchschmerzen. Aber nicht, weil sie Hunger hatte, sondern weil sie ein komisches Gefühl hatte. Sie hatte Angst.

„Paps, warte!“, rief sie ihm hinterher und stand vom Tisch auf, der nicht mehr so massiv wirkte wie vorher. Sie musste zunächst ihr Gleichgewicht finden, bevor sie loslaufen konnte. Sie schwankte durch die Küche, bis sie die Tür nach draußen erreichte.

 

Vor der Hütte angekommen ,sah sie sich erstmal um. Sie stand auf dem Hügel und konnte in der Ferne nur weite Wiesen erkennen. Der Wind wehte nicht und die Luft war trocken. Sie bekam schlecht Luft.

Unsicher über das, was gerade passierte, lief sie um die Hütte herum und suchte ihren Vater. Dabei stellte sie fest, dass nicht mal ihr Bruder oder geschweige ihre Mutter zu finden war. Nach einigen Runden war sie so müde, dass sie das Laufen aufgab. Sie setzte sich auf den Boden und wusste nicht, was sie tun sollte. War ihr Vater schon wieder in der Hütte? Sie stand wieder auf und kurz bevor sie ihre Hand auf den Türknauf legen wollte, schlug die Tür auf einmal auf und etwas hellblaues, transparentes kam ihr entgegen und fuhr durch sie hindurch. Dabei erschreckte sie sich so sehr, dass sie nach hinten auf den Boden fiel. So schnell sie konnte, richtete sie sich wieder auf und blickte in die Richtung, in die das transparente Etwas zu fliehen schien. Sie erkannte plötzlich ihren Vater, der diesem Etwas hinterherrannte.

„Paps!“, rief sie, doch ihr Vater hörte nicht. Alayna wollte losrennen um ihn zurückzuholen, doch ihre Beine waren so schwer, dass sie keinen Schritt mehr machen konnte.

„Paps, Paps!“, wiederholte Alayna ihre Rufe, doch sie wusste, dass er sie nicht hören würde...

 

„Paps!“, rief sie noch einmal auf, als sie aufwachte.

Sie richtete sich aus Schreck auf. Ihre Haare klebten in ihrem Gesicht. Sie schnaufte und versuchte ihre Atmung etwas zu normalisieren.

„Nur ein Traum...“, murmelte sie und sah sich um, als sie sich wieder beruhigt hatte.

Kioku schien fest zu schlafen wie ihr Bruder, der so oder so schon immer einen festen Schlaf gehabt hatte.

Sie holte noch einmal tief Luft und fuhr sich durch die Haare. Doch irgendetwas war komisch. Von draußen roch sie etwas Verbranntes. Also entschloss sie sich, aufzustehen und einmal nachzusehen. Sie torkelte zum Balkon und zog die Vorhänge beiseite und öffnete die Glastür.

Alayna konnte ihren Augen erst nicht trauen, als sie erkannte, wie das Haus von Gegenüber lichterloh in Flammen stand. Auf den Straßen liefen panisch einige Menschen in ihren Schlafanzügen umher und suchten Schutz. Einige dieser Leute waren schwarz gekleidete, gepanzerte Männer, die die Bewohner der Stadt durch die Straßen jagten.

 

„Was, was ist hier los!?“ Alayna war so geschockt, dass sie sich erst einmal nicht bewegen konnte.

Der Gestank des brennenden Hauses und der Häuser, die in der Ferne der Stadt ebenfalls brannten, lag schwer in der Nase. Die Hitze schlug Alayna unangenehm ins Gesicht. Das laute Flackern der Flammen wurde nur noch von dem Gröhlen der Männer in Schwarz und von dem Schreien und Flehen der Stadtbewohner übertönt. Es war ein schrecklicher Anblick.

 

Alayna wollte gerade wieder zurück ins Zimmer, um ihren Bruder und Kioku zu wecken, wurde jedoch aufgehalten. Vom Zimmer nebenan sprang ein bärtiger, muskulöser Mann auf ihren Balkon, hielt sie fest und stieß dabei die Glastür zu.

„Ah!“, schrie Alayna auf, „Lassen sie mich los!“

Sie versuchte sich mit allen Mitteln zu wehren, schlug zu und schrie so laut sie konnte. Doch es half nichts. Mit einem gezielten Schlag des Mannes in die Magengegend Alaynas, sackte sie in die Arme des Rüpels zusammen. Dieser warf sich Alayna über die Schulter und sprang zum nächsten Balkon, um dann auf das Dach des Hauses zu klettern. Dann sprang er von Dach zu Dach, bis man ihn nicht mehr sehen konnte.

 

Ein lautes Klopfen und Rufen an der Tür des Zimmers riss Kioku auf einmal aus dem Schlaf. Ungeduldig wie die Person vor der Tür war, brach sie die Tür auf und kam ins Zimmer herein.

Es war ein Mann, anscheinend der Hausmeister, der Kioku anblickte und ihr sagte, dass sie sofort das Gebäude verlassen sollte.

Kioku war geschockt und konnte mit der Situation zunächst nichts anfangen, bis sie dann die Wortbrocken, die ihr der Mann noch zuwarf, bevor er verschwand, zu einem sinnvollen Zusammenhang zusammensetzte.

„Die Stadt wird angegriffen!“, schoss es aus ihr heraus und sie blickte neben sich. Alayna war verschwunden. Gegenüber im Bett war aber noch Tak. Wo konnte Alayna nur sein?

Sie sprang auf und versuchte den Jungen aufzuwecken, was sich als schwerer herausstellte als sie vorerst gedacht hatte. Sie rüttelte an ihm, so fest sie konnte, bis er dann doch endlich aufwachte.

„Tak, pack sofort deine Sachen zusammen, die Stadt wird angegriffen und wir müssen deine Schwester finden!“, sprach Kioku.

Tak war damit total überfordert.

Kioku sprang zum Bad und bemerkte, dass Alayna dort nicht war. Sie warf schnell einen Blick in den Gang hinaus, auf dem die Menschen schon panisch ihre Räume verließen.

Schnell sprintete sie zurück, warf ihre Sachen alle in eine Tasche hinein und tat dasselbe auch mit Alaynas Sachen.

Tak versuchte sich in der Zwischenzeit anzuziehen, doch Kioku sah ihn verwundert an.

„Dafür ist jetzt keine Zeit, wir müssen sofort los!“, meinte sie und Tak schluckte erst schwer. Was war denn jetzt überhaupt los? Er raffte die Situation immer noch nicht ganz.

 

Genau in diesem Augenblick sprang jemand durch die Glastür des Balkones in den Raum. Die klirrenden Glasscherben flogen in jeder Richtung durch den Raum. Durch die Flammen des gegenüberliegenden Hauses schob sich die Hitze schlagartig in das Zimmer hinein.

Diesmal stand ein dicker Mann vor ihnen, dem der gepanzerte schwarze Mantel nicht ganz passte. Seine dicke, behaarte Wampe sah darunter hervor.

Geschockt hielt Tak in seiner Bewegung inne. Kioku, die schneller reagierte, als sie nachdachte, packte Tak und zerrte ihn hinter sich her. Sie versuchten das Zimmer so schnell es ging zu verlassen und von diesem Typen wegzukommen.

„Mist aber auch!“, rief sie und rannte so schnell sie konnte in den Gang.

„Warum werden wir angegriffen!?“, fragte Takeru, der sich keinen Reim darauf machen konnte, was gerade passierte.

„Ich weiß es nicht!“, antwortete Kioku und sah sicherheitshalber noch einmal hinter sich. Der fette Typ stand vor dem Raum und grinste. Dann brachte er sich in Position und rannte los.

 

Tak warf auch einen Blick nach hinten und entdeckte diesen Kerl, der mit einer wahnsinnigen Geschwindigkeit auf Kioku und ihn zu sprintete. Jedes Mal, wenn er mit seinen Stiefeln auf dem Boden aufkam, spürte man es beben.

„Verdammt, wieso ist der so schnell!?“, rief Tak, der aus Panik schon drei Schritte schneller machte.

„Ich hab keine Ahnung...“, murmelte Kioku und sah sich um. Irgendwo musste es doch eine gute Möglichkeit geben, ihn abzuhängen.

Der Gang war ziemlich lang und hatte kaum Abzweigungen. Weiter hinten entdeckte Kioku einen geöffneten Aufzugsschacht. Das war es!

„Hör zu, dort hinten ist ein Aufzugsschacht, ich hab eine Idee, wie wir diesen Kerl los werden, aber du musst mir vertrauen“, sprach sie so leise, dass nur Tak es verstehen konnte.

Nachdem sie ihm den Plan erzählt hatte, schluckte Tak erst einmal, aber tat so, als würde es ihm nichts ausmachen. Eigentlich hatte er Angst, wollte aber dennoch seinen Mut beweisen.

 

Der fette Kerl holte immer mehr ein. Auf der Höhe des leeren Aufzugsschachtes aber liefen Kioku und Tak etwas langsamer. Sie sahen noch einmal nach, ob die Entfernung zu dem Kerl stimmte und dann machten die Beiden einen Satz nach links, hinein in den leeren Schacht und hielten sich an den Seilen des Aufzuges fest. Der Schwung des Sprunges war so gut, dass sie sich an der, von der Tür gegenüberliegenden Wand mit den Füßen wieder abstoßen konnten. Mit vollem Karacho traten sie dem Fettwanzt, der nun vor dem Aufzug stand, ins Gesicht, sodass er zu Boden fiel.

 

„Super gemacht!“, freute sich Kioku, die noch einmal kräftig in den dicken Typen trat, damit er nicht wieder aufstand.

„Das... das hat echt Spaß gemacht!“, jubelte Tak. Er hatte vorher gar nicht gewusst, wie aufregend es war, gegen jemand anderes zu kämpfen.

Doch lange hielt die Freude nicht an. Aus der Richtung, aus der sie gekommen waren, sprangen auf einmal noch mehr von diesen Manteltypen in den Gang und liefen auf die Beiden zu.

„Du weißt was das heißt?“, seufzte Kioku.

Tak schüttelte den Kopf.

„Wir rennen erst vor denen davon und dann suchen wir deine Schwester, die noch irgendwo sein muss! Wenn sie nicht hier ist, dann ist sie woanders in der Stadt“, meinte Kioku und griff dabei nach Taks Hand.

Sofort sprinteten sie los, bis sie die Treppe erreichten und hinunterliefen.

Kapitel 7 – In der Mangel

 

Der Nachthimmel war schwärzer als sonst. Die dicken Rauchschwaden über der Stadt und schienen diese zu erdrücken. Das Licht der Flammen, die aus den brennenden Häusern züngelten, erhellten die Stadt.

Takeru und Kioku versuchten gerade Alayna zu finden, die entführt worden war.

 

„Wir finden sie nie“, keuchte Takeru, als er sich an eine Laterne lehnte. „Die ganze Stadt ist in Panik, woher sollen wir denn wissen, wo Alayna steckt!?“

Er sah Kioku entsetzt an. Dann hustete er. Der Rauch in der Lunge kratzte unangenehm.

Kioku fuhr sich einmal durch die Haare und sah sich um, bevor sie antwortete.

„Sicher finden wir sie. Es wird ja nicht so schwer sein, eine Stadt nach ihr abzusuchen. Da wir aber auch nicht wissen, wo wir anfangen sollten zu suchen, sollten wir das ganze anders aufrollen...“

„Du meinst, sozusagen alles ausstreichen, was nicht wahrscheinlich ist?“, grübelte Takeru.

Er beruhigte seinen Atem. Er durfte jetzt nicht zu sehr in Stress verfallen, sonst würde er seine Schwester nie finden. Das wusste er.

„Genau. Es bleiben am Ende eigentlich nur wenige Orte, die für so etwas in Frage kämen“, erklärte Kioku weiterhin. Sie wusste, dass sich Alayna auf jeden Fall in der Nähe aufhalten musste.

„Verlassene Orte“, gab Takeru von sich und setzte sich kurz auf den Boden und lehnte sich an die Wand eines Hauses.

Ein Mann mit einem großen Sack auf dem Rücken rannte an beiden vorbei. Auf Kiokus Höhe blieb er kurz stehen, sah die Freunde an, schüttelte den Kopf und rannte weiter.

Hinter dem Haus waren Schreie von Frauen zu hören. Tak fiel es nicht einfach, diese zu ignorieren. Er biss sich auf die Lippe, bis unter dem Dreck darauf wieder die rote Haut zum Vorschein kam.

„Ja. Alte Mühlen, verlassene Villen, ungenutzte Lagerhallen... Wir sollten anfangen die Stadt danach durchzukämmen.“

„Klar“, gab Takeru nur von sich und stand wieder auf. „Dann mal los!“

„Dann los!“, meinte Kioku mit einem schwachen Lächeln der Hoffnung. Dann liefen sie weiter.

 

An einem anderen Ende der Stadt, wurde gerade eine große Tür aufgestoßen.

„Hier kommt sie herein“, brummte ein Mann mit tiefer Stimme. Er hielt einem anderen die Türe auf, der ein Mädchen in den Raum trug. Dann setzte er es auf einen Stuhl und fesselte es.

Das Mädchen war wach und wehrte sich, so gut es konnte, jedoch schaffte es nicht, sich zu befreien.

Dann klopfte der Mann ihr auf den Kopf.

„Wir kümmern uns später um dich...“, meinte er und ging mit dem zweiten Mann aus dem Raum. Von außen hörte man, wie ein Riegel vor die Tür geschoben wurde.

Das Mädchen streckte seine Zunge heraus um das Tuch, das um seinen Mund gewickelt war, irgendwie beiseite zu schieben. Mit etwas Technik schaffte es das auch und atmete erst einmal tief ein.

„Endlich atmen!“, keuchte es, als sie die Luft wieder ausstieß. „Aber es stinkt hier... Verdammt! Warum muss so etwas auch gerade mir passieren? Ob sie Tak und Kioku auch geholt haben?“

Es war Alayna. Sie sah sich besorgt im Raum um. Es war ein kleiner, aber hoher Raum, in dem eine Menge an Kisten gestapelt waren. Weit oben war ein kleines offenes Fenster zu sehen, von dem aus man die Flammen in der Ferne der Stadt erahnen konnte.

Es war dunkel.

„HILFE!“, schrie Alayna so laut sie konnte und wiederholte das einige Male, in der Hoffnung, dass sie von draußen jemand hörte.

Aber es half nichts. Nach etlichen Versuchen gab sie auf. Ihr Hals war trocken und es war unangenehm zu sprechen. Dann wurde ihre Zunge trockener und sie verspürte Durst.

„Kann man hier mal etwas zu trinken bekommen!?“, brüllte sie durch den Raum, „So behandelt man keine Geiseln!“

Niemand reagierte auf ihr Rufen.

„So ein Scheißdreck...“

Alayna wurde leiser und flüsterte nun mehr.

„Ob es Tak gut geht? Ich hoffe, ihm ist nichts passiert...“

 

Takeru und Kioku suchten währenddessen einige verlassene Orte in der Stadt ab. Doch je weiter sie kamen, desto mehr panische Menschen kamen ihnen entgegen. Sie flehten nach Hilfe und einige baten Kioku darum, mit ihrem Sohn doch auch zu fliehen. Abgesehen davon, dass Takeru nicht ihr Sohn war, schafften die Beiden es doch alle Leute zu ignorieren und sich durch die Masse zu kämpfen.

Einmal trafen sie fast auf einen der Verbrecher in schwarz. Jedoch konnten sie rechtzeitig in eine Gasse ausweichen und waren so vor einer Konfrontation geschützt.

Die Suche brachte nichts.

Erschöpft ließ sich Tak an einem Zaun in einer Nebenstraße nieder und verschnaufte für einen kurzen Moment.

„Es hat doch keinen Sinn, Kioku! Wir finden Alayna nie so...“, gab er von sich und sah bedrückt zu Boden.

„Gib doch nicht so leicht auf!“, wurde Kioku lauter und gestikulierte übertrieben, „Mit so einer Einstellung finden wir sie erst recht nicht!“

„Aber, was bleibt uns denn übrig?“, verteidigte sich Tak.

„Uns bleibt eben nichts übrig, als weiter zu suchen... Mensch Tak, ich versteh doch, wie du dich fühlst aber es nützt nichts. Komm, raff dich wieder auf und dann geht’s weiter, wir haben immer noch nicht die Lagerhallen am anderen Ende der Stadt durchgesucht...“

Tak sah langsam zu Kioku hoch, die versuchte ihn mit einem Lächeln zu überzeugen.

Dann gab Takeru einen kurzen Seufzer von sich und stand auf, klopfte sich den Dreck von der Hose und so gingen sie wieder weiter.

 

„AHH!“, schrie Alayna, als ein dritter Mann in den Raum kam und ihr an den Haaren zog.

Der Typ hatte lauter Narben in seinem faltigen Gesicht. Der Bart war ungepflegt und so sahen auch seine ergrauenden Haare aus.

„Wo ist das Buch?“, fragte er zum wiederholten Male.

„Was für ein Buch!?“, hakte Alayna nach.

„Das Buch deines Vaters, wo ist es!?“, brüllte der Mann noch lauter.

„Ich weiß gar nicht, was Sie meinen!“, brüllte Alayna zurück und spuckte dem Typen dabei zwischen die Augen.

Daraufhin zog der Mann noch fester an ihren Haaren, worauf ein schmerzverzerrter Schrei durch den Raum hallte.

„Du bist doch die Tochter, von diesem Ginta!“

Alayna schluckte. Ja, sie war die Tochter von Ginta. Aber sie wusste, dass wenn sie das jetzt zugab, sie alle, eingeschlossen Takeru, richtig Probleme kriegen könnten. Also leugnete sie weiterhin.

„Ich weiß gar nicht, wer dieser Ginto ist, von dem Sie sprechen... Was ist das überhaupt für ein komischer Name? Ginto...“, log sie, in der Hoffnung, dass der Typ das nicht erkennen würde.

„Ginta, du Göre! Ginta!“, brüllte er und wurde dabei ganz rot.

„Von was reden Sie überhaupt?“, spielte Alayna und runzelte dabei übertrieben ihre Stirn.

Der Typ massierte seine Schläfen und fuhr dann über sein Gesicht. Seine Hände zogen die schlabbrige Haut seiner Backen nach unten und als er die Hand wieder absetzte, schlabberte die Haut wieder zu ihrer ursprünglichen Form zurück. Dabei bewegten sich die Narben eigenartig.

Neben dem starken Mundgeruch, den dieser Typ versprühte, als er sprach, empfand Alayna diesen Mistkerl als sehr eklig. Seine herausquellenden Augen, die Adern die auf seiner Stirn pochte, wenn er schrie, das alles war wirklich sehr abstoßend.

Dann fuhr dieser Kerl doch auch noch mit seiner rauen Hand über ihre Wange und hielt ihr Kinn fest. Sie schnappte nach seiner Hand und schaffte es, in seinen Daumen zu beißen. Sie drückte mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, zu.

Ein Schrei weckte die Neugierde eines Untergebenen, der die Tür öffnete um nachzusehen, ob alles in Ordnung sei.

„Du Göre!“, brüllte der Mann, während er seinen Daumen in der anderen Hand hielt, damit der Schmerz abklang. „Du da, du hältst nun hier drin Wache...“

Der Untergebene nickte und setzte sich neben die Tür des Raumes und starrte Alayna an, die ihm die Zunge herausstreckte.

Der alte Mann verschwand und schloss die Tür wieder hinter sich.

„Puh, endlich ist der Arsch weg. Und wer bist du?“, sprach Alayna, doch der Untergebene antwortete nicht.

„Dann halt nicht“, murmelte Alayna und starrte zum Fenster hinauf.

'Ob die Zwei schon unterwegs sind, um mich zu retten? Jetzt wäre es praktisch, wenn Ryoma kommen würde, um mir aus der Patsche zu helfen', dachte sie, 'auch wenn er nicht gerade vertrauenswürdig war, denke ich, dass er mich befreit hätte. Was er gerade wohl macht? Sich sicherlich um seinen Dreck scheren... Na toll, da wird man hier komplett allein gelassen...'

Alayna schwenkte ihren Blick wieder zurück zur Wache, die auf einmal sehr müde wirkte.

'Das ist die perfekte Chance, ich kann mich sicherlich irgendwie befreien, sobald dieser Typ da eingeschlafen ist...', dachte sie nach und gähnte dabei, um die Wache irgendwie damit anzustecken.

'Was die wohl von Paps wollen? Welches Buch meinen sie? Das Tagebuch, das Tak ständig mitschleppt? Ich wette, dass diese Leute mit Paps' Verschwinden zu tun haben, da bin ich mir sicher. Aber sie selbst suchen nach ihm? Oder nur das Buch? Oh man, ich würde zu gern wissen, was hier eigentlich abgeht...'

Die weiteren Überlegungen halfen Alayna aber auch nicht, auf eine sinnvolle Antwort zu kommen. Als sie bemerkte, dass der Wächter eingeschlafen war, versuchte sie sich aus ihren Fesseln zu befreien, was sich als schwerer herausstellte, als sie es sich vorgestellt hatte. Sie bewegte ihre Hände hin und her um irgendwie das Seil zu lockern. Doch es war wirklich nicht einfach.

„Ich hoffe, sie finden mich bald und holen mich hier heraus...“

 

Die Flammen der Stadt züngelten noch heißer und höher in den schwarzen Himmel. Takeru und Kioku, die immer noch auf der Suche nach Alayna waren, kamen ihrem Ziel, den Lagerhallen der Stadt, schon näher. Ob sie es schaffen könnten, Alayna zu befreien? Sie hoffte auf den Moment der Befreiung.

Kapitel 8 – Versteck, Rettung und Flucht

 

Es war dunkel in dem Raum, in dem sich Alayna immer noch gefesselt befand. Vor der Tür saß ein schnarchender Mann, der ein Nickerchen eher seiner Arbeit vorzog. Ein Glück für Alayna, die unter Kraftaufwand versuchte, ihre Hände aus den Fesseln zu befreien.

Das grobe Seil rieb ihr die Handgelenke wund. Es brannte und schmerzte fürchterlich.

„Ich muss hier unbedingt raus“, presste sie zwischen den Lippen hervor und versuchte so leise zu sein, wie sie nur konnte.

Der Knoten der Fessel war ziemlich dick. Jedoch schaffte sie es, mit ihren langen dünnen Fingern das Seil etwas auseinanderzuziehen. Jetzt musste sie den Knoten nur noch lösen. Wieso war dieser so fest gezogen?

Ein lauter Schnarcher erschreckte sie und Alayna hielt für einen Moment inne. Die Wache kratzte sich verschlafen an der Backe, plapperte etwas vor sich hin und nickte dann wieder ein.

Alayna wartete erst noch einen ruhigen Moment ab, atmete einmal tief ein und wieder aus und machte sich dann wieder an das Lösen ihrer Fesseln.

 

Zur selben Zeit befanden sich Kioku und Takeru nicht weit von Alayna entfernt.

„Wir sind jetzt schon ziemlich am Rande der Stadt“, meinte Kioku und sah sich um.

Hier standen lauter verlassene, heruntergekommene Häuser. In dieser Gegend hingen viele Namensschilder, Logos und Werbeplakate. Es schien so, als wären sie in einem ehemaligen Büro- und Fabrikviertel gelandet.

„Hier steht, dass es zwei Straßen weiter einen Weg gibt, der zum Lagerzentrum führt“, las Takeru vor, während er mit seiner Hand über einen verdreckten Glaskasten fuhr, der einen Lageplan des Viertels beinhaltete.

„Wir müssen vorsichtig sein. Es ist gut möglich, dass deine Schwester dort gefangen gehalten wird“, erklärte Kioku und fuhr sich mit ihrer Hand erschöpft durch die Haare.

Sie waren mittlerweile schon die ganze Nacht durch die Stadt gehetzt, auf der Suche nach Takerus Schwester.

„Sie müssen hier sein“, behauptete Takeru und sah sich nervös um, „Hier brennt es nicht, die Verwüstung findet gerade eher in der Stadt statt. Sie würden nicht ihr eigenes Versteck in Brand setzen! Außerdem habe ich das im Gefühl, dass sie in der Nähe ist.“

„Da wirst du hoffentlich Recht haben“, hoffte Kioku. „Gehen wir los!“

 

Alayna kämpfte mit ihren Fesseln. Sie schabte mit ihren Fingerkuppen zwischen den Seilen herum. Vielleicht bildete sie es sich nur ein, aber das Seil schien sich wirklich etwas zu lockern. Das gab ihr einen Hoffnungsschub und sie bemühte sich umso mehr, sich aus den Fesseln zu befreien.

Ihre Schultern schmerzten. Sie musste das ganze ja hinter ihrem Rücken machen, dort wo ihre Hände an den Stuhl gebunden waren. Es tat weh und Alayna kam ins Schwitzen, obwohl es in dem Raum recht kalt war, unangenehm kalt. Es roch modrig.

Sie fühlte, wie ein Schweißtropfen ihren linken Arm hinab rann, erst über den Ellbogen und dann ihren Unterarm entlang, bis der kalte Tropfen zwischen Handgelenk und Seil verschwand.

Langsam fing sie an, zu zittern. Mit ihren aufgeschürften Fingern rutschte sie immer wieder vom Seil ab. Die Finger krampften. Es wurde immer schlimmer.

Alayna musste einfach wieder eine kurze Pause einlegen und verschnaufen. Sie schloss die Augen und dachte nach.

„Papa, Mama…“, sprach sie zu sich selbst, „Wo bin ich hier denn eigentlich gelandet? Das kann doch gar nicht wahr sein.“

Ein kalter Schauer fuhr ihr durch den Körper. Dann fing sie an zu weinen.

„Warum seid ihr nicht da und helft mir?“, murmelte sie. „Nein ich muss stark bleiben. Ich muss zu Tak zurück!“

Sie biss sich auf die Unterlippe und machte sich wieder an die Arbeit. Dann schaffte sie es und löste ihre Fesseln.

Vorsichtig rieb sie sich die schmerzenden Handgelenke und machte sich dann daran, die Fußfesseln zu lösen.

 

„Leise“, meinte Kioku und kniete sich an die Mauer eines Gebäudes. Takeru kniete sich hinter ihr auf den Boden.

„Ich denke, ich habe Schritte gehört“, sagte sie und beugte sich langsam vor, an die Ecke des Gebäudes und spähte daran vorbei. „Da ist jemand.“

Kioku beobachtete zwei Männer. Der eine war dunkelhäutig und hatte ein langes Schwert auf dem Rücken. Der andere Mann war etwas kleiner. Seine pechschwarzen Haare fielen ihm ins Gesicht. Kioku konnte seine Augen nicht erkennen. Der zweite Mann war komplett in dunklen, zerrissenen Stoffen umhüllt.

„Ich will auch was sehen“, forderte Tak und versuchte sich an Kioku vorbeizudrücken, diese drückte ihn aber wieder zur Seite.

„Psst!“, mahnte sie.

Die Männer standen beide so weit entfernt, dass Kioku nur Wortbrocken verstand. Aber das, was sie verstanden hatte, war für sie offensichtlich.

Als die beiden Männer wieder gingen, drehte sich Kioku zu Takeru um.

„Also, anscheinend haben die Beiden etwas mit Alaynas Gefangenschaft zu tun. Wir sollten ihnen folgen“, erklärte Kioku. Takerus Augen blitzten auf.

Die beiden gingen also den Männern hinterher. Jedoch hatte Kioku sie schnell wieder aus den Augen verloren und so verirrten sich Takeru und sie.

 

Vorsichtig tapste Alayna durch den dunkeln Raum. Mit ihrem Fuß stieß sie an eine Eisenstange, die auf dem Boden lag und sich nun durch Lärm bemerkbar machte. Schreckhaft hielt Alayna in ihrer Bewegung inne, balancierte auf einem Fuß und drehte ihren Kopf langsam in Richtung Tür. Die Wache war nicht aufgeweckt worden.

„Ein Glück“, flüsterte Alayna und hob die Stange vom Boden auf.

Jetzt näherte sie sich der Wache am Eingang. Ihr Schatten fiel bedrohlich auf den Mann, der am Boden saß und schnarchte.

Dann holte sie aus und verpasste dem Mann mit der Stange einen gehörigen Schlag auf den Kopf. Noch bevor er bemerken konnte, was los war, fiel er ohnmächtig zu Boden.

„Und nun?“, grübelte Alayna. „Ah ich hab‘s!“

Sie zerrte den Mann zum Stuhl, zog ihm die Kleidung aus und fesselte ihn auf den Stuhl. Alayna keuchte, als sie versuchte den Typen auf den Stuhl zu hieven. Er war richtig schwer.

Als sie das geschafft hatte, und ihn mit den Fesseln anband, hörte sie plötzlich Schritte von draußen. Sie hörte den Mann mit Narben draußen sprechen. Panisch warf sie sich die Kleidung der Wache über und stellte sich unauffällig neben die Tür. Den Kopf hielt sie gesenkt.

 

„Scheint so, als wären wir hier schon richtig“, sagte Takeru, während er und Kioku zusammen zwischen zwei Lagerhallen entlang gingen.

„Wir müssen wirklich vorsichtig sein!“, wiederholte Kioku zum hundertsten Male.

„Das können wir nicht, wenn du hier so rumbrüllst“, beschwerte sich Tak.

„So laut bin ich gar nic…“, wollte Kioku sagen, als sie von einem riesigen Knall unterbrochen wurde. Etwas weiter vor ihr zersprang eine Mauer und eine riesige Staubwolke tat sich auf.

 

Die Tür öffnete sich und der alte Mann betrat den Raum.

„So wie geht es unserem…“, er erschrak, als er merkte, dass die Wache auf den Stuhl gefesselt worden war.

Blitzartig drehte er sich zu der verkleideten Alayna um und packte sie am Hals.

Sie versuchte sich zu wehren, war aber zu schwach dafür.

Langsam hob er das Mädchen nach oben und riss Alayna die Verkleidung vom Körper.

„Da bist du ja…“, lachte er hochmütig. „Dachte schon, dir wäre etwas passiert.“

Sein Griff wurde stärker.

„Du kannst mir gar nichts!“

Alayna versuchte ihn zu treten, trat jedoch nur in die Luft. Sie röchelte. Sein Griff war zu stark geworden und sie bekam immer schlechter Luft.

„Ich will endlich wissen, wo du das Buch versteckt hast!“, brüllte der Mann.

„Ich weiß nicht, wovon du redest!“, verteidigte sich Alayna und zappelte wild umher. Doch je stärker sie sich bewegte, desto schmerzvoller wurde sein Griff.

Alayna weinte und rang nach Luft. Wenn sie das Buch hätte, würde sie es ihm niemals geben! Wie befreite sie sich jetzt am besten? Sie sehnte sich so sehr nach Hilfe.

„Ich weiß, dass du es hast!“, brüllte der Mann wieder und diesmal flogen einige Speicheltropfen umher.

„Ich habe kein Buch!“, brüllte Alayna diesmal.

Sie war verzweifelt. Irgendetwas musste sie doch machen können, aber was? Sie kniff die Augen fest zusammen und konzentrierte sich. Etwas musste sie doch machen.

Dann spürte sie auf einmal eine eigenartige, warme Energie in sich. Erst fühlte sie sich bedrohlich an, dann wurde das Gefühl immer angenehmer.

Alayna riss die Augen auf, streckte dem Mann ihre Hände entgegen und wie durch Magie schleuderte es den Mann auf einmal mit einer Druckwelle durch den Raum.

Vorsichtig schwebte Alayna langsam zu Boden und kam sicher wieder auf. Verdutzt sah sie sich ihre Hände an. Was hatte sie gerade getan?

Wütend stand der Kerl wieder auf, klopfte sich den Dreck von den Klamotten und fuhr sich mit seiner Hand einmal über sein narbenbesetztes Gesicht. Seine grauen Haare waren durch den Dreck nun eher braun. Er hatte einen wütenden Gesichtsausdruck.

Er stand auf und stürmte auf Alayna zu. Dabei ließ er ein lautes Kampfgebrüll los. Alayna wollte erst zurückweichen, bemerkte aber, dass hinter ihr die Wand war.

Der Mann kam bedrohlich nahe. Er holte zum Schlag aus und Alayna zuckte zusammen. Sie machte sich klein und kniete sich in die Hocke. Der Mann traf die Wand. Anscheinend störte ihn das weniger und holt mit seinem linken Bein zu einem Tritt aus. Also streckte sie ihre Hände wieder nach vorne aus.

‚Bitte lass es klappen!‘, hoffte Alayna und kniff die Augen zusammen.

Eine zweite und stärkere Druckwelle schleuderte den Mann diesmal durch die Wand. Eine riesige Staubwolke tat sich auf.

 

Takeru rannte auf die Staubwolke hinzu. Kioku wollte ihn erst festhalten und in die andere Richtung laufen, jedoch riss sich Takeru los.

„Das ist Alayna, ich weiß es!“, brüllte er und verschwand im Staub.

„Alayna, Alayna wo bist du!?“, rief er nach seiner Schwester.

Es war dunkel und staubig. Er konnte kaum seine eigene Hand sehen.

Plötzlich griff ihn von hinten jemand und drückte ihn fest an sich. Er konnte nichts sehen, aber das Schluchzen verriet ihm, dass es seine Schwester war. Obwohl sie geschwitzt hatte und voller Dreck war, roch sie vertraut. Er war glücklich.

Tak hob seine Arme und umschloss den Körper seiner Schwester.

„Ich hab nach dir gesucht!“, stotterte er, während Tränen seine Wangen hinabliefen.

„Ich hab dich auch vermisst“, antwortete seine Schwester leise. Dann ließ sie wieder los.

Schnell wischte sie sich die Tränen vom Gesicht.

Dann kam auch Kioku hinzu.

„Takeru, Alayna, seid ihr das?“, fragte sie vorsichtig, als sie über die Trümmer kletterte.

„Ja“, antwortete ihr Alayna.

„Was ist hier los?“, fragte Kioku.

„Das kann ich euch unterwegs erzählen, wir müssen jetzt echt los!“

Takeru sah sie zuversichtlich an.

„Wir haben deine Sachen, wir können gleich los!“

„Auf geht’s!“, meinte Kioku und kletterte zurück über die Trümmer. Dann flüchteten sie.

 

Kurz danach kam ein Schwertkämpfer zum Schauplatz des Kampfes. Der alte Mann gelangte wieder an Bewusstsein. Er stieß einige Trümmer von seinem Körper weg und stand auf. Doch bevor er richtig stehen konnte, hatte der Schwertkämpfer sein Schwert schon gezogen und zugeschlagen. Kraftlos fiel der Körper des Alten wieder zurück auf die Trümmer.

„Sie konnte sich also selbst befreien. Dann muss ich sie gar nicht immer beschützen“, murmelte der Mann vor sich hin und verschwand dann in der Morgendämmerung.

 

Bald kamen die Drei zu einem Wald. Dort gönnten sie sich die erste Rast. Erschöpft ließen sie sich vor Bäumen nieder. Es war schon Morgen, als Alayna dazu kam, ihre Geschichte zu erzählen.

Kapitel 9 – Alayna und Eimi

 

Die Luft war stechend kalt, die Sonne schien hell und klar vom Himmel und von ihrem jetzigen Stand dauerte es nicht mehr lange, bis sie untergehen sollte.

Es war Nachmittag, als Kioku, Alayna und Takeru sich müde auf einer Parkbank niederließen. Sie hatten einen ganzen Tagesmarsch hinter sich gebracht und kamen in Hakata an, einer recht großen Stadt.

„Es sieht wirklich schlecht aus“, brummte Kioku und scharrte mit ihrem Fuß im erdigen Boden. „Diese Mistkerle haben uns unser Geld gestohlen.“

Die Stimmung war mies. Ohne Geld konnten sie sich kein Hotelzimmer nehmen und mussten also im Park kampieren.

„Wie gern ich jetzt in eine heiße Badewanne steigen würde“, sehnte sich Alayna und fuhr sich schwärmend mit der Hand über ihre Wange.

„Jetzt ist die Frage, was wir machen. Wollt ihr wirklich auf der Parkbank schlafen?“, fragte Kioku, die in ihrer Tasche nach etwas Essbarem suchte.

„Vielleicht können wir einen der Einwohner fragen, ob wir bei ihnen übernachten können!“, meinte Takeru und fand seine Idee toll.

„Ich glaube nicht, dass wir da eine Chance haben“, seufzte Alayna, „Ich würde auch keine Fremden mehr bei uns übernachten lassen.“

„Aber vielleicht haben wir ja eine Chance, Alayna. Wenn die Leute sehen, dass ihr noch Kinder seid…“

„Ich bin kein Kind mehr!“, beschwerte sich Alayna, „Ich bin immerhin schon 16.“

„Wie du immer auf darauf herumreiten musst“, beschwerte sich Takeru und sah seine große Schwester grimmig an. „Es hieß immer, Alayna darf dies, sie darf das, nur weil sie älter war!“

Er verschränkte schmollend seine Arme.

„Das habe ich mir von Mama und Papa auch hart erarbeiten müssen! Du weißt doch gar nicht was du redest!“, brüllte Alayna.

Kioku saß zwischen den Beiden und hörte sich das Gebrülle an. Sie verstand, dass es ein langer, anstrengender Tag war, dass die letzten Ereignisse nicht gerade erfreulich waren und dass man da etwas genervt war von allem. Aber das war doch lange kein Grund, einen Streit anzufangen, vor allem wenn es darum ging, eine Übernachtungsmöglichkeit zu organisieren.

Doch bevor sie dazwischen gehen konnte, ging Alayna weg.

„Ich komm später wieder!“, rief sie über ihre Schulter. Dann war sie weg.

 

Alayna fasste es nicht. Erst musste sie die schlimmsten Torturen ihres Lebens ertragen und sich dann von ihrem nervigen Bruder auch noch so etwas gefallen lassen. Konnte sie keiner verstehen? Sie war müde, hungrig und kraftlos.

Sie schlenderte aus dem Park, vorbei an einigen Häusern, bis sie zu einer kleinen Gasse kam. Dort lehnte sie sich mit ihrem Rücken an die schmutzige Wand, und ließ sich zu Boden nieder. Sie zog ihre Beine ganz nah an sich heran. Sie fror.

Dann kullerten die ersten Tränen. Sie nahm ihre Hände vor ihr Gesicht und schluchzte tief.

Plötzlich erschreckte sie, als lachende Jungs an ihr vorbeiliefen. Vor Schreck hielt sie kurz den Atem an und schaute auf. Weg waren sie.

Alayna zog ihre Nase hoch und wischte sich mit ihrer kalten Hand einige Tränen aus dem Gesicht. Es war ruhig. Dann zog sie wieder ihre Nase hoch.

„Brauchst du ein Taschentuch?“, fragte plötzlich ein Junge.

Sie sah hoch und sah ihn. Er war größer als Alayna und stand da, an der Wand von einem anderen Haus gelehnt. Er hatte kurze, blondbraune Haare und sein strähniger Pony fiel ihm ins Gesicht. Er trug einen mit Mustern verzierten Wollpullover.

„So hübschen Mädchen wie dir, steht es nicht, in so einer Gasse zu sitzen und zu weinen.“

Er war auch noch ein Charmeur.

‚Super‘, dachte sich Alayna. Das konnte sie gerade am wenigsten gebrauchen.

Er ging von der Wand weg und beugte sich zu Alayna hinunter.

„Willst du nicht lieber aufstehen?“, fragte er liebevoll.

Er war mit seinem Gesicht so nah an sie herangekommen, dass sie nicht wusste, wie sie reagieren sollte. Von ihm ging auf einmal so eine angenehme Wärme aus. Und seine Stimme war auch gar nicht so schlimm. Eher angenehm und beruhigend. Vielleicht war er doch gar nicht so schlimm.

Seine grünen Augen sahen Alayna durchdringend an. Sein Blick hatte etwas forderndes, aber dennoch war es irgendwie positiv. Alayna merkte nicht, wie ihr Herz langsam schneller schlug und ihr die Röte ins Gesicht stieg. Was sollte sie nur sagen?

„Nun gut, wenn du das so willst“, meinte der Junge, nahm Alaynas Hand und legte ihr sein Taschentuch in die Handfläche.

Seine Finger waren so angenehm warm und sanft.

Schatten fiel auf einmal in die Gasse.

„Kommst du endlich?“, forderte ein Junge mit Mütze, der plötzlich vor der Gasse stand.

„Was machst du da eigentlich?“, fragte ein anderer Junge, dessen rote Haare ihm ins Gesicht fielen.

„Ich komm ja schon“, meinte er und sprach noch einmal zu Alayna, „Also dann, pass auf dich auf, ja?“

Er stand auf und verschwand mit seinen Freunden.

Das ging Alayna zu schnell. Sie stand auf und lief ihnen hinterher.

„Halt!“, rief sie, „Wartet doch!“

 

Kioku stieß einen lauten, schweren Seufzer los.

„Läuft das immer so, zwischen euch?“, hakte sie nach.

Takeru sagte nichts.

„Sie ist weg, du kannst ruhig mit mir reden.“

Doch wieder kam keine Antwort. Er stand auf, und setzte sich auf eine Bank, die sich etwas weiter weg befand.

Kioku raufte sich die Haare.

„Ist das das, was man Geschwisterliebe nennt?“

Dass sich Alayna und Takeru streiten mussten, war die eine Sache, aber dass sie sich von ihm jetzt auch noch hatte anschweigen müssen, ging ihr zu weit. Deswegen holte sie etwas Brot aus ihrer Tasche und aß erst einmal.

Takeru schmollte. Immer war er der kleine, der schwache, der nichts durfte. Er war das Kind und das fand er wirklich unfair. Alayna hatte schon immer darauf bestanden, mehr zu dürfen und mehr zu machen. Von wegen, dass sie es sich erarbeitet hatte. Das war eine Lüge. Wenn es um Arbeit ging, überredete sie immer Takeru diese zu machen und komischerweise fiel er immer darauf herein. Doch jetzt war Schluss damit! Auch Takeru konnte die Verantwortung eines Erwachsenen übernehmen.

Er wusste nicht, wohin ihn seine Gedanken geführt hatten, wieso es plötzlich darum ging und wieso er plötzlich weinen musste. Er wusste es einfach nicht.

Deswegen holte er das Tagebuch seines Vaters aus der Tasche. Vorsichtig strich er mit seinen Fingern über den Einband. Es fühlte sich toll an. Dann schlug er die Seiten auf.

Sie waren mal wieder leer. Doch beim Durchblättern fand er irgendwo in der Mitte einen kleinen Eintrag.

„Ich bin froh, nicht allein zu sein.“

Takeru schloss das Buch wieder und drückte es fest an seine Brust. Papa, wo war er nur?

Kioku beobachtete das alles, von der anderen Seite. Was hatte Takeru da nur für ein Buch?

 

„Oh, will sich die stumme Dame bedanken?“, meinte der nette Junge, als er sich zu Alayna umdrehte.

„Warte, ehm, also…“, Alayna wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie schluckte, als sie neben ihm, noch zwei weitere Jungs sah. Der eine trug den Kragen seiner Jacke weit nach oben und die Mütze hatte er tief ins Gesicht gezogen, sodass man nur seine gelben Augen und einige grüne Haarsträhnen sehen konnte. Der andere trug einen schwarzen Pullover und einen hellblauen Schal. Seine roten Haare fielen ihm ins Gesicht, dass man nur schwer seine dunklen Augen erkennen konnte.

„Jetzt wird sie schon rot“, meinte der Junge, der die Mütze trug.

„Lass das Mädchen doch in Ruhe, Krau!“, beschwerte sich der Rothaarige, „Das ist doch allein Eimis Sache.“

„Also ich geh jetzt, es gibt bald Abendessen“, murmelte Krau und ging weiter.

„Heute hat er mal wieder seine beste Laune“, entschuldigte sich der Junge mit den roten Haaren.

„Kann ich dir irgendwie behilflich sein?“, meinte Eimi, der sich mit seiner Hand einmal durch die Haare fuhr.

„Also ehm…“, Alayna war sichtlich verwirrt, „Ich, ich meinte…“

„Ja?“, hakte Eimi nach und kam ihr wieder so nahe wie vorhin.

„D… Danke für dein Taschentuch… Aber…“, stotterte sie. Was war denn mit ihr nur los? Wieso konnte dieser Typ sie so durch den Wind bringen?

Plötzlich grummelte es ganz laut. Alayna stieg die Röte ins Gesicht, denn es war ihr leerer Bauch, der sich da meldete.

Der rothaarige Junge musste sich ein Grinsen verkneifen und meinte nur so etwas wie: „Wird wohl Zeit fürs Abendessen.“

Dann drehte er sich um und ging ebenfalls.

Eimi lächelte Alayna an, die sich nun nicht mehr traute, irgendetwas zu sagen.

„Gern geschehen. Aber wie es mir scheint, würdest du gern etwas essen?“, stellte Eimi fest, „Dann komm doch mit, bei uns gibt es bald Abendessen! Wenn du willst, darfst du gerne mitessen. Vorausgesetzt du findest Krau und Ensei nicht so schlimm.“

„Ja… ehm… ja klar, gerne“, freute sich Alayna.

 

Mittlerweile wurde es schon etwas dunkler. Kioku machte sich Sorgen.

„Ich möchte nicht, dass deiner Schwester wieder etwas passiert. Es wäre wohl ratsam, nach ihr zu suchen“, versuchte sie Takeru zu überzeugen.

„Ja“, antwortete der Junge und stand auf. Das Tagebuch hatte er schon lange wieder zurück in seine Tasche gepackt.

„Mir tut es doch auch Leid, dass ihr euch so streiten musstet, aber das hat ja alles keinen Zweck. Sie ist immerhin deine Schwester.“

„Mh“, gab Takeru von sich und lief still neben Kioku her.

„Weißt du, wenn ich Geschwister hätte, würde ich mich freuen“, Kioku verschränkte ihre Arme hinter ihrem Kopf während des Gehens. Sie blickte immer wieder in den Himmel. Man konnte schon die ersten Sterne sehen. Die Straßenleuchten der Stadt gingen an.

Sie verließen den Park und gelangten bald an eine Straße, deren Häuser mit riesigen Gemälden verziert waren. Alles in allem sah das sehr Kunstvoll aus.

„Ich meine, dann hat man immer jemanden, der einem helfen kann. Oder zu dem man gehen kann, wenn man sich mit seinen Eltern streitet. Jemanden, mit dem man einen Tag verbringen kann, auch wenn man Stress hat, aber man weiß, dass am nächsten Tag wieder alles in Ordnung ist.“

Kioku machte eine kleine Pause. Sie hörte, wie Takeru kurz schniefte.

„Ich denke, Tak, ihr solltet euch einfach die Hand geben, euch entschuldigen und alles ist wieder in Butter.“

Sie klopfte ihm auf den Rücken und lachte lauthals, um irgendwie diese angespannte Situation aufzulockern.

Takeru lächelte leicht. Er erinnerte sich daran, wie oft er und Alayna früher gestritten hatten, aber es wirklich am nächsten Tag wieder in Ordnung war.

 

Alayna war erstaunt, als sie endlich am Ziel ihrer kurzen Reise ankamen. Es war ein Waisenhaus.

Sie traute sich gar nicht, Eimi darauf anzusprechen, ob er ein Waisenkind war, deswegen akzeptierte sie diesen Fakt und folgte ihm in das kleine Haus. Die Gänge waren durch Kerzen beleuchtet, die an Kronleuchtern befestigt waren. Am Ende des Ganges befand sich eine Treppe, die nach oben ging. Links und rechts befanden sich einige Türen.

Kleinere Kinder rannten plötzlich von einem ins andere Zimmer. Man hörte Poltern, Gespräche, Lachen und Schreie. Je länger sich Alayna darauf konzentrierte, was in diesem Haus vor sich ging, desto mehr fiel ihr auf.

Eimi nahm ihr die Jacke ab und führte sie in den großen Speisesaal, in dem schon einige Kinder an Tischen saßen und aßen.

„Gut, dass ihr ohne uns angefangen habt“, lachte Eimi und setzte sich zu Krau und Ensei an den Tisch. Krau hatte seine Jacke ausgezogen, ihm hing die Mütze aber dennoch bis über die Augen. Ensei lächelte Alayna an und bot ihr einen Platz neben sich an, in dem er den Stuhl zurechtschob.

Neben ihm saß ein kleines Mädchen, mit blonden Haaren. Sie zupfte ständig an seinem Pullover herum. Vor ihr lagen einige Haarspangen und Haargummis.

„En, En! Ich will dir eine andere Spange rein machen!“, jubelte sie und zog Ensei näher an sich heran.

Dieser sah etwas gequält zu Alayna. Sein entschuldigender Blick war Erklärung genug. Dann wechselte das kleine Mädchen die Haarspange mit einer neuen Haarspange aus. Jetzt trug er eine, mit einem Gänseblümchenmuster.

„Was man nicht alles für die Kleinen macht“, erklärte er sich.

Alayna setzte sich still hin und schon war Eimi wieder an ihrer Seite, um ihr einen Teller mit heißer Suppe zu geben.

Am anderen Kopfende des Tisches saß Krau, der genervt in seine Suppe starrte und Löffel für Löffel zum Mund führte. Er pustete nicht. War ihm das etwa nicht zu heiß?

„Ist das wirklich in Ordnung?“, fragte Alayna nach und sah sich besorgt um.

„Keine Sorge, wir haben hier genug für jeden zu essen!“, grinste Eimi und nahm seinen ersten Löffel.

„Wenn das so ist“, murmelte Alayna und fing nun auch zu essen an.

Die Kinder an den anderen Tischen tobten und lachten, einige spielten lieber mit ihrem Spielzeug, als zu essen.

Es dauerte etwas, dann waren auch Alayna und Eimi mit dem Essen fertig. Sie blieben noch etwas sitzen.

„Was machst du denn hier, in Hakata? Ich hab dich vorher noch nie gesehen“, hakte Eimi nach.

„Ich bin hier auf Durchreise“, erklärte Alayna sich, „Zusammen mit einer Freundin und meinem Bruder.“

„Du hast einen Bruder? Okay, wohin wollt ihr denn? Wo sind deine Eltern?“, fragte Eimi weiterhin. Krau und Ensei folgten dem Gespräch.

„Das ist… ehm…“, stammelte Alayna.

„Ich versteh schon“, lächelte Eimi und nahm ihre Hand. „Ihr zwei bleibt hier, vielleicht tauchen ihre Freundin und der kleine Bruder auch auf!“

Dann ging er mit ihr am Fenster vorbei, hinaus aus dem Speisesaal und verschwand durch den Hinterausgang des Waisenhauses mit ihr.

 

„Da hab ich sie gesehen!“, rief Takeru, als er an einem großen Haus vorbeiging. „Dort im Fenster war sie grad, mit einem Jungen!“

„Wirklich?“, wunderte sich Kioku.

„Ich bin mir ganz sicher!“, wiederholte er und zog Kioku zurück zu dem großen Gebäude.

Die Tür war dunkel und massiv. Als sie klopften, hörten sie kurze Zeit später Schritte. Ein älterer Mann öffnete.

„Was kann ich für euch tun?“, fragte der Mann, der sichtlich von dieser Kombination junger Mutter und schon älterer Sohn verwirrt war.

„Ich bin hier, um meine Schwester zu suchen, die ist hier!“, meinte Takeru.

„Wir suchen Alayna, haben Sie sie gesehen?“, fragte Kioku.

„Wer sind Sie denn, wenn ich fragen darf?“

Der alte Mann hatte einen Bart, seine Haare waren an den spitzen etwas grau. Er trug ein weißes Hemd und ein Halstuch.

„Ich bin Kioku, das ist ein Freund von mir, Takeru. Wir suchen seine Schwester, die vorhin nur kurz einmal spazieren gegangen war. Takeru meinte, sie gerade im Fenster gesehen zu haben.“

„Dann kommt doch mal herein“, begrüßte sie der Mann, „Ihr müsst mich nicht siezen. Mein Name ist Chojiro, ich bin der Leiter dieses Waisenhauses. Wenn ich ein neues Mitglied unserer großen Familie hätte, würde ich das sofort wissen. Nun weiß ich aber nicht, wen die großen Jungs immer mit rein und rausnehmen.“

Chojiro seufzte.

„Das alles ist natürlich schwer, wenn man so viele freiwillige Unterstützer hat, die nicht an die engen Regeln des Waisenhauses gebunden sind“, versuchte er sich zu erklären.

Kioku und Takeru folgten ihm in den Speisesaal.

„Hier hast du sie gesehen?“

Takeru nickte.

„Vielleicht finden wir sie hier ja“, schlug Chojiro vor und sah sich um.

 

Eimi ging mit Alayna etwas spazieren.

„Hast es wohl schwierig, oder?“, hakte Eimi nach.

„Das kannst du laut sagen!“, seufzte Alayna und starrte in den dunklen Nachthimmel.

„Es fing alles damit an, dass mein Dad plötzlich abhauen musste, mein Bruder auf die Idee kam ihm hinterher zu stiefeln, deswegen unser Haus in Brand gesetzt wurde, uns irgendsoein Schwertkämpfer dann weggeschickt hatte, wir deswegen auf Reisen sind, in eine riesige Verwüstung kamen, ich von diesen Leuten in Schwarz entführt worden bin, mein Bruder und ich eigentlich immer noch unseren Vater suchen, wir keine Ahnung haben, was mit unserer Mutter passiert ist, und wir nun hier sind! Ohne Geld und ohne Essen…“, Alayna machte während des Redens keine Pause.

„Wowowow, halt mal. Entführung? Verschwundener Vater? Männer in Schwarz?“, Eimi war überrascht über das, was ihm Alayna erzählte.

„Ja, es ist schrecklich…“, murmelte sie, „Ich kann es auch fast nicht glauben.“

„Aber irgendwie auch spannend.“

„Wie, spannend!?“, brüllte Alayna, „Spinnst du? Ich würde das liebend gern wieder gegen mein altes Leben eintauschen!“

„Und wie sah das aus? Du warst Zuhause, hast dich um deine Freunde gekümmert und den ganzen Tag nur langweilige Sachen gemacht? Das hier ist die Möglichkeit, ein Abenteuer zu erleben!“

„Ganz sicher nicht. Das ist Wahnsinn!“, verteidigte sich Alayna. Was wollte Eimi eigentlich? Er brauchte sich doch gar nicht in ihre Angelegenheiten mit einmischen!

„Weißt du“, fing Eimi an und wurde dabei still, „In dieser Stadt gibt es viele Waisenkinder. Vor einigen Jahren war hier ein schlimmer Zustand. Chojiro, der Besitzer des Waisenhauses hat sich stark dafür eingesetzt, dass es den Kindern gut geht. Und obwohl sie nichts haben, geht es ihnen jeden Tag prima. Die Kleinen träumen davon, einmal hinaus in die weite Welt zu gehen und ein spannendes Leben zu haben.“

„Träumst du auch davon?“, unterbrach ihn Alayna.

Während er sprach, sah er so konzentriert aus. Als wüsste er genau, was er in seinem Leben erreichen wollte. Alayna war verwirrt. Einerseits nervte sie es, dass er sie so leicht durchschaut hatte, andererseits war sie fasziniert von seinem starken, fesselnden Charakter.

„Mein Leben war so langweilig. Meine Eltern arbeiten den ganzen Tag und ich hatte nie etwas zu tun. Irgendwann freundete ich mich dann mit den Waisenkindern an und irgendwie bin ich dann als Unterstützer in die Sache hineingeraten. Mich den ganzen Tag mit den Kindern zu beschäftigen, ist das einzig sinnvolle, was ich gerade zu Stande bringe. Jedoch nicht mehr.“

„Wie, du bist gar kein Waisenkind?“, wunderte sich Alayna.

„Nein, ich wohne noch Daheim.“

„Und du kümmerst dich um all die Kinder?“

„Klar“, sagte Eimi stolz, „Die sind wie eine zweite Familie für mich! Ich spiele mit ihnen, höre ihnen zu, passe auf sie auf. All das tu ich…“

„Das ist echt schön von dir“, meinte Alayna. Ihr Herz fing wieder an schneller zu schlagen.

„Aber wie ich sehe, hast du es auch nicht leicht.“

„Das kannst du laut sagen“, lachte Alayna.

Eimi lachte ebenfalls.

„Sag mal, Alayna“, unterbrach Eimi und sah sie durchdringend an, „Das ist jetzt etwas unhöflich, aber… Darf ich euch auf eurer Reise begleiten?“

Kapitel 10 – Kioku will es wissen

 

„Wir essen erst mal“, schlug Chojiro vor, „Die Kinder haben jetzt schon gegessen, dann können wir dies in Ruhe tun. Ich lade euch ein.“

„Das ist sehr lieb“, antwortete Kioku und folgte Chojiro.

Er ging zum anderen Ende des Speisesaals und setzte sich an einen kleinen, alten Tisch, dessen Lack schon leicht abblätterte und an dem gerade einmal drei Personen Platz hatten.

Ein älterer Junge mit Schürze kam und brachte drei Teller mit Suppe. Dazu stellte er einen Korb mit Brot auf den Tisch. Takeru war der erste, der sich etwas von dem Brot nahm. Kioku zögerte erst etwas, ließ Chojiro wählen und begutachtete dann Suppe und Brot. Als diese dann jedoch ganz gut aussahen und lecker rochen, griff sie auch zu.

„Lasst es euch schmecken“, wünschte Chojiro und brach sein Stück Brot in kleine, mundgerechte Teile. Einige davon versenkte er in seiner Suppe. Auch Takeru brach sein Brot etwas kleiner.

Kioku war die einzige, die direkt vom Brot abbiss.

„Wie ist das denn mit den Waisen?“, fragte Kioku aus reiner Höflichkeit und sah neugierig dabei zu, wie die letzten Kinder den Speisesaal lachend verließen.

Takeru war ganz still. Er sagte nichts und aß in Ruhe seine Suppe.

„Es läuft ganz gut“, erklärte Chojiro und nahm noch einen Löffel. „Die Kinder sind alles Waisen. Wir haben sie entweder gefunden oder sie kamen von allein zu uns. Die Großen kümmern sich ganz gut um die Kleinen. Außerdem haben wir freiwillige Helfer aus der Stadt. Das läuft alles recht selbstständig. Klasse Sache.“

Kioku kommentierte das mit einem „Mh“, auch als Chojiro anfing darüber zu reden, wie das Waisenhaus denn finanziert würde. Sie bekam nur die Begriffe „Bürgermeister“ und „Unterstützung“ mit, da ihre Gedanken ziemlich schnell wieder abschweiften. Wieso konnte sie sich gerade so schlecht konzentrieren? Lag es daran, dass Alayna schon wieder nicht hier war und sie schon wieder allein auf Tak aufpassen musste?

Es war schrecklich, vor allem weil Alayna dieses Mal mit einem fremden Jungen hatte abhauen müssen, wie ihr vorhin zwei Jungs erzählt hatten.

Takeru war auch so auffällig ruhig. Ob er es eingesehen hatte, dass der Streit zwischen ihm und seiner Schwester wenig Sinn hatte? Irgendwie ging Kioku auch dieses Buch nicht mehr aus dem Kopf. Das hatte er doch vorher nie ausgepackt? Sie hatte ein komisches Gefühl dabei.

„… und weswegen treibt ihr euch in dieser Stadt herum?“, unterbrach Chojiro ihre Gedanken.

„Wir sind eigentlich nur auf Durchreise“, antwortete Takeru für sie.

„Wohin geht die Reise denn?“, hakte Chojiro nach und lächelte.

Kioku sah zu Takeru und zog dabei eine Augenbraue nach oben. Er zuckte mit den Schultern.

„Wir möchten zur Küste. Ein gewisses Ziel haben wir noch nicht“, erklärte Kioku.

„Kommt mir bekannt vor“, murmelte Chojiro, „Ich kannte da mal so eine Gruppe, die auch ohne bestimmtes Ziel durchs Land reisten.“

Er lachte.

„Wollte ihr nicht heute Nacht hier bleiben? Dann könnt ihr wenigstens im Warmen schlafen.“

„Wirklich?“, Kioku staunte und ihre Augen strahlten, „Das wäre echt super!“

„Klar“, antwortete Chojiro locker, „Ein paar Betten haben wir immer frei.“

Takeru sagte dazu nichts und aß seine Suppe auf. Kioku aber freute sich riesig.

„Ensei zeigt euch später euer Zimmer“, erklärte Chojiro und zeigte auf den Jungen, der Kioku vorhin von Alayna und dem Jungen erzählt hatte.

„Das ist wirklich lieb, Danke“, bedankte sich Kioku und aß ebenfalls auf.

Als auch der Chef des Waisenhauses sein Mahl beendet hatte, wurden Kioku und Takeru auf ihr Zimmer gebracht. Es befand sich unter dem Dach und durch das schräge Fenster fiel fahles Mondlicht. Das Bett stand neben der Türe und wurde knapp von Mondlicht beschienen. Der Raum war klein.

„Vielen Dank“, bedankte sich Kioku bei Ensei, der sich mit einem Winken verabschiedend wieder ging.

Es war ein Stockbett, dessen Matratzen mit einem grünen Stoff bezogen waren. Kioku setzte sich in das untere Bett, da Takeru schon gleich nach oben sprang. Sie fühlte die harte Matratze unter sich. Sie war kalt und der Bezug hatte eine merkwürdige Oberfläche, die nicht ganz glatt und auch nicht rau war. Aber wenigstens hatten sie eine Übernachtungsmöglichkeit gefunden.

Und was war mit Alayna? Kioku machte sich Sorgen.

„Was ist mit Alayna?“, kam die Frage vom oberen Bett.

„Wenn sie mit Eimi zusammen ist, dann passiert ihr nichts“, meinte plötzlich ein Junge mit Wollmütze, der im Türrahmen stand.

Kioku erinnerte sich, das war der zweite Junge, der ihr von Alayna erzählt hatte.

„Wie heißt du?“

Irgendwie konnte sie diesem Jungen aber nicht so viel Vertrauen entgegenbringen, wie dem rothaarigen Jungen.

„Ich heiße Krau“, antwortete er knapp.

„Sicher?“, fragte Takeru, der ihn mit schmalen Augen ansah.

„Ich habe deine Schwester vorhin kennenlernen dürfen, so wie ich sie einschätze, verlässt sie Eimi nicht so leicht“, erklärte Krau in einem überheblichen Ton.

Dann drehte er sich um und ging einfach, ohne eine Reaktion darauf zu erwarten.

„Was für ein komischer Typ“, murmelte Takeru und platzierte sein Gesicht auf dem Kissen. Dann hörte man ein dumpfes Stöhnen.

„Das stimmt“, seufzte Kioku.

„Denkst du, Alayna kommt heute Nacht wieder?“, fragte Takeru, der seinen Kopf so auf die Seite drehte, dass Kioku ihn verstehen konnte.

„Bestimmt Tak…“, versuchte sie ihn zu beruhigen. „Wir sollten jetzt schlafen. Deine Schwester finden wir morgen und dann reisen wir weiter.“

„Mhh…“

„Gute Nacht, Tak.“

„Nacht.“

 

Als einige Zeit vergangen war, und Takerus Schnarchen noch stärker wurde, stand Kioku auf. Sie konnte es vor Neugierde kaum fassen. Doch ihre Moral hielt sie erst noch davon ab, sich an Takerus Sachen zu vergreifen. Sie stellte sich an das Fenster und sah in den Himmel hinauf. Der Mond war schon fast wieder unter gegangen. Die Sterne leuchteten hell. Von draußen vernahm sie ein Murmeln, als ob sich jemand unterhalten würde.

Was hatte es mit dem Buch auf sich?

Vorsichtig ging sie zu der Ecke, in die Tak seine Sachen geschmissen hatte, beugte sich hinunter und öffnete seine Tasche. Dort fand sie das Buch. Sie nahm es zurück zum Fenster und öffnete es.

Doch neben einem Satz auf der ersten Seite, stand nichts darin. Was wollte Takeru denn dann mit diesem Buch?

Aber der erste Satz gab überhaupt keinen Sinn. Wer war Ginta noch einmal? Ach, das war der Vater der Zwei.

Kioku wollte sicher gehen. Sie blätterte Seite für Seite durch. Da musste doch etwas sein. Das konnte ja nicht Takerus Tagebuch sein?

Es dauerte etwas, dann fand sie wirklich einen Eintrag, fast am Ende des Buches.

 

„Ama ist sehr still. Das mag ich an ihm. Ich denke, ich kann mich gut mit ihm verstehen. Außerdem ist er stark und mag Oto sehr.“

 

Wer waren Ama und Oto? Aus diesem Buch wurde Kioku einfach nicht schlau. Sie schlug es zu und steckte es zurück in die Tasche.

Irgendwie waren die Kinder für sie ein größeres Geheimnis, als sie vorerst angenommen hatte. Mit einem unruhigen Gefühl legte sie sich wieder ins Bett und schlief.

 

Am nächsten Morgen verließ Kioku ziemlich früh das Haus. Takeru ließ sie noch etwas schlafen. Sie musste ihren Kopf erst einmal klar bekommen. Die frische Kühle war ganz angenehm. Sie lief etwas durch die Straßen.

Als sie nach einiger Zeit des Laufens und Wölkchen-in-die-kalte-Luft-Pustens wieder zurück zum Waisenhaus ging, kam ihr Alayna in Begleitung eines Jungen entgegen.

„Da bist du ja“, mahnte Kioku Alayna und musterte dabei den Jungen.

„Tschuldige“, meinte Alayna, als sie merkte, dass in Kiokus Stimme ein miesgelaunter Unterton mitschwang.

„Schon gut. Wer ist das?“, hakte sie nach.

„Ich bin Eimi. Eimi Gage“, antwortete Eimi, als müsste er sich Alaynas Mutter vorstellen. Dann streckte er Kioku seine Hand entgegen. Doch Kioku erwiderte seinen Händeschlag nicht. Dann zog er unenttäuscht seine Hand zurück. Er lächelte.

„Wo warst du die ganze Nacht? Ich habe mir Sorgen gemacht“, meinte Kioku kühl. Sie wollte nicht wie ihre Mutter klingen, aber dennoch ehrlich sein.

„Eimi und ich haben geredet“, erklärte sie, „Er möchte uns auf unserer Reise begleiten.“

„Möchtest du das?“

Eimi nickte wild. Sein Lächeln war wirklich freundlich und seine Augen klar. Kioku überlegte sich, was sie sagen sollte. Einerseits wusste sie nicht so recht, ob das gut war, andererseits hatte sie keine Argumente gegen den Jungen. Was machte das schon? Konnte sie denn überhaupt in ihrer Lage darüber entscheiden? Sie selbst ging doch mit Alayna und Takeru mit, obwohl es nicht ihre eigene Reise war.

Dann ließ sie ihre Miese Laune Fallen.

„Würde mich freuen, wenn du das tust. Dann haben wir einen Mann an unserer Seite.“

Nun lächelte Kioku ebenfalls und streckte ihm die Hand hin. Dann schüttelten sie ihre Hände.

„Tak hat sicherlich nichts dagegen, wenn er dich erst einmal kennenlernt“, grinste Alayna.

Kioku verstand sofort, weswegen Alayna Eimi an ihrer Seite haben wollte. Einerseits waren Takeru und Alayna in manchen Situationen leicht zu durchschauen, andererseits konnte sie die beiden aber nur schwer verstehen. Damit musste Kioku aber klar kommen. Wichtiger war es, Eimi Vertrauen zu schenken.