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Kapitel 26 – Wir sind die Schutztruppe

 

Ein eiskalter Wind peitschte an die Fenster des roten Waggons. Eines der Lichter im Abteil flackerte leicht. Takeru fand es auf einmal sehr still. Eine merkwürdige Stille war eingekehrt, als die Freunde der dahinrasenden Kutsche hinterhergeblickt hatten und wussten, dass diese fremde Frau gerade entführt worden war. Ihm war es bewusst, dass so etwas auf der Welt passierte, aber dass dies wirklich vor seinen Augen geschehen war, schockierte ihn. Alayna, der das ganze Geschehen erzählt worden war, saß da und wusste nicht, was sie sagen sollte. Kioku sah mit einem enttäuschten und auch wütenden Blick aus dem Fenster und wirkte auf einmal sehr unnahbar. Eimi machte aber einen noch wütenderen Eindruck auf Takeru. Er versteckte sein Gesicht hinter zusammengefalteten Händen und blickte nur auf den Boden.

 

Der Schaffner und der Lokführer waren, gleich nachdem der Zug angehalten worden war, aus dem Zug gestiegen und hatten überprüft, was passiert war. Sie hatten die Freunde darum gebeten, wieder einzusteigen, sodass sie die Weiterfahrt vorbereiten konnten. Über Funk hatte der Lokführer die zuständigen Behörden im Endbahnhof in Prûo informiert, welche sich um den Fall kümmern sollten. Außerdem hatte er die Freunde gebeten, in Prûo noch zu warten, bevor sie den Bahnhof verließen. Die Freunde sprachen die ganze restliche Fahrt über nicht miteinander.

 

 

 

So rollte der Zug nach einer Weile endlich in der Metropole ein. Der Bahnhof war von einer riesigen gläsernen Kuppel überdacht, deren Segmente von feinen, aus schwarzem Stahl in Blumenform gestalteten Elementen zusammengehalten wurden. Die breiten Bahnsteige besaßen in regelmäßigen Abständen voneinander Bänke, die von großen, ebenfalls blumenförmigen Laternen beleuchtet wurden. Als der Zug so langsam zu stehen kam, die Leute hastig ausstiegen und davoneilten, als wäre nichts passiert, blieben die Freunde noch einen kurzen Moment sitzen. Der Schaffner kam in das sonst leere Abteil und nickte den Freunden zu, dass sie ihm folgen sollten.

 

„Sie werden erwartet“, sprach er und begleitete sie nach draußen. Auf dem Bahnsteig wartete eine kleine Gruppe von blaugrau uniformierten Männern. Der Anführer, der sich dadurch von den anderen unterschied, dass er einen Hut mit einer großen Krempe trug und statt der Uniform einfach nur ein blaukariertes Hemd und eine hellbraune Lederweste trug, kam auf die Freunde zu. Ein glänzender Stern in einem Wappen war auf Höhe der Brust an der Weste befestigt. Takerus erster Gedanke war, ob dieser Mann denn nicht fror, es war ja immerhin noch Winter. Sein zweiter Gedanke galt dem Ausdruck in seinem Gesicht, das einen so netten und hilfsbereiten Eindruck machte, dass er sich gleich wohl fühlte.

 

„Mein Name ist Pecos“, stellte sich der Anführer vor. „Wo sind denn eure Erziehungsberechtigten?“

 

Tak warf einen Blick zu seinen Freunden und antwortete dann: „Wir sind eben gerade auf der Suche nach unserem Vater.“

 

„Das macht die Sache etwas komplizierter“, meinte Pecos und kratzte sich einmal unter seinem Hut.

 

„Jedoch bin ich alt genug, die Verantwortung zu übernehmen“, sprach Kioku.

 

„Dann folgt uns bitte, auf dem Revier könnt ihr einen Tee oder Kaffee haben und wir besprechen dann, was passiert ist und wie es weitergeht.“

 

So liefen die Freunde den fünf Männern hinterher. Takeru bemerkte, dass die Menschen auf dem Gleis sie merkwürdig anstarrten. Er deutete die Blicke der Personen und verstand diese als verachtend, wie als hätten sie etwas verbrochen. Seine Hand zuckte nervös; seit dem Vorfall kribbelte sie leicht und dieses merkwürdige Gefühl hörte nicht auf.

 

 

 

Kurz darauf verließen sie das Bahnhofsgebäude, das aus riesigen weißen Steinen erbaut worden war. Etliche unzählige Menschen wanderten mit strengen Blicken an ihnen vorbei. Hier und da bellte ein Hund, anderswo zerrte eine Mutter ihr Kind in ein Geschäft. Takeru entdeckte auf einer Wiese eine Blume, die sich als Vorbote des Frühlings durch die dünne schneeweiße Decke drückte.

 

Sie erreichten ein weiteres weißes Steingebäude, dessen Eingang über eine überdachte Treppe erreichbar war. Das kleine Dach wurde von weißen Säulen gehalten. Das Gebäude sah auf den ersten Blick recht schmal aus, jedoch erkannte man von der Seite, dass es sich lang nach hinten zog.

 

Pecos führte die Freunde durch den Eingang in eine große Halle, in der viele Schreibtische standen, an denen uniformierte Mitarbeiter arbeiteten. Sie schrieben Briefe, unterzeichneten Unterlagen und sortierten diese in verschiedene Ordner ein. An einem Tisch machten zwei Frauen gerade Pause und tranken einen Kaffee. An einem anderen Schreibtisch saß gerade eine sehr bedrückt wirkende Frau; ihr Gesicht grub sich verzweifelt in ihre Hände, die Haare fielen strähnig und leblos an ihr herab. Die Person am Schreibtisch versuchte sie irgendwie zu beruhigen, aber es hatte keinen Zweck, denn die Frau brach in Tränen aus.

 

Pecos führte die Freunde in sein Büro und verabschiedete sich von den Kollegen, die gerade noch bei der Gruppe waren. Sein Büro bestand aus einem Schreibtisch und mehreren Schränken mit Büchern und Ordnern. Auf der linken Seite befand sich eine weitere Tür. Die weißen Wände waren leer, es gab keine Pflanzen in dem Raum, weswegen dieser kalt wirkte. Er lud die Freunde an, an einem kleinen Tisch Platz zu nehmen. Kurz darauf kam seine Sekretärin rein, grüßte sie und stellte vier Gläser mit Wasser auf den Tisch.

 

„Willkommen im Präsidium Abteilung 1 der Schutztruppe Ruterions. Ich bin Hauptkommissar Pecos und untersuche seit längerer Zeit einen Fall, der mit eurem Geschehnis in Verbindung stehen könnte. Warum seid ihr ohne Eltern unterwegs?“

 

„Wir suchen sie gerade“, antwortete Takeru knapp. Er sah seine Freunde an, die immer noch einen merkwürdig bedrückten Eindruck auf ihn machten. Dann betrachtete er Pecos, der sich etwas auf einem Stück Papier notierte.

 

„Was genau ist während der Zugfahrt vorgefallen?“, fragte Pecos, ohne von seinem Papier aufzublicken.

 

„Es hat jemand Hilfe gebraucht“, gab Eimi zur Antwort, „und wir konnten der Frau nicht helfen.“

 

„Kannst du bitte genauer beschreiben, was passiert ist?“

 

Eimi erzählte Pecos den Vorfall. Er beschrieb Pecos so detailliert, wie er nur konnte, die fünf Personen, wie sie aussahen und was sie genau getan hatten. Dabei versuchte er, so genau wie nur möglich jedes Detail einzubringen. Wenn er etwas nicht so genau wusste, sprang Kioku ein und erzählte unter anderem, dass die entführte Frau braune Haare hatte.

 

Takeru beobachtete Pecos, wie er sich die Sachen aufschrieb und bemerkte, dass er dabei weder große Freude noch Enttäuschung zeigte, wenn etwas nicht beschrieben werden konnte, wie zum Beispiel in welche Himmelsrichtung die Entführer geflohen waren. Eimi hingegen wirkte sehr emotional auf ihn. Takeru bemerkte, wie sehr Eimi es ärgerte, dass sie nichts gegen diese Entführung hatten unternehmen können. Auch er selbst ärgerte sich, aber Eimi nahm das wohl ganz anders mit.

 

Pecos stand auf und blickte aus dem Fenster, nachdem Eimi alles fertig beschrieben hatte. Für einen kurzen Moment sagte er nichts. Dann drehte er sich zu den Freunden um. Takeru konnte nicht ganz festmachen, was Pecos Gesichtsausdruck bedeuten sollte.

 

„Einerseits möchte ich euch sagen, dass es unverantwortlich ist, diese Form von Selbstjustiz durchzuführen. Es ist ungemein gefährlich, sich in solche Angelegenheiten mit einzumischen.“ Er blickte sehr wütend drein, als wäre er ein Vater, der seine Kinder gerade bestrafen wollte. „Doch andererseits ist es großartig, dass ihr der Frau zur Hilfe eilen wolltet. Jedoch solltet ihr zuerst immer jemanden der Schutztruppe aufsuchen; es gibt mittlerweile in jeder Stadt und jedem Dorf ein Präsidium. Es ist unser Job, die Bürger zu schützen, deswegen nutzt diese großartige Möglichkeit. Wenn ihr niemanden von uns findet, dann sprecht doch wenigstens noch ein paar Erwachsene an.“

 

Takeru fand das es sehr merkwürdig, wie er mit ihnen sprach, als wären sie alle Kinder. Kioku war immerhin schon erwachsen und Eimi und Alayna würden es bald sein. Aber vielleicht musste Pecos das sagen, weil es zu seinem Job gehörte.

 

„Wie wird es jetzt weitergehen? Wie wird der Frau geholfen?“, fragte Eimi forsch.

 

„Wir kümmern uns darum“, sagte Pecos knapp. Doch bevor Eimi fragen konnte, was dies bedeute, öffnete sich die Tür und die Sekretärin lugte herein.

 

„Pecos, dein Termin ist hier“, sprach sie und winkte ihn heraus.

 

„Bitte wartet hier“, meinte Pecos und ging seiner Sekretärin hinterher. Er schloss die Tür nicht ganz und Tak konnte sehen, dass er jemandem in dunklen Klamotten die Hand schüttelte. Nebenan öffnete sich eine Tür und ging wieder zu.

 

„Das war es jetzt? Wir sitzen hier rum und warten, bis diese Leute die Frau retten?“, fragte Eimi entsetzt. Takeru sah ihm an, wie schuldig er sich fühlte.

 

„Was bleibt uns übrig?“, entgegnete Kioku und stand auf. „Wir haben keinerlei Anhaltspunkte, wo sie sie hingebracht haben konnten. Wenn Pecos sagt, dass sich die Schutztruppe darum kümmert, dann wird das wohl so sein. Sie sehen hier sehr organisiert aus.“

 

Eimi stand ebenfalls auf und sah sie entsetzt an. „Du willst sie einfach aufgeben?“

 

„Das habe ich nicht gesagt.“ Kiokus Blick wurde langsam ernster. „Uns wird doch geholfen, Eimi. Schau dich um, die haben in diesem Land eine riesige Organisation, die für den Schutz der Bürger zuständig ist.“

 

Alayna saß zwischen den beiden und wirkte plötzlich, als wäre ihr die Situation sehr unangenehm.

 

„Eimi, du hast dein Bestes gegeben, das haben wir alle. Es ist einfach in die Hose gegangen, aber das ist nicht schlimm! Wir können froh sein, dass wir uns auf diese Leute hier verlassen können.“

 

„Aber wenn ich nicht einmal so etwas schaffe, wie kann ich dann euch beschützen!?“ Er sackte auf einem Stuhl zusammen und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Seine Stimme klang auf einmal weinerlich. Jetzt hatte er es ausgesprochen, dachte sich Takeru. Er stand auf und legte seine Hand auf seine Schulter. Seine Schwester tat das gleiche.

 

„Wir sind alle füreinander da“, brachte sich Takeru auch ein und lud mit einem Nicken Kioku ein, sich wieder zu versöhnen.

 

„Ja, wir passen alle auf uns gemeinsam auf“, sagte Alayna.

 

„Wir danken dir, dass du dein Bestes gibst“, bedankte sich Kioku. Für einen kurzen Moment, als sie in diesem Raum waren und es um sie herum plötzlich ganz still wurde, spürten sie, dass diese negativen Gefühle, die gerade noch da gewesen waren, auf einmal durch etwas Großartiges ersetzt wurden. Sie sagten für eine Weile nichts. Erst, als Takeru im Raum nebenan Stimmen wahrnahm, die Pecos und eine andere sein mussten, wurde er neugierig. Er schlich zu der anderen Tür und drückte sein Ohr auf das dunkle Holz.

 

„Er redet gerade über die Entführung“, flüsterte er laut und winkte seine Freunde an die Tür. Kurz darauf pressten alle ihre Ohren an die Tür. Pecos sprach mit jemanden, der Kioku von der Stimme her irgendwie bekannt vorkam. Die Freunde hörten durch die dicke Holztür leider nur Brocken wie „Labor“, „Experimente“, „es verschwinden viele Personen“ und „noch keine Zusammenhänge feststellbar“. Es machte noch keinen wirklichen Sinn, was in diesem Gespräch erklärt wurde. Jedoch deuteten die Wortfetzen stark in eine Richtung.

 

 

 

„Pecos!“, hörten die Freunde eine Stimme von draußen und beim Versuch schnell von der Tür wegzukommen, stolperten die Freunde übereinander. Als sich Takeru aufrichtete, stand eine große schlanke Frau vor ihm, deren lange, rosafarbenen Haare glatt herunterfielen. Sie hatte einen dunklen magentafarbenen Hosenanzug an. Verurteilend schob sie ihre Brille auf der Nase hoch und verzog eine Augenbraue. Kurz darauf kam die Sekretärin hineingestürmt und sprach zu der Frau. „Senatorin Fusai, Pecos ist gerade noch in einer Einsatzbesprechung, die könnte noch eine Weile dauern. Einen Kaffee?“

 

Dann erkannte die Sekretärin, dass die Freunde gerade dabei waren, aufzustehen und schmunzelte dabei. Die Senatorin nickte ihr zu und saß sich dann auf einen der Stühle, die vor dem Schreibtisch standen.

 

„Ihr seid also hier“, sprach sie locker, als würde sie die Freunde kennen. Ihr Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig zu einem netten, freundlichen Lächeln. „Ich hätte niemals gedacht, dass Ginta so schöne Kinder hat. Ihr seht genauso aus wie eure Eltern.“

 

Sie schob sich noch einmal die Brille nach oben und lehnte sich dann vor. „Dann bist du also Eimi und du Kioku, richtig? Jumon hatte euch im Brief extra beschrieben, damit ich euch nicht verwechsle. Ich mein, war das unbedingt nötig? Denkt er, ich bin eine alte Schreckschraube und erkenne Gintas Kinder nicht, wenn sie vor mir stehen? Jumon hat euch bis aufs kleinste Detail genaustens beschrieben. Finde ich etwas übertrieben.“

 

Sie lachte einmal verzweifelt. Dann kam die Sekretärin erneut herein und brachte der Frau einen Kaffee.

 

Die Freunde wussten erst gar nicht so richtig, wie sie reagieren sollten. Die Frau nippte an ihrem heißen Kaffee und stellte die Tasse wieder auf den Schreibtisch.

 

„Es ist sehr unhöflich von mir, mich so vorzustellen. Ich bin Sayoko, eine alte Freundin eures Vaters. Ohne ihn wäre ich heute nicht hier, schätze ich“, stellte sie sich lächelnd vor.

 

„Dann kannst du uns helfen, wie es Jumon uns gesagt hat“, freute sich Takeru.

 

Sie trank wieder etwas von ihrem Kaffee, pustete aber vorher, um ihn etwas abzukühlen. „Richtig. Deswegen bin ich auch gleich hierher gekommen, um mit Pecos an einem Einsatzplan zu arbeiten. Ich glaube, dass hinter dem Verschwinden eures Vaters etwas Größeres steckt. Ich möchte verhindern, dass sich so etwas wie vor neunzehn Jahren wiederholt.“

 

Takeru sah seine Schwester an. Dank Jumon wussten sie endlich, was vor so vielen Jahren passiert war und was ihr Vater hatte verhindern können. Was meinte Sayoko damit, dass es sich wiederholen könnte? War ihr Vater verschwunden, damit sich diese Dinge wiederholen konnten? Plötzlich, als er sich darüber Gedanken machte, erkannte Takeru etwas Neues an seiner Schwester. Ihre türkisenen Augen leuchteten auf einmal. Die Angst und die Sorgen, die er vorher in ihren Augen gesehen hatte, wichen langsam einem merkwürdigen Leuchten. Gerade, als Takeru fragen wollte, was Sayokos Plan war, sprach Alayna.

 

„Wie genau stellst du dir das vor, Papa zu finden?“, fragte sie. „Was ist dein Plan? Was kann diese Schutztruppe überhaupt machen? Was ist diese Schutztruppe überhaupt genau?“

 

„Ich finde das hier alles auch ziemlich verwirrend“, meldete sich Eimi zu Wort. „Bei uns zu Hause gibt es so etwas wie eine Schutztruppe gar nicht.“

 

„Ich weiß, dass auf eurem Kontinent die Systeme einfach noch etwas veraltet sind. Ihr habt kleine Gruppen von Bürgerwehren in euren Städten und Dörfern, richtig? Aber eure juristischen Systeme sind sehr schwach. Nachdem ich Senatorin geworden bin und die Stadtstaaten Ruterions sich zu einem ruterischen Bund zusammenschlossen haben, erarbeiteten wir ein Sicherheitskonzept, was die gesamte Sicherheit Ruterions gewährleistet. Wir haben also diese staatlich überwachte Organisation der Schutztruppe entwickelt, die unser Inneres schützt. Außerdem führen wir immer noch neue Präsidien in verschiedenen Landkreisen ein, um den Schutz zu verbessern. Die Schutztruppe kümmert sich quasi um Verbrechen aller Art. Dabei sorgen wir auch für einen großen Informationsfluss. Kurzum bedeutet das, dass wir durch die Überwachung der verschiedenen Landkreise herausfinden können, wo sich euer Vater befinden könnte.“

 

„Also sitzen überall im Land Leute der Schutztruppe, die nach unserem Vater suchen werden?“, hakte Takeru nach. Er fand diese ganze Sache äußerst interessant. Diese Chance, die er plötzlich darin sah, seinen Vater viel schneller zu finden, machte ihn irgendwie glücklich.

 

„Richtig. Wir haben spezielle Investigationsabteilungen, die ich darauf ansetzen möchte, speziell nach Hinweisen zu eurem Vater zu suchen. Wir werden ihn finden.“

 

Als Sayoko das sagte, änderte sich ihr Gesichtsausdruck. Takeru hatte das Gefühl, dass vor ihm eine fürsorgliche Frau saß, die alles Erdenkliche dafür tun würde, ihren Vater zu finden. Dies hatte er auch bei Jumon gespürt. Sein Vater musste wirklich großartige Freunde gewonnen haben.

 

„Ich schlage vor, ihr kommt mit zu mir und wir sehen dann, wie es weitergeht. Ich kann die Einsatzbesprechung mit Pecos auch bei mir abhalten“, schlug sie vor und trank dabei ihren Kaffee aus. Sie stellte die Tasse auf den Tisch und ging nach draußen, um der Sekretärin mitzuteilen, dass Pecos sie doch in ihrem Anwesen treffen sollte. Sie winkte die Freunde heraus und zusammen verließen sie das Präsidium.

 

 

 

Nach einem Spaziergang durch Prûo kamen sie am Rand der Stadt zu einem großen Anwesen. Das Grundstück war mit feinen Mustern verzierten, hohen Stahlzäunen umrandet. Der Garten war parkähnlich angelegt. Mehrere Pfade führten einen an Gruppen von wunderschönen Bäumen vorbei zu einem großen Teich. Ein schmaler, gepflasterter Pfad führte die Freunde direkt zu dem großen Haus. Das Haus war strahlend weiß und hatte mehrere Stockwerke. Auf der einen Seite verbanden große Fenster die Etagen miteinander. Zwei große, schwere Flügeltüren öffneten sich, als die Freunde dem Eingang näher kamen. In der Tür stand eine Frau mit langen grünen Haaren, die sie locker zu einem Zopf zusammengebunden hatte. Ihr Pony fiel ihr ins Gesicht. Trotzdem konnte man ihre wunderschönen dunkelroten Augen erkennen. Unter ihrem rechten Auge hatte sie ein dunkelblaues Tattoo, das ein schmaler Balken war, der waagrecht bis zum Ohrläppchen führte. Sie war ungefähr so groß wie Eimi und wirkte sehr ruhig. Sie trug ein schwarzes Hemd und eine Hose aus Stoff.

 

„Sayoko“, sprach sie ruhig, „während du fort warst, wurden uns die Unterlagen für die Konferenz in Langoria Ite zugeschickt. Außerdem konnte ich die Dokumente für den Familienminister wegschicken. Es gab auch einen kleinen Zwischenfall im Labor, Tsuru …“

 

Die Frau konnte gar nicht fertig erzählen, da brach Sayoko aus wie ein Vulkan und schrie den Namen Tsuru durch die Eingangshalle, der durch ein Echo noch einen kurzen Moment durch die Räumlichkeiten hallte. Dann stürmte sie davon.

 

„Ich nehme an, die Herrschaften sind heute Gäste?“, begrüßte die Frau die Freunde, die für einen Moment lang perplex in der Eingangshalle stehen blieben. „Mein Name ist Aisah und ich bin die persönliche Assistentin von Senatorin Fusai.“

 

Sie reichte jedem die Hand und lud die Freunde ein, näher einzutreten. Die Eingangshalle hatte auf der Höhe des Erdgeschosses mehrere Türen, die in alle Richtungen abgingen. Eine große Treppe mit einem goldenen Geländer verzweigte sich und führte auf zwei Seiten in den ersten Stock. In der Mitte der Halle hing ein großer Kronleuchter und erhellte den Raum.

 

„Normalerweise ist bald das Abendessen geplant. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, führe ich Sie schon einmal in das Speisezimmer?“, sprach Aisah sehr höflich und hielt den Freunden eine Tür auf. Sie traten herein und staunten. Alayna war so schockiert, dass sie laut schreien musste. Es war nicht der große Esstisch mit den teuer wirkenden Stühlen, die wie zu einem Festessen einluden, sondern es war etwas, das am Ende des Tisches bereits auf einem Stuhl saß. Es war sicherlich drei Meter hoch und sah aus wie eine merkwürdige rosafarbene Mischung aus einem Bären und einem Hasen, das mit einem breiten Lächeln die Freunde angrinste.

 

„Ein Monster!“, schrie Alayna und wollte auf der Stelle kehrt machen. Doch Aisah hatte bereits die Tür geschlossen und verbeugte sich mehrmals entschuldigend.

 

„Kûosa bevorzugt es, nicht Monster genannt zu werden“, erklärte sie knapp. Kûosa stand auf und ging langsam den Freunden entgegen.

 

„Ist das Sayokos Haustier?“, wunderte sich Eimi. So etwas hatte er noch nie vorher in seinem Leben gesehen.

 

„Es ist weder ein Bär, noch ein Hase. Es ist irgendwie beides?“, wunderte sich Kioku, die nicht genau wusste, ob sie nun Angst haben oder einfach nur staunen sollte.

 

Takeru schluckte und steckte einmal die Hand nach Kûosa aus. „Erst Geister und jetzt das hier“, sprach er und Kûosa streckte ebenfalls seine große Tatze aus. Sie berührten sich und Takeru stellte fest, dass sein Fell sehr weich und warm war.

 

Alayna versteckte sich hinter Eimi und wusste nicht so recht, wie sie reagieren sollte. „Also bist du ein, ein … Kûosa“, vermutete sie, als wäre dies eine Bezeichnung und kein Name.

 

„Er heißt Kûosa“, sprach plötzlich eine neue Stimme, die durch die sich öffnende Tür hereinkam. Neben Sayoko, die wütend dreinblickte, befand sich eine junge Frau, deren ebenfalls grüne Haare sie zu zwei Dutts zusammengebunden hatte. Sie trug eine kurze Latzhose und ein einfarbiges Shirt mit Kragen. Die langen gelben Strümpfe endeten in knöchelhohen Stiefeln. Sie schob sich ihre Brille mit runden Gläsern etwas auf der Nase hoch und kratzte sich an der Stirn. „Ihr müsst keine Angst vor ihm haben, er ist wirklich lieb und hat keine bösen Absichten.“

 

„Verzeiht, dass ich euch darauf nicht vorbereitet hatte. Scheint wohl so, als hätte euch Jumon verschwiegen, was euch bei mir erwarten wird“, seufzte Sayoko und blickte dann auf die grünhaarige junge Frau. „Mit dir rupf ich später noch ein Hühnchen, Tsuru. Du weißt genau, wie ich zu deinen explosiven Experimenten im Labor stehe. Sei wenigstens so gut und hole unseren Gästen etwas zu trinken.“

 

„Klar“, sagte Tsuru knapp und ging wieder aus dem Raum. Aisah bat die Freunde mit einer Geste, sich an den Tisch zu setzen.

 

Beim Hinsetzen versuchte Alayna die möglichst größte Distanz zu Kûosa einzunehmen, der nicht aufhören konnte, sie mit einem breiten Grinsen anzulächeln. Tak setzte sich neben den Bären und Eimi neben Alayna und Kioku. Sayoko und Aisah nahmen nebeneinander Platz. Kurz darauf kam Tsuru wieder herein und stellte sich jedem persönlich noch einmal vor, als sie den Freunden jeweils eine Glasflasche mit Wasser brachte. Dann nahm auch sie Platz an dem Tisch.

 

„Jumon hat mir alles in seinem Brief erklärt“, fing Sayoko an zu erzählen. „Ihr habt ja einiges durchgemacht bisher. Das erinnert mich daran, was Tsuru und ich alles mit eurem Vater durchgemacht haben.“

 

„Du warst damals auch dabei?“, wunderte sich Takeru und sah Tsuru erwartungsvoll an.

 

„Ja“, gab sie zur Antwort und erklärte: „In meiner Kindheit wurde ich von der Organisation verfolgt, gegen die wir später auch ankämpften. Bei einem Fluchtversuch fiel ich eurem Vater und seinen Freunden in die Arme, die mich seither beschützten. Auch wenn es mir manchmal etwas zu viel Überwachung ist.“ Sie faltete ihre Hände und verneigte sich mit einer dankbaren Geste gegenüber Sayoko, streckte ihr am Ende jedoch die Zunge heraus.

 

„Du musst sehr jung gewesen sein“, stellte Alayna neugierig fest.

 

„Ja, jedoch musste man mich nicht wegen meines jungen Alters beschützen.“ Tsuru stand auf und schnappte sich einen Kerzenleuchter und eine Blume aus einer Vase.

 

„Halt!“, wollte Sayoko sie laut unterbrechen und stand ebenfalls auf. „Wir haben darüber gesprochen, Tsuru. Auch wenn sie Gintas Kinder sind.“ Sie machte eine Geste, als solle Tsuru die Gegenstände wieder zurücklegen. Die Freunde verstanden nicht, was das sollte.

 

„Erst recht, weil sie Gintas Kinder sind!“ Tsuru verteidigte sich ebenso laut. Takeru hatte das Gefühl, dass in den Stimmen der beiden gerade eine gewisse Traurigkeit herauszuhören war, die er noch nicht verstand. Bevor er dies jedoch hinterfragen konnte, blitzte ein grelles Licht auf, was die Freunde blendete. Als sie wieder klar sehen konnten, hielt Tsuru etwas in der Hand, was aussah wie eine Mischung aus Kerzenleuchter und Blume. Die vorherigen Gegenstände waren verschwunden. Ein erneutes Staunen fuhr durch die Freunde.

 

„Das ist also deine Fähigkeit“, murmelte Eimi. Takeru sprang begeistert auf.

 

„So cool! Wie hast du das gemacht!?“, wunderte er sich und nahm ihr den Kerzenleuchter aus der Hand. „Du hast diese zwei Gegenstände miteinander fusioniert!“

 

„Diese Kraft ist der Grund, wieso ich jahrelang verfolgt wurde“, erklärte Tsuru und setzte sich wieder hin.

 

„Wie gehst du jetzt damit um?“, fragte Kioku, die plötzlich eine Verbindung zu Tsuru spürte, da sie auch eine lange Zeit verfolgt worden war.

 

„Sehr gut“, strahlte Tsuru. „Dank Sayoko, die mich Tag und Nacht beschützt, kann ich jetzt meine Kreativität in meiner kleinen Spielzeug-Manufaktur ausleben. Ich designe und stelle Spielzeuge für Kinder und vor allem Waisenkinder her.“

 

„Für Waisenkinder?“, hakte Eimi nach, der plötzlich ganz hellhörig wurde.

 

„Sayoko leitet eine Stiftung, die Waisenkindern im ganzen Land hilft“, erklärte Tsuru. „Diese Stiftung sammelt Spenden von Gesellschaften, Firmen und der reichen Oberschicht und finanziert damit den Bau von Waisenhäusern, die Ausbildung von Erziehern und verstärkt Förderprogramme, sodass den Waisenkindern ein Schulabschluss und auch ein anschließender Einstieg ins Berufsleben ermöglicht wird. Unter anderem zahlt die Stiftung auch die Produktion von Spielzeug, welches ich herstelle und dann verschenken kann.“

 

Eimis Augen weiteten sich, er war begeistert. „Aber ich dachte, du wärst Senatorin in diesem Lande?“, wandte er sich an Sayoko.

 

„Neben der Arbeit als Politikerin setzt sie sich noch für Dinge wie diese Stiftung und auch andere kleine Projekte ein“, sagte Aisah ganz ruhig, als wäre sie stolz auf Sayoko.

 

„Das wäre ohne dich gar nicht möglich“, bedankte sich Sayoko und legte ihre Hand auf Aisahs. Dabei drehte Aisah schüchtern ihren Kopf beiseite. Alayna konnte erkennen, dass sie dabei errötete. Alaynas Blick zielte dann wieder auf Kûosa, der seinen breiten Körper in diesen verhältnismäßig winzigen Stuhl presste und sie immer noch angrinste. Nun hob er eine Tatze und winkte ihr vorsichtig zu.

 

„Was hat es denn jetzt mit diesem Kûosa auf sich?“, wunderte sich Alayna, die ihre Augen zusammenkniff und dabei den Kopf schräg hielt, als würde sie ihn dadurch besser verstehen können.

 

„Kûosa ist mein bester Freund und meine erste Fusion“, erklärte Tsuru knapp.

 

„Ich möchte mehr darüber erfahren!“, grinste Takeru.

 

„Ich möchte noch mehr über die Stiftung für die Waisenkinder wissen. Ich persönlich arbeite zu Hause in einem Waisenhaus“, wandte sich Eimi an Sayoko.

 

Während sich die Gespräche um die Stiftung, Tsurus und Sayokos Vergangenheit und die aktuelle Arbeit der beiden drehte, wurde eine kurze Weile darauf das Essen von einem Koch serviert, der in der Küche arbeitete. Sayoko beschrieb nicht nur, wie die Arbeitsgruppen der Stiftung funktionierten, sie erklärte den Freunden auch, wie wichtig es wäre, ein stabiles politisches System in einem Land aufzubauen, um die Stabilität einer Gesellschaft aufrecht zu erhalten. Tsuru erzählte von den Abenteuern, die sie mit Ginta, Sayoko und den anderen erlebten hatten und erklärte, wie ihre Arbeit so ablief.  So verging einige Zeit, bis das Abendessen abgeschlossen wurde.

 

Kapitel 27 – Der Einsatz

 

 

 

Das Essen war köstlich. Als Vorspeise wurde ein bunter Salat gereicht, der mit einem Dressing so abgestimmt war, dass die Bestandteile perfekt zusammenpassten. Als Hauptspeise gab es gebratenes Gemüse mit Tofu und Bratlingen. Als dann die Nachspeise serviert wurde, konnte Alayna schon nicht mehr und schob ihren Pudding Takeru zu, der über beide Ohren grinsend die Extraportion innerhalb weniger Sekunden verschlang.

 

Bei der teuer wirkenden Einrichtung des Speiseraumes musste Eimi unweigerlich an zu Hause denken. Seine Mutter hatte auch immer sehr gern das Geld ihres Vaters ausgegeben, um besondere Möbelstücke zu kaufen, die sie manchmal aber gar nicht brauchten. Eimis Vater, der ebenfalls politisch aktiv war, zählte zu den wohlhabenderen Männern in Hakata. Aber wo setzte sich seine Familie für etwas Gutes ein? Sein Blick schweifte zu Sayoko, von der er gerade erfahren hatte, dass sie nicht nur das komplette politische System auf Ruterion umgekrempelt hatte, sondern auch nebenher eine Stiftung führte, die sich für Waisenkinder einsetzte. Sie strich sich gerade eine Haarsträhne hinter ihr Ohr, da entdeckte er ein paar graue Haare.

 

Obwohl sein erster Eindruck von Sayoko war, dass sie eine alte, griesgrämige Frau war, merkte er doch, wie herzlich sie eigentlich war. Das lag nicht daran, dass sie besonders lieb mit ihm sprach, sondern eher einerseits daran, was sie alles für andere Menschen tat und andererseits sah er es in ihren Augen. Er erkannte es in Momenten, als sie mit Aisah und mit Tsuru sprach und merkte, dass sie Liebe für diese Menschen empfand.

 

Man könnte so viel mehr tun, dachte sich Eimi und betrachtete weiterhin diese starke Frau. Er sah ein, dass er einen wichtigen Job im Waisenhaus machte, aber er wünschte sich, dass er noch so viel mehr machen könnte. Wenn Alaynas und Takerus Vater gefunden war und sie wieder zu ihren normalen Leben zurückkehrten, wollte Eimi genau das tun, was Sayoko tat. Sich für Menschen einsetzen.

 

Während des Essens sprach er nicht viel. Seine Gedanken drehten sich um die Arbeit Sayokos. Ab und an schossen ihm dann Bilder der Entführung ins Gedächtnis. Der leidende, schreiende Blick der Frau, das überhebliche Lachen dieses Typen und vor allem die Enttäuschung, als die Kutsche in der Ferne verschwand, brachten ihn durcheinander. Er hatte wirklich das Gefühl gehabt, etwas tun und helfen zu müssen. Das Einzige, was noch schlimmer war, war der Anblick, als Kioku und Tak am Boden lagen, besiegt, aber zum Glück kaum verletzt. Kaum verletzt? Es glich einem Wunder, dass nach so einer Auseinandersetzung nichts passiert war. Eimi war sich sicher, würden sie das nächste Mal auf diese Organisation treffen, würde jemandem sehr wehgetan werden. Für einen kurzen Moment ballte er unbemerkt seine Faust, ignorierte dabei, dass er eine Serviette in der Hand hielt und stieß dabei fast sein Besteck vom Tisch. Dann konzentrierte er sich wieder. Das nächste Mal würde er seine Freunde beschützen können, das schwor er sich.

 

 

 

Eine Weile später – das Essen war schon abgeräumt und Sayoko hatte die Freunde noch etwas herumgeführt – brachte Tsuru die Freunde zu ihrem Gästezimmer, das mehrere Schlafzimmer beinhaltete. Die Freunde traten herein und standen in einem großen Wohnzimmer. In der Mitte des Raumes befand sich eine Gruppe von Sofas, die um einen kleinen Glastisch standen. Ein kleiner Kronleuchter beleuchtete das Zimmer, das sonst mit Regalen voller Bücher dekoriert war. Hier und da standen merkwürdige Kunstfiguren, die halb aus Metall und halb aus anderem Material wie Papier, Stoff oder Holz bestanden.

 

„Das ist unser Gästebereich“, sprach Tsuru und zeigte mit ihrem Finger auf die drei Türen, die der Raum hatte. „Es gibt zwei verschiedene Schlafzimmer und ein großes Badezimmer.“ Bevor sie weiter erklären konnte, wurde sie durch Kûosa unterbrochen, der sie von hinten anstupste. Der Hasenbär war in der Tür steckengeblieben. Da er zu groß war, um auf zwei Beinen hindurchzulaufen, ging er auf allen Vieren. Jedoch war sein Hintern so breit, dass er kaum durchkam.

 

„Ach, Kûosa!“, ärgerte sich Tsuru vorwurfsvoll. „Wie oft haben wir darüber gesprochen, dass du einfach Diät machen sollst!“ Sie zerrte an einem seiner Arme und stützte ihren Fuß dabei am Türrahmen ab.

 

„Sollte er nicht lieber draußen bleiben, wenn er schon nicht hineinkommt?“, schlug Alayna vor, die beim Gedanken, dass Kûosa neben ihrem Bett stehen könnte, einen eiskalten Schauer bekam.

 

„Ja, stimmt“, bemerkte Tsuru und kratzte sich am Kopf. Dann presste sie sich mit voller Kraft gegen den Bären, doch er bewegte sich kaum einen Zentimeter. „Könnt ihr mal helfen?“

 

Tak und Eimi pressten sich auch gegen den Bären und bemerkten, dass sein Fell extrem weich war, wie das eines Kuscheltieres. Dann schafften sie es, Kûosa aus dem Türrahmen zu befreien.

 

„Es tut mir leid“, sprach sie und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Du bist zu fett, du musst draußen warten.“

 

Kûosas Grinsen verschwand augenblicklich und seine Augen füllten sich mit Tränen; ein sehr leises Wimmern war zu hören.

 

„Ich weiß, dass du nichts verpassen willst!“, fluchte Tsuru. „Die Tür bleibt doch offen, also beschwer dich jetzt nicht!“

 

Kûosa nickte, wischte sich eine Träne vom Gesicht und winkte Alayna wie zum Abschied zu.

 

Die Freunde setzten sich auf die Sofas.

 

„Pecos wird später kommen und mit Sayoko einen Einsatzplan erarbeiten, wie sie euren Vater finden“, erklärte Tsuru und goss sich aus einer Flasche Wasser in ein Glas.

 

„Sollten wir da nicht dabei sein?“, fragte Takeru in der Hoffnung, an der Besprechung teilnehmen zu können.

 

Tsuru schüttelte den Kopf. „Da muss ich euch enttäuschen. Pecos und Sayoko wissen schon alles über die Situation, hat sie mir erklärt. Außerdem mag Pecos es gar nicht, wenn man sich in seine Arbeit einmischt. Nur Sayoko lässt er gerne mitreden.“

 

„Was ist das eigentlich für ein Kerl?“, wunderte sich Kioku. „Ich kann noch nicht sagen, ob er einen vertrauenswürdigen Eindruck bei mir hinterlassen hat.“

 

„Bei mir ebenfalls“, brachte sich Eimi ein. „Hilft er uns wirklich? Vorhin hat er uns behandelt, als wären wir Kinder.“

 

„Ihr seid ja auch Kinder. Halt außer du, Kioku, du bist schon älter, richtig?“, hakte Tsuru nach, um keinen Fehler zu begehen.

 

„Ich weiß leider nicht genau, wie alt ich bin. Eigentlich weiß ich gar nicht wirklich, wer ich bin“, erklärte sie. Dann blickte sie traurig zu Boden.

 

„Wie meinst du das, dass du das nicht weißt?“, hakte Tsuru neugierig nach.

 

„Ich bin eines Morgens aufgewacht und wusste nicht mehr, wer ich war. Ich habe alles vergessen. Seitdem bin ich auf der Suche nach Antworten auf diese Frage“, erzählte Kioku ruhig.

 

„Das tut mir schrecklich leid. Vielleicht kann Pecos auch da helfen? So, wie er mir einmal geholfen hat“, meinte Tsuru und blickte einmal raus zu Kûosa, der sich vor die Tür gelegt hatte und mit dem Kopf hereinlugte. „Als ich acht Jahre alt war, bin ich von zu Hause weggelaufen, nachdem ich erfahren hatte, dass meine Eltern mich weggeben wollten. Es dauerte nicht lange, da wurde ich von den Shal verfolgt; das war die Organisation, die die Welt vor neunzehn Jahren zerstören wollte. Sie hatten es auf meine Fusionsfähigkeiten abgesehen.“

 

Tsuru machte eine kurze Pause. Die Freunde betrachteten sie gespannt.

 

„Ich konnte beschützt werden, dank eurem Vater, Sayoko und den anderen. Ich war viel zu jung damals, um zu verstehen, was wirklich passierte. Rückblickend kann ich euch auch nicht erklären, was für ein Gedanke, was für eine Kraft mich dazu brachte, eurem Vater zu folgen. Es war eine aufregende und gefährliche Zeit und wir konnten die Zerstörung der Welt verhindern. Nachdem das Weltgeschehen sich wieder normalisiert hatte, fragte Sayoko, ob ich nicht bei ihr leben wollte. Sie ist wie eine Mutter für mich.“

 

Alayna und Takeru mussten unweigerlich an ihre Mutter denken. Ob es ihr gerade gut ging? Sie hatten jetzt schon länger nichts mehr von ihr gehört. Sie konnten gerade nur darauf vertrauen, dass Ryoma sie beschützte.

 

„So verging einige Zeit und wie das so ist, wenn man heranwächst, hinterfragt man Dinge. Sayoko hatte es mir ziemlich lange verwehrt, aber als ich dann volljährig wurde, brachte ich sie dazu, mir zu helfen. Ich wollte wissen, was aus meinen richtigen Eltern geworden war. Hier kam Pecos ins Spiel. Er hatte schon sehr früh eine hohe Position bei der Schutztruppe eingenommen und war damals für Investigation zuständig. Wir haben ihn gebeten, mehr über meine Eltern herauszufinden.“

 

„Was war passiert?“, fragte Takeru neugierig. „Haben deine Eltern nie versucht, dich ausfindig zu machen?“

 

Tsuru schüttelte den Kopf. Für einen Moment merkte man, wie traurig sie über diese Sache war.

 

„Sie haben mich komplett aus ihrem Leben ausradiert. Alles entfernt und entsorgt, was mit mir zu tun hatte, als hätte es mich nie gegeben. Pecos sah in ihren Augen, dass sie wussten, wer ich war, so beschrieb er es mir. Aber sie bestritten immer und immer wieder, meine Eltern zu sein.“

 

„Und weiter?“, hakte Alayna nach. Sie war richtig gespannt, wie diese Geschichte weiterging.

 

„Er forschte weiter. Irgendetwas an dieser Geschichte kam ihm merkwürdig vor. Es dauerte etwas, dann fand er etwas heraus. Meine Herkunft hat irgendetwas mit diesem Labor zu tun, zu dem die Frau, die entführt wurde, wahrscheinlich hingebracht wurde.“

 

„Mit diesem Labor?“, wunderte sich Eimi. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Tsurus Herkunft etwas damit zu tun haben sollte.

 

„Seitdem er weiß, dass ich Bezüge dazu hab, arbeitet er Tag und Nacht, um Hinweise zu sammeln und um dahinter zu kommen, wo dieses Labor ist. Um eure Frage zu beantworten,“ sie hielt kurz inne, „ihr könnt Pecos wirklich vertrauen. Er ist ein ausdauernder, fleißiger und hilfsbereiter Kerl.“

 

So wie Tsuru über ihn sprach, hatte Kioku das Gefühl, dass nicht nur Dankbarkeit aus ihr sprach.

 

„Vertraut ihm, er wird helfen“, bat Tsuru und stand auf. „Es ist spät und ihr seid sicherlich erschöpft nach so einem langen Tag. Ich wünsch euch eine gute Nacht.“

 

„Gute Nacht“, sagten Alayna und Takeru fast gleichzeitig. Tsuru verließ den Raum, streichelte Kûosas Kopf, der ihr dann langsam hinterher trottete. Auch er machte plötzlich einen traurigen Eindruck. Die Freunde saßen noch eine Weile an dem Tisch und ließen die Geschichte etwas auf sich wirken.

 

 

 

Später, als sich alle zu Bett gelegt hatten, konnte Eimi nicht wirklich schlafen. Die Ereignisse und Geschichten des Tages verfolgten ihn in seinen Gedanken. Er stand auf und suchte die Küche für einen mitternächtlichen Snack. Wie konnte es sein, dass die Schutztruppe über das Labor schon so viele Informationen hatte, aber noch nicht hatte herausfinden können, wo es war? Wenn er so darüber nachdachte, hatte Eimi ein merkwürdiges Gefühl in der Magengegend. Etwas kam ihm dabei nicht richtig vor. Nur konnte er noch nicht ganz einschätzen, was das genau war.

 

Leise ging er durch die hohen Gänge des Hauses. Es brannte kein Licht; nur das Mondlicht fiel durch die Fenster in die Räume. Der Teppich, auf dem Eimi barfüßig ging, war samtig weich. Sein Bauch grummelte und er lief einen Schritt schneller. Im Erdgeschoss angekommen, sah er im westlichen Gang jemanden neben einem belichteten Raum sitzen. Bei näherem Betrachten erkannte er Tsuru, die an der Wand neben der angelehnten Küchentür saß. Als sie Eimi entdeckte, warnte sie Eimi, leise zu sein, in dem sie ihren Zeigefinger an ihren Mund hielt.

 

„Sie besprechen gerade den Einsatz“, flüsterte Tsuru, als sich Eimi an die andere Seite des Eingangs setzte. Nachdem sie das gesagt hatte, erkannte Eimi die Personen, die in der Küche waren und diskutierten. Er machte auf jeden Fall Sayoko und Pecos aus. Außerdem waren da drei Stimmen, die er vorher noch nie gehört hatte. Eimi saß genau so, dass er perfekt durch den Spalt der Tür hindurchblicken konnte. Er entdeckte neben Pecos einen Mann mit Kinnbart, dessen kinnlange Haare strubbelig in sein Gesicht fielen. Er trug ein Hemd und Hosenträger und drückte gerade eine Zigarette in einem Aschenbecher aus. Neben diesem Mann saß ein anderer Mann, der lange und glatte Haare hatte, die er sich ab und an hinter sein Ohr strich. Er war sehr schlank und trug einen Mantel aus einem dunkelgrünen Stoff. Ein weiterer Mann saß neben Sayoko, mit dem Rücken zur Tür. Von ihm konnte Eimi nur erkennen, dass er eine dunkle Hautfarbe hatte und lange Rastalocken, die an seinem Rücken hinabfielen.

 

„Danke, dass ihr uns bei dieser Angelegenheit helft“, sprach Sayoko. Eimi musste genau hinhören, um das Gespräch gut zu verstehen. „Du möchtest die Kinder nicht sehen?“

 

„Sie werden wieder Fragen zu ihrer Mutter stellen“, sprach der Mann mit den Rastalocken. „Ich habe keine Zeit für diese Unterhaltungen.“

 

„Sie haben ein Recht darauf, mehr zu erfahren, Ryoma“, forderte Sayoko.

 

„Natürlich haben sie das. Aber was meinst du, wird passieren, wenn sie erfahren, was wirklich mit ihrer Mutter los ist? Sie werden mit noch mehr Gefahren in Berührung kommen. Uns ist es recht, wenn sie nach Ginta suchen. Sie sind da nämlich genauso weit wie wir und irgendjemand muss ihn finden. Bald. Es ist in Ordnung, wenn sie es sind.“

 

Sayoko sagte daraufhin nichts mehr.

 

„Zurück zum Einsatz“, warf Pecos ein, um das Gespräch wieder in die richtige Richtung zu bringen. „Danke auch von meiner Seite, dass ihr uns helft. Ich habe Gründe zur Annahme, dass Schichten in der Schutztruppe korrupt sind und schon seit einiger Zeit unsere Investigation verzögern. Ich habe meine zwei besten Männer losgeschickt und konnte endlich mehr über den Ort des Labors herausfinden.“

 

„Du kannst das ruhig uns überlassen“, sprach der Mann mit dem Mantel.

 

„Wie sieht der Einsatz aus?“, fragte der Mann im Hemd nach, als er sich eine weitere Zigarette anzündete.

 

„Vor der Tür sind fünf Männer mit Spezialausrüstung. Diese Männer wurden persönlich von mir ausgewählt, um bei dem Einsatz dabei zu sein. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich das Labor dort befindet, wo wir es vermuten, ist sehr hoch. Deswegen wird unbemerkt eingebrochen. Wir schalten Wachposten lahm, finden die Zentrale und sobald das Labor unter unserer Kontrolle ist, werden dann erst die Gefangenen befreit.“

 

„Die Daten und Untersuchungsberichte werden anschließend gesammelt und geteilt, oder?“

 

„Richtig, Niku“, antwortete Pecos Niku, der eine große Rauchwolke aus seinem Mund blies. „Die Daten werden natürlich mit euch geteilt.“

 

„Priorität sind die Gefangenen. Sobald sie mitbekommen, dass sie befreit werden, werden sich die Labormitarbeiter sicherlich nicht zurückhalten. Es darf keiner sterben.“

 

„Dann geht es los, oder?“, lachte der Mann mit dem Mantel.

 

„Du bist heute gut gelaunt, Yuu“, sprach Ryoma.

 

„Klar, wenn es darum geht, Menschen zu befreien, bin ich immer gut gelaunt.“

 

Die Männer standen auf. Sayoko sagte noch etwas, aber da konnte sich Eimi gar nicht mehr konzentrieren.

 

„Ich geh mit“, flüsterte Tsuru und stand auf. Sie ging in die Richtung, aus der Eimi gekommen war.

 

„Halt!“, wollte Eimi sie aufhalten. Er stand auf und lief ihr hinterher. Sie lief schnurstracks in Richtung ihres Zimmers. „Was heißt, du gehst mit?“

 

„Ich will es wissen, Eimi, ich will, wissen woher ich komme. Ich folge ihnen unauffällig und schleiche in das Labor“, erklärte sie in ihrem Zimmer, während sie sich Schuhe anzog.

 

„Spinnst du!? Das ist viel zu gefährlich! Du hast keine Ahnung, was dort passieren wird!“, versuchte Eimi sie zu überzeugen.

 

„Ja. Ich weiß das alles. Ich bin bereit. Pecos hat so lange für mich nach Antworten gesucht. Ich will sie endlich haben.“

 

„Ich habe versucht, mich gegen diese Leute zu wehren! Du wirst keine Chance haben!“, warf Eimi ihr vor. Da hielt sie plötzlich inne und kam auf ihn zu getrampelt. Sie stach ihn mit ihrem Zeigefinger immer wieder in die Brust, sodass er langsam zur Wand gedrängt wurde.

 

„Ich lasse mir diese Chance nicht entgehen! Du wirst mich daran nicht hindern können!“, erklärte sich Tsuru laut. Sie war so in Rage, dass sie ihre Lautstärke nicht mehr kontrollieren konnte. Aus dem Nebenzimmer kam Kûosa, der sich müde die Augen rieb.

 

„Ich kann das nicht zulassen, dass ich noch eine Person in Gefahr bringe“, versuchte sich Eimi zu verteidigen. Er wusste nicht mehr genau, was er tun sollte. Einerseits konnte er es nicht zulassen, jemanden in Gefahr zu bringen, wenn es doch schon Hilfe von der Schutztruppe gab, das sah er jetzt ein. Aber er konnte auf der anderen Seite auch Tsuru verstehen, die nach so langem Warten endlich eine Antwort auf ihre Fragen haben wollte. Sie wollte nur wissen, wer sie war. Hatte er nicht auch Kioku versprochen, ihr bei dieser Frage zu helfen?

 

„Dann bleibt dir wohl nichts anderes übrig, als dass du mitkommst“, seufzte Tsuru, „und du auch.“

 

Kûosa schien noch gar nicht wirklich zu verstehen, was passierte, aber er nickte. Die zwei mussten ein sehr inniges Verhältnis zueinander haben.

 

„Hol deine Sachen, wir treffen uns in fünf Minuten vor dem Hintereingang“, forderte Tsuru und schickte Eimi nach draußen.

 

 

 

Leise, ohne ein Geräusch zu machen, öffnete Eimi die Tür zum Zimmer. Tsurus Worte und ihre Entschlossenheit hatten sich in seine Gedanken eingebrannt. Er sah endlich ein, dass man manchmal darauf angewiesen war, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Es schien, als hätte Tsuru jahrelang Hilfe von anderen erhalten und da wunderte es ihn nicht, dass sie sich einmal selbst helfen wollte. Die Stimme in ihm, die ihn die letzten Stunden vorgeworfen hatte, dass er die Frau nicht hatte retten können, meldete sich nun wieder und freute sich, dass er seine Schuld an dieser Frau endlich begleichen konnte. Dank Tsuru konnte er endlich das tun, was er die ganze Zeit schon hatte tun wollen. Aber was, wenn er verletzt werden würde und er dadurch Alayna und Takeru nicht mehr beschützen konnte? Nein, das würde nicht passieren. Pecos und die Männer würden im Labor sein und dann müsste er sich keine Sorgen mehr machen, richtig?

 

So leise, wie es nur ging, zog er sich eine Hose und Schuhe an, schnappte sich seinen Poncho und das Schwert und schlich aus dem Zimmer. Er musste darauf achten, dass seine Schritte nicht so laut auf dem Holzboden knarzten. Vorsichtig schloss er die Tür hinter sich und ging hinunter ins Erdgeschoss und auf direktem Wege zum Hintereingang.

 

Gerade, als er die Hand ausstreckte, um die Tür zu öffnen, berührte ihn jemand an der Schulter. Eimi versuchte, sich nicht zu erschrecken, zuckte jedoch hoch.

 

„Du willst doch nicht ohne uns gehen?“, warf Takeru ihm vor, wissend, was Eimi vorhatte. Takeru stand in T‑Shirt und Unterhose hinter ihm und trug seine restlichen Sachen im Arm. Hinter ihm stand Kioku und Eimi konnte erkennen, dass Alayna verschlafen den Gang entlang schlenderte.

 

„Wir gehören zusammen“, sprach Kioku. „Du kannst dich auf uns verlassen.“

 

Im ersten Augenblick war Eimi richtig sauer auf sich selbst, weil er nicht leise genug gewesen war. Dann war er sauer, dass er Tsuru hatte aufhalten wollen und mit in diese Sache hineingezogen worden war. Dann war da jedoch noch dieser eine Funken von einem wohligen, warmen Gefühl, der ihn wissen ließ, dass er auf seine Freunde immer zählen konnte. Es erforderte Mut, seine Freunde zu beschützen, aber noch mehr Mut, sie in diese ganze Sache mit hineinzuziehen. Wenn sie so vor ihm standen, selbstbewusst mit dem Gedanken, was auf sie zukommen würde, war auch Eimi etwas mutiger.

 

„Es ist viel zu gefährlich“, sprach Eimi und versuchte sie aufzuhalten, obwohl er wusste, dass er an der Situation nichts ändern konnte. „Sie haben uns nicht einmal versucht zu verletzen, weil wir so schwach sind. Das wird bei der nächsten Begegnung anders sein.“

 

„Wenn wir zusammenhalten, kann nichts passieren“, grinste Takeru und schlüpfte in seine Klamotten.

 

„Es wird wehtun“, meinte Eimi und sah besorgt zu Alayna.

 

„Es tut mehr weh, nicht zu wissen, wo du bist“, antwortete sie und für einen Moment hatte auch er richtige Angst davor, nicht zu wissen, wo sich Alayna befand.

 

„Die Schutztruppe hat einen Einsatz. Wir werden ihnen hinterherschleichen und …“, bevor er zu Ende gesprochen hatte, öffnete sich die Tür und Tsuru lugte hinein.

 

„Wo bleibst du?“, warf sie Eimi vor und riss die Augen auf, als alle vier vor ihr standen. „Na so was.“

 

„Entschuldige“, meinte Eimi und kratzte sich am Kopf. „Sie ließen sich nicht aufhalten.“

 

„Das macht die ganze Sache schwieriger, aber nicht unmöglich. So oder so, wir haben keine Zeit, darüber zu diskutieren, sie sind gerade losgegangen, wir müssen schnell hinterher, um nicht den Anschluss zu verlieren!“, forderte Tsuru und ging mit Kûosa los.

 

Takeru zuckte mit den Schultern und lief ihr gleich hinterher. Alayna folgte ihrem Bruder.

 

Kioku hielt noch einen Moment inne und flüsterte Eimi etwas ins Ohr: „Mach dir keine Sorgen, Eimi. Diesmal wissen wir, was auf uns zukommt. Wir sind gewappnet.“

 

„Wir sind gewappnet“, wiederholte er leise für sich und folgte Kioku nach draußen. So schlichen sie möglichst lautlos Pecos Gruppe durch die Dunkelheit der Nacht hinterher. Was die Freunde nicht bemerkten war, dass auch sie leise und unbemerkt von jemandem verfolgt wurden.

 

 

 

 

 

Kapitel 28 – Das Labor

 

 

 

Ein lautes Knarzen signalisierte, dass die Kutsche über eine Wurzel oder Ähnliches gefahren sein musste. Diese kleine Ablenkung und die Erschütterung reichten aus, dass die Person, die sich auf dem Dach dieser Kutsche festklammerte, abrutschte und abstürzte. Bevor die Person richtig reagieren konnte, wurde ihr Körper gegen einen Baum geschleudert und stieß sich dabei mit einem lauten Geräusch den Kopf und den Rücken. Der bewusstlose Körper rutschte daraufhin in Richtung Boden und landete anschließend in einem Busch.

 

 

 

Ein lautes Geräusch weckte die Person auf. Große Luftblasen schwebten vor ihren Augen nach oben. Ihr Sichtfeld war sehr unscharf und orangenes Licht blendete sie. Direkt vor ihren Augen befand sich ein merkwürdiger Schlauch, der, wie sie nach vorsichtigem Ertasten erspürte, in ihren Mund überging. Es musste sich um etwas handeln, das beim Atmen half. Bei dem Versuch sich zu bewegen, bemerkte die Person, dass sie in einer merkwürdigen Flüssigkeit gefangen war. Panisch riss sie ihre Arme nach vorn und stieß dabei auf Glas. Völlig desorientiert versuchte sie, sich umzublicken und irgendetwas zu entdecken, was ihr helfen könnte, sich zu befreien. Jedoch war dieser Versuch sinnlos. Panik überkam die Person und der Körper verkrampfte bei weiteren Versuchen, sich mit Kraft zu befreien.

 

Eine Silhouette tauchte vor dem Glas auf. Es war nicht zu erkennen, um welche Person es sich handelte. Die im Glas eingesperrte Person erkannte nur, dass die Silhouette etwas Rechteckiges, wie ein Klemmbrett, in der Hand hielt. Vielleicht konnte dieser Mensch helfen freizukommen, also klopfte die gefangene Person an die Glasscheibe. Die Bewegungen waren langsam und das Geräusch, das sich gut durch die Flüssigkeit transportieren ließ, klang träge und unbedeutend. Der Mensch vor dem Glas reagierte jedoch nicht auf diesen Hilferuf.

 

Auf einmal hörte die Person ein mechanisches Klacken und Schalten. Bevor sie aber herausfinden konnte, woher dieses Geräusch stammte, fühlte sie einen stechenden Schmerz im Rücken. Ihre Bewegungsmöglichkeiten waren so eingeschränkt, dass sie auch nicht überprüfen konnte, was diesen Schmerz verursachte. Mit aller Kraft hielt sich die Person bei Bewusstsein. Dies dauerte jedoch nur wenige Augenblicke und bevor sie in einen bewusstlosen Zustand glitt, nahm sie noch Worte wahr, die von der Silhouette stammen mussten: „Bald kann sie geboren werden.“

 

 

 

Als Ea wieder aufwachte, erkannte er, dass er nicht nur wieder in seinem Männerkörper steckte, sondern auch noch quer in einem Busch lag. Sein Kopf brummte und als er sich an die Stirn fasste, ertastete er getrocknetes Blut. Die Worte der Person im Traum hallten dumpf in seinem Kopf wieder: „Bald kann sie geboren werden.

 

„Schon wieder dieser Traum“, sprach Ea mit sich selbst, als er sich aus dem Busch befreite. „Tja, das war es dann wohl, wieder ins Labor zu kommen. Diesen Arschlöchern hätte ich gern die ganze Arbeit vermasselt.“

 

Er rappelte sich auf und klopfte sich den Dreck von den Klamotten. Dabei entfernte er noch einige Zweige und Blätter aus seinen Ärmeln und seinem zerzausten Haar. Dann schlenderte er mit einem Brummschädel durch den Wald. Die Dämmerung war schon fast vorüber und die Kälte des Abends schob kleine Nebelschwaden über den Boden des Waldes.

 

„Jetzt habe ich endlich einmal jemanden gefunden, der im Labor arbeitet und hab dann wieder so ein Pech. Aber vielleicht finde ich das Labor auch einfach so. Ach, wäre Laan doch nur hier, er wüsste, wohin es geht.“

 

Als er sich auf dem Waldpfad befand, entdeckte Ea kurze Zeit darauf leichte Hufabdrücke und Kutschenspuren und folgte diesen für einige Zeit. Leider dauerte es nicht lange, da verloren sich die Spuren wieder und Ea kam an eine Gabelung des Weges. Wie sehr er auch versuchte, die Spuren zu lesen, gelang ihm es leider nicht herauszufinden, wohin die Kutsche gefahren war.

 

„So ein Mist“, murmelte er vor sich hin und drehte ein paar Kreise auf der Stelle. Direkt vor ihm befand sich ein relativ großer Baum mit buckeliger Rinde. „Dann bleibt mir wohl nichts anders übrig.“

 

Er streckte seine Hände aus, sein Gesichtsausdruck wirkte dabei sehr konzentriert. Auf einmal fuhr ein merkwürdiges Zucken durch seine Finger und seine Haut veränderte sich. Sie verwandelte sich langsam und es wirkte so als trüge Ea Handschuhe aus massiven Stein. Er rammte die spitzen, steinigen Finger in den Stamm des Baumes und zog sich mit Muskelkraft nach oben. So kletterte er fast bist auf die Spitze des Baumes, um einen Überblick über den Wald zu erhaschen. Dabei entdeckte er ein Haus, das er erreichen könnte, falls er dem rechten Pfad folgen würde. Er konnte sich nicht mehr ganz daran erinnern, ob dieses Gebäude das Labor sein konnte, aber es würde nicht schaden, einmal nachzusehen. Vor allem, weil sich sein Magen gerade lautstark bemerkbar machte, wollte er noch viel flotter zu diesem Haus gelangen. Hungrig suchte es sich nicht leicht nach einem Labor.

 

So sprang er von Baum zu Baum, hangelte sich dabei an Ästen entlang, um sich etwas schneller fortzubewegen.  

 

Es dauerte nicht lange, da kam er an der Rückseite des Hauses an. Ea hielt kurz inne, als er dort einige Menschen stehen sah.

 

„Entschuldige“, sprach ein Junge mit blonden Haaren. „Sie ließen sich nicht aufhalten.“

 

„Diese Kinder schon wieder“, dachte sich Ea und betrachtete neugierig das Geschehen.

 

„Das macht die ganze Sache schwieriger, aber nicht unmöglich. So oder so, wir haben keine Zeit, darüber zu diskutieren, sie sind gerade losgegangen, wir müssen schnell hinterher, um nicht den Anschluss zu verlieren!“, forderte eine junge Frau mit Brille. Anscheinend war der riesige Bär, der komischerweise Hasenohren trug, ihr Freund, denn in ihrer Nähe wirkte dieses Monster ziemlich zahm. So etwas hatte Ea noch nie gesehen. Die Neugier an der Sache ließ ihn seinen Hunger vergessen. Das konnte ja noch richtig aufregend werden, dachte er sich. Der kleine Knirps mit den schwarzen Haaren und das Mädchen mit den weißen Haaren folgten der Frau mit der Brille. Nur eine andere Frau mit schwarzen Haaren flüsterte dem blonden Jungen noch etwas ins Ohr, dann folgten sie der Gruppe. Auch Ea nahm leise die Verfolgung auf.

 

 

 

Als die Freunde unbemerkt durch den Wald gingen, um Pecos Gruppe zu verfolgen, führte Tsuru die Gruppe an. Erst mit etwas Abstand – Tsuru wollte um keinen Preis bemerkt werden – folgten dann die anderen. Kûosa bildete das Schlusslicht und bemerkte dabei nicht, wie er verfolgt wurde.

 

Es war sehr finster im Wald und das Schweigen der Gruppe machte diese Finsternis noch viel unheimlicher. Während Tak immer darauf achten musste, nicht über irgendwelche Wurzeln zu stolpern, lief Alayna nah neben Eimi und Kioku, um sich etwas sicherer zu fühlen. Der Weg führte sie über viele Abzweigungen, Hügel und ausgetrocknete Flussbetten tief in den Wald. Alayna konnte nicht mehr sagen, wo sie genau waren oder wie viel Zeit vergangen war. Die tiefe Finsternis der Nacht sog alle Wahrnehmungen und Gefühle einfach aus ihr heraus. Sie wünschte, dass sie bald ankommen würden.

 

Sie sah immer wieder zu Eimi und bemerkte, wie angespannt er war. Die ganze Sache mit der Entführung hatte ihn ziemlich beschäftigt und das verstand sie sehr gut. Je länger sie nun unterwegs waren, desto bewusster wurde Alayna, dass die Welt nicht nur aus ihrer Familie, ihrer Heimatstadt und ihren Freundinnen bestand, sondern dass so viel mehr auf diesem Planeten passierte. Es faszinierte sie, wie entschlossen Eimi dieser ganzen Sache entgegentrat. Ob es nicht aber zu gefährlich war, in ein Labor einzubrechen und ihre Leben aufs Spiel zu setzen, für eine Frau, die sie nicht einmal kannten? Sie war auf jeden Fall beruhigt, dass Tsuru und Kûosa bei ihnen waren. Sie drehte sich einmal um und sah sich Kûosa noch einmal an, der ihr daraufhin grinsend zuwinkte. Ein merkwürdiger Schauer fuhr ihr durch den Rücken und sie lief einen Schritt schneller.

 

Es dauerte eine Weile, da blieb Tsuru plötzlich stehen. Sie winkte und signalisierte dadurch, dass die Freunde stehen bleiben sollten. Nach einem kurzen Moment der Stille winkte sie noch einmal und flitzte los. Die Freunde liefen ihr hinterher und bemerkten eine Lichtung, auf der ein kleines Gebäude stand. Es sah aus wie eine kleine Lagerhalle, die man vor langer Zeit schon vergessen hatte.

 

Tsuru lief schnurstracks auf die Tür zu und stampfte einmal wütend auf den Boden.

 

„Verdammt, sie ist wieder zu!“, fluchte sie.

 

„Was soll das heißen?“, hakte Kioku nach.

 

„Pecos‘ Gruppe hat die Tür gerade aufgebrochen und jetzt ist sie wieder zu! Vielleicht sollten wir sie aufbrechen! Kûosa, komm doch mal her.“ Sie winkte Kûosa zu sich und wirkte dabei sehr hektisch.

 

„Halt, halt, halt! Das wäre doch viel zu auffällig, wenn wir die Tür jetzt aufbrechen!“, wandte Alayna ein und stellte sich demonstrativ vor die Tür. „Wir sollten da doch nichts überstürzen.“

 

„Alayna hat Recht“, bestätigte Kioku. „Das wäre eine ziemlich dumme Idee, die ganze Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen.“

 

„Findet ihr nicht merkwürdig, dass das Gebäude so klein ist?“, warf plötzlich Takeru ein und lief dabei um das Gebäude auf und ab. „Für ein Labor ist das ein ziemlich kleines Gebäude.“

 

„Das stimmt. Kann das überhaupt das Labor sein?“, wunderte sich Eimi, der versuchte, leicht an der Tür zu rütteln, um zu überprüfen, ob sie wirklich verschlossen war, leider ohne Erfolg.

 

„Wartet!“, meinte Tsuru und lief eine Runde um das Haus. Als sie zurückkam, bat sie die Freunde, ihr zu folgen. Auf der Rückseite des Gebäudes befanden sich einige rechteckige, vergitterte Löcher an der Wand, nur knapp über dem Boden.

 

„Das sind Lüftungsschächte“, erklärte sie. „Wieso hat eine Lagerhalle Lüftungsschächte am Boden des Gebäudes?“

 

„Vielleicht ist das ganze Labor ja unterirdisch“, vermutete Takeru. „Es könnte doch sein, dass dieses Gebäude nur eine Tarnung ist.“

 

„Was für eine schlechte Tarnung, dieses Gebäude steht doch total auffällig im Wald herum“, wunderte sich Alayna.

 

„Aber ein Förster könnte so etwas als Lager für seine Geräte und Utensilien verwenden?“, versuchte Kioku die Situation zu erklären. „Das würde zumindest nicht auffallen.“

 

„Was ist dann der Plan?“, fragte Eimi, der genauso ungeduldig wie Tsuru wirkte.

 

„Ich würde vorschlagen, wir klettern hinein“, erklärte sie und blickte dann zu Kûosa. „Aber so wie die Schächte aussehen, musst du leider draußen bleiben, Großer.“

 

Kûosa machte auf einmal einen sehr unglücklichen Eindruck und rüttelte an Tsurus Schultern. Er sah aus, als würde er schluchzen.

 

„Kûosa kann doch Alarm schlagen, falls hier draußen etwas passiert, richtig?“, schlug Alayna vor, die ganz glücklich bei der Vorstellung war, dass Kûosa einmal nicht in ihrer unmittelbaren Nähe war.

 

„Wir klettern hinein, und dann?“, wollte Tak genauer wissen.

 

„Finden wir Informationen über mich und befreien die Frau, wo auch immer sie stecken mag. So spät nachts wird wahrscheinlich nicht viel los sein, richtig?“, schlug Tsuru vor.

 

„Und wenn es trotzdem zu einem Kampf kommen sollte, dann schnappen Tak und Alayna die Frau und versuchen zu fliehen. Währenddessen versuche ich, die Leute aufzuhalten“, erklärte Eimi.

 

„Sicher, dass das klappt?“, fragte Kioku besorgt. „Beim letzten Mal haben wir ziemlich eingesteckt.“

 

Eimi grinste unsicher. „Ich glaube, dass ich es diesmal besser einschätzen kann. Ich werde einfach einen Weg finden, ihre Bewegung aufzuhalten. Das wird schon, macht euch keine Sorgen.“

 

„Ich und Pecos sind ja auch noch im Gebäude“, versuchte Tsuru die anderen zu beruhigen. „Ich werde ihm das schon irgendwie erklären können, dass wir ihnen gefolgt sind. Das wird alles!“

 

Für einen kurzen Moment ließ das jeder auf sich wirken und konzentrierte sich auf das, was ihnen nun bevorstand. Mit einem Fingerschnippen von Tsuru begann Kûosa damit, das Gitter des Luftschachtes aus der Wand zu reißen. Dann kletterten Tsuru, Eimi, Alayna, Takeru und zum Schluss Kioku in den Schacht hinein. Er war gerade so groß, dass ein erwachsener Mensch hindurch kam. Es war sehr dunkel und die Freunde konnten gerade so die Silhouette ihres Vordermannes ausmachen.

 

Außerdem war es sehr still. Außer dem metallischem Echo der Bewegungen der Freunde war nichts zu hören. Eine merkwürdige Anspannung verbreitete sich. Plötzlich gab Tsuru einen Laut von sich, als sie im Luftschacht nach unten rutschte. Der Schacht machte plötzlich einen Knick und ging schräg nach unten. Beim Versuch, sie festzuhalten, wurde Eimi auf der rutschigen Fläche einfach mitgezogen. Kurz darauf gab es einen metallischen Knall. Nur Alayna, Takeru und Kioku hielten wie erstarrt inne.

 

„Was ist passiert?“, wollte Takeru wissen.

 

„Eimi ist verschwunden“, flüsterte Alayna ängstlich.

 

„Wie, verschwunden?“, fragte Kioku, die sich nicht an Takeru vorbei drängeln konnte, um die Situation einzuschätzen.

 

„Ich glaube, er ist runtergerutscht! Eimi? Eimi? Tsuru? Wo seid ihr?“, fragte sie hinunter in die stille Leere. Aber sie bekam keine Antwort. „Was sollen wir jetzt machen?“

 

„Hinterher“, antwortete Takeru knapp.

 

„Tak hat Recht, wir haben keine Wahl“, erklärte Kioku.

 

„Aber …“ Alayna hatte Angst. Das sah so gefährlich aus. „Ich trau mich nicht.“

 

„Du musst keine Angst haben“, versuchte Kioku sie zu beruhigen.

 

„Los jetzt, Schwesterherz, sonst schiebe ich!“, forderte Tak und stieß sie leicht mit seinem Kopf.

 

Alayna kreischte kurz auf. „Schieb nicht, du Idiot!“

 

„Keine Panik, Alayna, wir sind doch bei dir“, beruhigte sie Kioku wieder.

 

„Unten warten Eimi und Tsuru, also los!“, forderte Takeru. Er wurde langsam ungeduldig.

 

„Na gut“, vorsichtig krabbelte sie nach vorn. Mit ihren Händen spürte sie plötzlich die Kante und die Schräge. So schräg wie der Schacht hier war, wäre der Aufprall sicherlich schmerzhaft. Sie tastete sich noch weiter voran und bevor sie bereit war zu rutschen, schubste Takeru sie nach unten. Dann rutschten er und anschließend Kioku hinterher.

 

Ein lauter Knall signalisierte, dass Alayna, Takeru und Kioku, als sie an der Rutsche unten angekommen waren, durch ein aufgebrochenes Gitter glitten und alle schmerzhaft aufeinander auf dem Boden in einem Raum ankamen. Takeru fiel auf seine Schwester und kullerte zur Seite. Kioku versuchte beim Fallen sich noch am Lüftungsschacht festzuhalten, rutschte jedoch ab und fiel neben Alayna auf den Boden. Mit schmerzverzerrten Gesichtern richteten sie sich auf. Bevor Alayna einen Schmerzschrei loslassen konnte, schnappte Eimi ihren Arm, und half ihr auf und hielt ihr dabei den Mund zu. Verwundert standen nun auch Kioku und Takeru auf, die neben Tsuru und Eimi eine weitere Person in einer kleinen Zelle entdeckten. Zitternd und weit in eine Ecke der Zelle gedrängt stand dort ein Junge mit lockigen braunem Haar und einem Gewand, welches oft in Krankenhäusern von Patienten getragen wurde. Kioku klopfte sich den Dreck von den Klamotten. Tsuru sah sie bestimmt an.

 

„Wir sind drin“, flüsterte sie.

 

„Wie du sagtest, das Labor ist unterirdisch“, bestätigte Eimi und sah sich um. In der Zelle gab es eine Toilette und ein kleines Waschbecken sowie ein sehr unbequem wirkendes Bett aus Metall. Am auffälligsten war jedoch, dass an den Wänden, am Boden und an den Gitterstäben der Zelle merkwürdige, goldene Spuren zu sehen waren. Was das wohl bedeutete?

 

 

 

Der Junge mit den braunen Haaren drängte sich immer weiter in die Ecke der Zelle. Die Freunde starrten ihn an und wussten erst gar nicht, wie sie darauf reagieren sollten. Als der Junge aber wirkte, als würde er um Hilfe schreien wollen, machte Tsuru einen Satz nach vorn und hielt ihm den Mund zu.

 

 „Psst“, machte sie und legte dabei ihren Zeigefinger auf die Lippen. „Wir sind nicht die Bösen. Wir werden dir helfen.“

 

Der Junge riss auf einmal seine Augen auf und versuchte Tsuru mit aller Gewalt wegzustoßen. Tsuru interpretierte das als einen weiteren Versuch, nach Hilfe zu rufen und hielt ihn fester. Mit aller Kraft versuchte der Junge, der ungefähr die gleiche Statur wie Takeru hatte, sich zu befreien. Aber erst, als Tsuru bemerkte, wie seine Körpertemperatur ungewöhnlich stark anstieg, musste sie ihn wegen der Hitze loslassen. Sofort taumelte der Junge zur Toilettenschüssel und stemmte sich mit seinen Händen auf das kalte Metall. Mit einem lauten Schmerzensschrei beugte er sich nach vorn und ein merkwürdiges Blubbern signalisierte, dass gleich etwas sehr Unangenehmes passieren würde.

 

Panisch ging Alayna einen Schritt beiseite und stellte sich schützend hinter Kioku. Da die Zelle so klein war, mussten die Freunde unweigerlich dem Geschehen zusehen. Der Junge krümmte sich vor Schmerz und er schrie wieder. Dann hörte man ein Geräusch, das klang, als würden einige Murmeln in eine Metallschüssel fallen. Das Ganze dauerte einen kurzen Moment, dann brach der Junge erschöpft neben der Schüssel zusammen. Tsuru stützte ihn und gemeinsam mit Eimi trugen sie ihn auf sein Bett. Seine Körpertemperatur hatte sich normalisiert.

 

Bevor Tsuru neugierig einen Blick in die Toilette werfen konnte, hörte man in der Zelle ein mechanisches Klacken und Rattern und die Spülung aktivierte sich. Sie war nicht wie eine normale Toilettenspülung, sondern sie klang eher wie eine besondere Sauganlage.

 

„Was ist mit diesem Jungen?“, wunderte sich Kioku und deutete auf die Schüssel. Am Rand, dort wo sich der Junge festgehalten hatte, befand sich ein golden glänzender Handabdruck.

 

„Was ist hier überhaupt los?“, fragte Takeru und ging an die Gitterstäbe der Zelle. Er presste sein Gesicht ganz nah an die Stäbe, um zu erahnen, was in dem Raum noch alles war. Der Gang war nicht beleuchtet und deshalb konnte er nicht viel erkennen, außer einer Reihe von sehr kleinen roten Lichtern auf der anderen Seite des Raumes. „Ich kann hier draußen nichts erkennen.“

 

„Na toll, jetzt sind wir hier drinnen gefangen. Super Plan, Leute“, kritisierte Alayna, die besorgt auf den merkwürdigen Jungen starrte.

 

„Ist doch ganz einfach, wir müssen hier nur die Zelle öffnen und dann leise herumschleichen, um herauszufinden, was es hier alles gibt“, erklärte Tsuru und kramte in ihrem Haar nach einer Haarklammer. „Tak, findest du irgendwo ein Schloss?“

 

Wie gebeten, tastete er außen an den Gitterstäben und seitlich an den Wänden nach einem Schloss. Leider konnte er keines finden.

 

„Wie können die hier Leute einsperren, wenn es gar keine Schlösser zu den Zellen gibt?“, fragte sich Eimi und ging nun auch zu den Stäben. Er streckte seine Arme ganz weit aus um in der Dunkelheit des Ganges vielleicht irgendetwas zu spüren. Doch auch er bemerkte nichts.

 

„Sie fahren die Gitterstäbe hoch“, sprach eine fremde Stimme und der Junge richtete sich vom Bett auf. Er hatte wieder das Bewusstsein erlangt. „Auf der gegenüberliegenden Seite befindet sich die Aktivierung.“

 

„Also, wenn wir da hinkommen, können wir hier heraus“, meinte Kioku und bat Eimi und Takeru von den Gitterstäben wegzukommen. Dann streckte sie ihren Arm aus und mithilfe ihres Bandes versuchte sie, die Aktivierung zu erreichen. Immer wieder versuchte sie das Band so gegen die Aktivierung zu schleudern, dass sich irgendetwas aktivierte.

 

„Wieso bist du hier?“, fragte Alayna den Jungen.

 

„Ich bin krank“, antwortete er und sah dabei auf den Boden. „Ich sterbe. Meine Eltern dachten, dass diese unechten Doktoren, die mich eigentlich gefangen halten, mich heilen könnten.“

 

„Wie, was bedeutet das?“, hakte Tsuru gleich nach. Sie witterte, dass sie an dem richtigen Ort war, um etwas über sich selbst herauszufinden.

 

„Sie sperren viele Leute wie mich ein und machen dann merkwürdige Experimente.“

 

„Das muss es sein“, sprach Tsuru und sah Eimi dabei hoffnungsvoll an. „Sie haben sicherlich auch Experimente an mir ausgeführt. Wir holen dich hier raus! Warte mal, wie heißt du eigentlich?“

 

„Ich heiße Suna. Suna Gull Oltin“, stellte sich Suna vor.

 

„Suna, du wirst uns sicherlich helfen, uns hier zu orientieren, richtig?“

 

Suna nickte.

 

„Was ist das für eine Krankheit?“, wollte Takeru wissen. Er setzte sich neben Suna auf das Bett.

 

„Sie nennt sich Petrificatyie. Es ist eine seltene Krankheit, bei der dein Körper allmählich versteinert. Es gibt nicht viele Fälle auf der Welt und die Leute, die mich hier festhalten, hatten damals behauptet, sie wären Experten auf diesem Gebiet. Meine naiven Eltern sind voll auf ihre Masche reingefallen“, erklärte Suna mit einem wütenden Gesichtsausdruck. „Es ist schon mehr als ein Jahr vergangen und es werden ständig nur merkwürdige Experimente an mir ausgeführt. Dabei werden meine Anfälle immer stärker. Sie nennen mich den Goldjungen.“

 

„Das Gold“, murmelte Alayna und sah sich noch einmal in der Zelle um.

 

„Ja“, lachte Suna verzweifelt. „Ich verwandle mich allmählich in einen menschlichen Goldklumpen. Bei meinen Anfällen stößt mein Körper Gold aus. Ich kann es nicht kontrollieren.“

 

Eimi legte seine Hand auf Sunas Schulter. „Wir werden dir helfen. Wenn wir hier herauskommen, suchen wir dir einen richtigen Arzt, ja?“

 

Suna lächelte unsicher. Ein klickendes Geräusch lenkte die Aufmerksamkeit der Freunde auf Kioku.

 

„Ich habe es geschafft“, grinste sie und die Freunde entdeckten, dass das rote Licht an der Wand nun grün war. Kioku ging einen Schritt zurück und kurz darauf erhoben sich die Stangen langsam.

 

„Bevor wir da rausgehen …“, sprach Alayna etwas ängstlich, „sollten wir uns nicht noch einen Plan überlegen?“

 

„Wir befreien die Gefangenen. Leider ist der Lüftungsschacht zu steil, somit können wir nicht zurück nach oben klettern“, stellte Eimi fest.

 

„Wir finden einen Weg nach oben. Ihr nehmt die Gefangenen und führt sie nach draußen. Wenn oben etwas sein sollte, kann Kûosa euch beschützen“, erläuterte Tsuru. „Derweil werde ich herausfinden, ob es etwas wie Archive gibt. Vielleicht finde ich Anhaltspunkte über meine Vergangenheit.“

 

„Und was ist mit Pecos‘ Gruppe?“, wunderte sich Alayna. „Sie stecken hier auch irgendwo.“

 

„Na, umso besser. Finden wir seine Gruppe, können sie euch helfen, die Gefangenen zu befreien“, sagte Tsuru gelassen. Sie beruhigte es sehr, dass Pecos und seine Leute auch in dem Gebäude waren. „Eimi und ich gehen vor. Alayna und Tak, ihr bleibt nah bei Suna, verstanden? Kioku bildet das Schlusslicht. So sollten wir erst einmal sicher vorankommen können.“

 

So verließen sie die Zelle und bemerkten dabei nicht, dass aus dem Lüftungsschacht metallische Geräusche kamen, als würde darin jemand hindurchkrabbeln.

 

 

 

Kapitel 29 – Pläne und Antworten

 

 

 

„Es ist unglaublich, wie fundiert die wissenschaftlichen Ergebnisse dieser Leute sind, die sich Wissenschaftler schimpfen“, sprach ein schlanker Mann mit einer Narbe unter dem linken Auge. Er trug ein enges Hemd, die Krawatte in die Lücke zwischen zwei Knöpfe gestopft. Er reichte die Unterlagen einem älteren Herrn mit einem feinen Schnurrbart.

 

„Die Psychopharmaka, die sie verwenden, wurden schon vor Jahren von der Weltkommission für Medizin verboten“, sprach der ältere Herr und blätterte dabei die Dokumente durch.

 

„Wir müssen dem Ganzen hier ein Ende setzen. Tresna, wie weit sind Pecos und seine Truppe?“, sprach der Mann mit der Narbe zu einem kleineren, dicken Mann, der vor einigen Bildschirmen saß. Er trug einen riesigen Rucksack auf dem Rücken.

 

„Sie konnten sich unbemerkt in das Archiv schleichen, Nal“, antwortete Tresna und deutete mit seinem Finger auf einen der Bildschirme. „Es ist schon ziemlich auffällig, wie unbewacht das ganze Labor ist.“

 

Nun meldete sich ein weiterer Mann zu Wort, der sich ebenfalls in dem kleinen Überwachungsraum befand. Er war ein großer muskulöser Kerl, der auf seinem Rücken und an seinem Gürtel diverse Waffen befestigt hatte. Sein rechtes Auge war mit einem Verband verdeckt und er machte sonst einen eher strengen Eindruck. Neben ihm saß auf einem Stuhl gefesselt Racun. Racun war der Mann mit der merkwürdigen Brille, der zu der Entführertruppe des Labors gehörte.

 

„Es ist schon auffällig still“, sprach der muskulöse Mann.

 

In diesem Augenblick leuchtete eine kleine Lampe über einem der Bildschirme auf.

 

„Nal, Hol, Borroka, seht euch das einmal an“, sprach Tresna und tippte nervös auf den Bildschirm. „Da sind Kinder im Gang mit den Gefangenen. Sie lassen nacheinander alle frei.“

 

„Sie können die Patienten doch nicht einfach aus ihrem Umfeld nehmen!“, protestierte Nal. „Das setzt die Leute in eine schwierige gesundheitliche Situation, sie aus ihrem jetzigen Umfeld zu reißen.“

 

„Sie hören nicht damit auf“, murmelte Tresna.

 

„Wir müssen etwas unternehmen!“, schlug Nal vor. Er wirkte auf einmal sehr aufgelöst und besorgt.

 

„Dann lass uns etwas tun“, sprach der alte Mann ruhig. „Borroka, Tresna, ihr haltet hier die Stellung. „Nal und ich werden hinunter gehen und uns um die Kinder kümmern. In welchem Stockwerk befindet sich dieser Gang?“

 

„Fahrt hinunter in das zweite Untergeschoss. Neben ein paar Lagern befinden sich dort auch die Zellen“, erklärte Tresna, der weiterhin die Monitore überwachte.

 

Nal schnappte sich seine Tasche und verließ zusammen mit Hol die Überwachungszentrale.

 

„Dann halten wir hier wohl alleine die Stellung“, sprach Borroka ruhig und grinste dabei merkwürdig.

 

 

 

Währenddessen schmiss Pecos einige Dokumente wütend durch die Luft. „Es muss hier sein!“

 

„Entspann dich, Pecos“, sagte ein dunkelhäutiger Mann in einer weißen, großen Jacke, welche mit mehreren kreuzförmigen Stickereien gemustert war.

 

„Khamal, wenn ich das nicht finde, war dieser ganze Einsatz umsonst“, verteidigte sich Pecos und wühlte weiter durch einige Unterlagen.

 

„Das würde ich nicht sagen“, widersprach Ryoma, der sich zusammen mit zwei weiteren Männern im Archiv befand. „Wenn wir die wichtigen Unterlagen mitnehmen, können wir endlich herausfinden, wieso sich diese Organisation wieder zusammensetzen konnte.“

 

„Es scheint so, als wäre das vor neunzehn Jahren noch nicht alles gewesen“, sprach ein Mann in einem langen Umhang. Seine schwarzen Haare fielen ihm ins Gesicht. Auf seinem Rücken war ein Bogen und ein Köcher mit Pfeilen geschnallt.

 

„Außerdem geben uns diese Unterlagen Hinweise auf weitere Orte und Verstecke der Organisation“, erklärte ein bärtiger Mann, der mit einer unangezündete Zigarette zwischen seinen Lippen herumspielte.

 

„Und außerdem“, erklärte Ryoma und ging nun auf Pecos zu, „ist mir Tsuru genauso wichtig wie dir. Wir werden schon etwas finden.“

 

„Ich glaube, das könnte etwas sein“, sprach Khamal und reichte Pecos unverzüglich einen Ordner. „Das passt vom Zeitraum her, wie du beschrieben hast.“

 

Pecos öffnete ihn und blätterte durch die Berichte. Es war tatsächlich etwas, das mit Tsuru zu tun hatte.

 

„Das kann nicht sein“, murmelte er schockiert, als er zu den Berichten über die Experimente kam. „Schaut euch das einmal an. So etwas geht?“

 

 

 

Alles was Takeru sah, waren die nackten Pobacken von Suna, die gut sichtbar aus seinem Patientenmantel hervorblitzten. Ab und zu sah er durch den offenen Kittel noch etwas anderes zwischen seinen Beinen. Er schluckte und versuchte, seinen Blick woanders hinzulenken. Es war merkwürdig, dass seine Aufmerksamkeit darauf gezogen wurde. Vielleicht lag es daran, dass er in dem engen Korridor gefangen war und er durch seine Nervosität, die durch die Tatsache herrührte, sich tief unter der Erde zu befinden, keine andere Möglichkeit sah, sich zu beruhigen. Er bekam etwas Panik bei dem Gedanken, keinen Fluchtweg zu sehen und versuchte etwas ruhiger zu atmen. Sein Blick schweifte nun auf Eimi, der jedes Mal, wenn sie an einer Zelle vorbeikamen, diese öffnete und erklärte, dass die Freunde hier wären, um alle aus ihrer Gefangenschaft zu befreien.

 

„Alles in Ordnung?“, fragte Kioku sanft und berührte Takeru dabei an der Schulter.

 

„Ja, ich denke schon“, meinte dieser und wirkte dabei sehr unsicher.

 

„Wir wussten nicht, worauf wir uns einlassen“, erzählte Kioku. „Es ist schockierend, wie die Leute hier eingesperrt sind, richtig?“

 

Takeru nickte still. Die Vorstellung, in so einer kleinen Zelle sein ganzes Leben zu verbringen, machte ihn sehr traurig.

 

Nach kurzer Zeit und zwei weiteren Gängen waren alle Zellen geleert. Die Personen, die darin gefangen waren, hätten unterschiedlicher nicht sein können. Darunter waren Kinder, Jugendliche, Erwachsene und auch ältere Personen, Frauen wie Männer von allen Ecken des Kontinents. Auf einmal blieb die Masse an Menschen stehen. Alayna drängelte sich an den Leuten vorbei zurück zu Takeru und Kioku.

 

„Wir fahren mit dem Aufzug nach oben. Tsuru und Eimi möchten noch weitersuchen“, erklärte Alayna nervös. „Die Frau ist nicht dabei.“

 

„Die Frau aus dem Zug?“, hakte Takeru nach und Alayna nickte. Kioku fuhr sich enttäuscht durchs Haar.

 

„Wir müssen die Leute zurück in die Stadt bringen. Sie brauchen Hilfe“, erklärte sie und deutete Alayna, wieder nach vorne zu gehen.

 

Die Leute vor Takeru und Kioku wurden allmählich unruhiger. Kioku konnte nur erkennen, dass eine kleine Leuchte über der Aufzugtür aufblinkte und auf einmal die Tür aufging. Wie als entdeckte eine Herde Antilopen einen Löwen, brach plötzlich Panik aus und die Patienten drehten sich auf einen Schlag um und drängten zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Einige von ihnen schrien auf. Takeru und Kioku, die beide nicht verstanden, was gerade passierte, versuchten Eimi irgendwie ein Zeichen zu geben.

 

„Was ist passiert?!“, wunderte sich Takeru.

 

„Ich habe keine Ahnung“, sprachen Suna und Kioku wie aus einem Mund. Einige der Patienten drängten sich schon an beiden vorbei. Jedoch war es so eng, dass sie keinen Widerstand leisten konnten und auch mit in die Richtung liefen. Sie hörten dabei nicht auf, nach Eimi und Alayna zu rufen, aber durch das Gedränge erhielten sie keine Antwort. Sie stürmten alle in die letzten Zellen des Ganges. Als Suna, Takeru und Kioku zurück in Sunas Zelle gehen wollten, hielten sie überrascht inne, als plötzlich ein junger Mann mit rosa Haaren vor ihnen stand.

 

 

 

Gerade, als sich Pecos die Unterlagen über Tsuru unter die Weste steckte und Ryoma und Yuu noch einige Sachen einpackten, hörten sie plötzlich einen unangemessenen Applaus.

 

„Also für Gesetzeshüter klaut ihr hier aber ganz schön viel“, sprach eine Stimme aus einer dunklen Ecke des Raumes. Zwischen zwei Regalen hatte sich langsam eine versteckte Tür geöffnet und ein blonder Mann trat herein, der einen langen weißen Mantel trug. Er zog sich langsam Gummihandschuhe von den Fingern und warf sie achtlos in die Ecke.

 

Es dauerte einen Wimpernschlag, da zog Ryoma sein Schwert, Yuu spannte seinen Bogen und Pecos und Niku zogen ihre Revolver. Khamal stand regungslos neben einem schwach beleuchteten Tisch. Kurz nachdem der Mann den beleuchteten Teil des Raumes betrat, folgte ihm aus der Tür eine schlanke Frau mit violetten Haaren, die ebenfalls Gummihandschuhe trug.

 

„Es scheint, als hättet ihr mich gerade bei einer wichtigen Operation gestört“, sprach der Mann und deutete seiner Begleiterin, dass sie die Tür verschließen sollte.

 

Pecos zeigte mit dem Lauf seines Revolvers direkt auf den Mann. „Vaidyam, endlich kann ich mit dir abrechnen. Schön, dass du uns direkt in die Arme läufst. Mein Team hat das Gebäude schon infiltriert. Ich rate dir, dich einfach zu ergeben.“

 

„Du schlägst vor, dass ich all diese armen Seelen hier zurücklassen soll? Und wer kümmert sich dann um die Heilung dieser besonderen Menschen? Sie brauchen Hilfe“, erklärte er und setzte dabei ein überhebliches Lächeln auf. „Ich bin der beste Arzt weit und breit und werde diese Menschen unsterblich werden lassen.“ Er ging einen Schritt auf Pecos zu.

 

Pecos entsicherte den Revolver und starrte ihn böse an. „Ich warne dich. Ergib dich, sonst schieße ich!“

 

Ryoma ging einen Schritt nach vorn, doch Pecos deutete ihm, dass er da stehen bleiben sollte, wo er war.

 

Vaidyam hielt sich aber nicht auf, fuhr sich einmal durch die Haare und ging einen weiteren Schritt.

 

„Wie du willst!“, schrie Pecos und drückte ab. In dieser Sekunde erhellte ein Lichtblitz das Archiv.

 

 

 

Die Türen öffneten sich und heraus traten die zwei Muskelprotze, die bereits bei der Entführung an Vaidyams Seite gekämpft hatten.

 

„Geht zurück!“, forderte Eimi und nickte Alayna zu. Alayna drängte die Patienten zurück dahin, wo sie hergekommen waren.

 

„Schnell, zurück in die Zellen“, wiederholte sie und achtete darauf, dass niemand stehen blieb.

 

„Schau mal, wen wir da haben, Vodvar“, sprach der eine Muskelprotz zum anderen und ließ dabei seinen Kopf kreisen, dabei knackten die Gelenke.

 

„Das wird lustig, Palar“, antwortete der andere.

 

„Zeit für die Abrechnung!“, rief Eimi und zückte sein Schwert. Er fühlte sich zuversichtlich, dass er diesmal länger kämpfen konnte. Tsuru ging in Kampfposition und trat gleich kräftig zu. Vodvar hielt dabei ihren Fuß fest und Eimi sah das als Chance, mit seinem Schwert einmal kräftig auf seinen Unterarm zu schlagen. Der Aufprall war so hart, dass Eimis Hände zitterten. Vodvar ließ Tsuru los, die sich nach hinten abrollte. Palar holte zum Faustschlag aus, den Eimi schnell abblockte.

 

Tsuru nickte Eimi zu und deutete dabei auf einen anderen Gang. Eimi verstand. Sie wichen etwas zurück, sodass Vodvar und Palar aus dem Aufzug heraustraten. Dies sahen sie als Chance, mit mehreren kurzen Angriffen die Schläger in den Gang zu drängen, der wohl in einen anderen Abschnitt der Ebene führte.

 

Als Alayna dies erkannte, pfiff sie die Leute wieder zurück zu sich, um mit dem Aufzug zu fliehen.

 

 

 

Der rosahaarige Mann kam Takeru und Kioku sehr bekannt vor.

 

„Oh, hier seid ihr also, das ist ja interessant“, sprach er und schob sich sein schwarzes Stirnband zurecht.

 

Takeru und Kioku sahen sich beide fragend an und wussten nicht genau, wie sie reagieren sollten.

 

„Ihr kennt diesen Typen? Ist das einer von euch?“, erkundigte sich Suna, der die Situation genau so wenig verstand wie die beiden.

 

„Wie bist du hier runtergekommen?“, fragte Takeru vorsichtig.

 

„Genauso wie ihr, würde ich sagen? Hübschen Plüschbären habt ihr da oben, sehr interessant“, antwortete der junge Mann.

 

„Hast du Kûosa irgendetwas getan?“, hakte Kioku nach. Sie machte sich Sorgen um Tsurus Freund.

 

„Nein, er war eigentlich ganz lieb zu mir“, grinste der Mann. „Also, ihr habt das Labor gefunden. Danach habe ich schon so lange gesucht. Danke für eure Hilfe, Narbe und Tagebuch-Tak.“

 

Jetzt waren die Freunde gänzlich verwirrt. Kioku beschlich das merkwürdige Gefühl, dass sie diesen Mann schon irgendwo gesehen haben musste.

 

„Woher weißt du vom Tagebuch?“, murmelte Tak. Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, als er sich an einen kleinen Jungen erinnerte, der genauso aussah wie dieser Mann. „Dir hat Ea davon erzählt? Bist du sein Bruder?“

 

„Bruder? Was meinst du mit Bruder?“, wunderte sich der Mann und sah an sich herab, als würde er ein kleines Kind neben sich suchen. „Das war ich. Hast du das Tagebuch endlich zurückbringen können?“

 

„Wie, das bist du? Du bist ein erwachsener Mann!“, protestierte Takeru, der sich das alles nicht erklären konnte.

 

„Leute!“, meldete sich Suna wieder zu Wort, nachdem er kurz in den Gang hinausgeblickt hatte, um die Lage zu checken. „Der Gang ist wieder frei!“

 

„Wir sollten los“, sprach eine junge Frau, die ebenfalls Patientin war.

 

„Auf in die Freiheit“, sprach ein kleiner, alter Mann, der eine Glatze und einen weißen Vollbart hatte.

 

Kioku sah Takeru an. „Wir sollten wirklich fliehen. Die Patienten müssen zurück in die Stadt gebracht werden.“

 

Takeru deutete ein „aber“ an, jedoch wurde er von Suna unterbrochen. „Los, jetzt ist die Gelegenheit!“

 

Also gingen sie mit den Patienten zurück, sahen dabei Alayna am Aufzug, die immer mehr Leute hineinlotste. Der junge Mann, wer auch immer er sein mochte, lugte zunächst in den Gang, sah sich ausgiebig um und stapfte den anderen gemütlich hinterher.

 

„Deinen Kompass wirst du aber auch zurückgeben müssen“, sprach er so vor sich hin, ohne zu erwarten, dass jemand darauf reagierte.

 

 

 

Als der Lichtblitz nachließ, spürte Pecos einen heftigen Tritt in seine Magengegend. Dabei taumelte er rückwärts und stürzte über einen Tisch hinter ihm. Ryoma rieb sich die Augen. „Was für ein fieser Trick!“

 

Als Pecos wieder klar sehen konnte, sah er, dass Khamal neben Vaidyam stand. Seine Fingerspitzen leuchteten.

 

„Was hat das zu bedeuten!?“, brüllte Pecos, der sehr wütend wurde.

 

„Aber nicht alle sind loyal dir gegenüber“, erklärte Vaidyam und verschränkte verachtend die Arme und lachte laut los.

 

„Mistkerl!“, schrie Pecos. Er und Niku zielten mit ihren Revolvern wieder auf Vaidyam. Als sie schossen, formte Khamal in der Luft einen siebenzackigen Stern und die Kugeln wurden von einer kurz aufleuchtenden Barriere blockiert.

 

„Ich fass es nicht! Warum, Khamal!?“, brüllte Pecos und steckte seine Waffe weg. Es hatte wohl mehr Sinn, mit Fäusten zu kämpfen. Yuu und Niku steckten ebenfalls ihre Waffen weg und machten sich für einen Faustkampf bereit.

 

Khamal jedoch starrte nur Pecos an. Sein Gesichtsausdruck verriet keine Emotionen.

 

„Gib doch eine Antwort!“ Pecos rannte auf ihn zu und versuchte ihn mit seiner Faust zu treffen, jedoch erhellte dann ein weiterer Lichtblitz den Raum.

 

„Das sind nur Kopien unserer Forschung, Andme. Zerstöre sie, die Originale sind sicher. Danach ziehen wir um. Gib den anderen das Signal“, hörten sie Vaidyam sprechen. Als das Licht nachließ, waren die drei verschwunden.

 

„Verdammt!“, brüllte Pecos. Ryoma legte eine Hand auf seine Schulter.

 

„Wir müssen hier raus um Tresna und Borroka zu warnen, dass Khamal ein Verräter ist“, schlug Yuu vor.

 

„Wenn wir schneller das Gebäude als die verlassen, können wir das Lager umstellen und sie können nicht mehr flüchten“, schlug Niku vor, der sich eine neue Zigarette in den Mund steckte. Doch bevor er sie sich anzünden konnte, rümpfte er die Nase. „Feuer.“

 

Sie sahen sich um und aus allen Ecken des Raumes züngelten plötzlich hohe Flammen zwischen den Regalen hervor.

 

„Jetzt zerstören sie auch noch die ganze Forschung“, erkannte Yuu.

 

„Kein Problem“, meinte Ryoma, der sein Schwert immer noch in den Händen hielt. „Ich kümmere mich darum, geht ihr schon einmal vor.“

 

 

 

Eimi und Tsuru schafften es ihre Gegner in einen großen Lagerraum zu drängen. In Regalen aus Metall waren viele verschiedene Geräte, Medikamente und Kisten geräumt, die im Labor sicherlich für so einige Experimente verwendet wurden.

 

Flink wie sie waren, konnten die beiden einigen Angriffen gekonnt ausweichen. Jedoch packte Palar Eimis Bein, als dieser an ihm vorbei huschte und riss ihn zu Boden. Tsuru reagierte darauf, indem sie hochsprang, sich an einem Leitungsrohr an der Decke festhielt um ihn mit beiden Beinen ins Gesicht zu treten. Dabei sprang sie von seinem Gesicht ab, drehte sich einmal in der Luft und landete dann neben Palar, dem sie einen heftigen Schlag in die Seite verpasste. Palar taumelte für einen kurzen Moment, sodass sich Eimi befreien konnte, der jedoch von Vodvar einen kräftigen Hieb abbekam. Eimi wurde gegen ein Regal geschleudert. Aufgrund des Aufpralls fielen einige Gegenstände zu Boden und Gefäße aus Glas und Keramik zersprangen darauf. Ein beißender Geruch nach Alkohol und anderen Chemikalien verbreitete sich im Lager.

 

Palar fasste sich wieder und trat einmal kräftig zu. Tsuru konnte diesen Angriff nicht abblocken und rutschte in den Haufen von umgestürzten Sachen. Dabei schnitt sie sich an einigen Splittern den Unterarm auf. Blut sickerte durch mehrere Stichwunden heraus. Sie hielt sich den Arm fest, um nicht zu viel Blut zu verlieren.

 

Als Eimi sich nach ihr umdrehte, packte Palar ihn am Kopf und hob ihn hoch. Eimi hielt sich am Arm Palars fest. Die Schmerzen waren enorm.

 

 

 

Der dritte Aufzug fuhr nach oben. Es waren nicht mehr viele Patienten da. Alayna erklärte jedem, dass sie oben außerhalb des Lagers warten sollten, da wäre jemand, der sie beschützte. Kioku und Tak erkundigten sich bei ihr, ob alles in Ordnung wäre und sie nickte.

 

Die drei stellten sich zusammen mit Suna und einer Handvoll weiterer Patienten in den Aufzug, als der junge Mann mit rosa Haaren am Aufzug vorbeilief. Die Türen schlossen sich langsam.

 

„Wer war das!?“, wollte Alayna wissen, die kurz davor war, wieder hinaus zu springen, doch die Türen waren schon geschlossen.

 

„Wie es scheint, möchte er nicht mit“, erklärte Kioku.

 

„Wir wissen es auch nicht“, murmelte Takeru. „Er hat behauptet, er sei Ea.“

 

„Wer ist Ea?“, hakte Alayna nach. „Das war ein Mann? Er sah aus wie eine Frau, die ich im Zug getroffen habe.“

 

„Eine Frau? Er hat mir versucht zu erklären, dass er das kleine Kind war, das ich am Anfang unserer Reise getroffen habe.“

 

„Eine Frau!“, fiel es Kioku plötzlich ein. „Als ich mich in Hakata verlaufen hatte, traf ich eine alte Frau, die genauso aussah. Daher kommt er mir so bekannt vor!“

 

„Aber wie kann es sein, dass so viele aussehen wie er?“, wunderte sich Takeru.

 

Der Aufzug fuhr nach oben. Im Erdgeschoss angekommen, sahen die Freunde die Patienten in einer Ecke des fast leeren Lagers kauern. Vor ihnen stand ein großer Mann. Sein rechtes Auge war mit einem Verband verdeckt. Außerdem trug er etliche Waffen an seinem Körper. Neben ihm stand Racun, der Mann mit Brille, der die Frau im Zug betäubt hatte. Vor ihnen lagen ein kleinerer bewusstloser Mann und ein Rucksack.

 

 

 

Eimi versuchte sich mit aller Kraft vom Griff Palars zu befreien. Er strampelte mit den Beinen und versuchte ihn zu treten, schaffte es aber nicht. Tsuru wollte ihm zu Hilfe eilen, wurde von Vodvar aber niedergerissen und fiel wieder zu Boden.

 

„Mir reicht es!“, brüllte sie mit voller Kraft und streckte ihre Hand aus. Auf der Suche nach etwas Hilfreichem ertastete sie wieder Glassplitter und eine verbeulte Blechschüssel, in der vorher wohl einige medizinische Instrumente gelegen hatten. Sie konzentrierte sich und mit einem hellen Lichtblitz fusionierte sie die Sachen, die sie berühren konnte, zu einer Waffe. Vielmehr war es ein kleiner Schild, der mit verschiedenen gläsernen kegelförmigen Zacken bestückt war. Vodvar packte sie am Bein und zog sie zu sich, um ihr einen Schlag mit der Faust zu verpassen. Tsuru hielt schützend den Schild vor sich, sodass beim Aufprall der Faust zunächst Blut durch die Luft spritzte. Vodvar war für einen kurzen Moment abgelenkt und so rutschte sie zwischen seinen Beinen hindurch und stand hinter ihm auf.

 

Als sie sich aufrichtete, stand Ea vor ihr.

 

„Mach das nochmal!“, jubelte er, doch Tsuru erschreckte sich so sehr, dass sie einige Schritte zurücktaumelte und ihr Schild fallen ließ. Dabei stolperte sie über Vodvar, der sie dann in den Schwitzkasten nahm.

 

„Aber, aber, meine Herren. Diese Dame kann Dinge fusionieren, habt ihr das gerade nicht gesehen?“, erklärte er und sah sich die Lage etwas genauer an. Eimi konnte sich immer noch nicht aus Palars Griff befreien und schien so, als würde er stetig an Kraft verlieren. Tsuru, die sich nicht traute, sich mithilfe ihrer Fusionsfähigkeiten zu befreien, wurde von Vodvar festgehalten. Die beiden Muskelprotze interessierten sich aber wohl nicht für das, was Ea von sich gab.

 

„Hilf uns“, keuchte Tsuru leise, die kaum Luft mehr bekam.

 

„Ja, das sollte ich“, grinste Ea und entdeckte zwischen Palars Füßen ein Schwert. „Das gibt es nicht! Wie viel von unserem Zeug habt ihr denn noch!?“

 

Ea kam näher und wollte das Schwert aufheben, jedoch holte Palar zu einem Schlag aus. Allerdings konnte Ea sich schnell genug ducken und unter Palar hindurchrutschen. Hinter ihm stand Ea wieder auf und hielt das Schwert in seiner Hand.

 

„Das ist verdammt noch einmal meins“, meckerte er, als wäre Eimi ein kleines Kind, das mit Erwachsenensachen spielte. „Das ist meins!“

 

Eas gespielt grimmiger Ausdruck änderte sich schnell, als er vorsichtig mit seinen Fingern über die Scheide strich. Er hielt den Griff und zog es mit Leichtigkeit aus der Scheide. Ea schwang das Schwert, was Eimi schockierte, da dieser Typ das Schwert einfach so benutzen konnte. Überraschender war jedoch, dass statt einer Klinge plötzlich grelle Blitze aus dem Griff schossen und über den Boden huschten und nicht nur Vodvar und Palar trafen, sondern auch einige Kisten und Eimer im Raum, die daraufhin Feuer fingen. Vom Angriff geschwächt, ließen sie Eimi und Tsuru los, die leider ebenfalls etwas vom Angriff abbekamen und angeschlagen auf die Knie gingen.

 

Die Blitze, die aus dem Schwert krochen, veränderten sich von dem einen auf den anderen Augenblick in eine große Steinkeule. Ea schwang die Keule und traf erst Palar und dann Vodvar, die daraufhin bewusstlos zu Boden fielen.

 

„Was zur Hölle bist du?“, murmelte Eimi, der sich seine schmerzende Schulter hielt.

 

 

 

„Das war’s, Kinder“, sprach Racun und zeigte dabei auf die Patienten. „Ich würde sagen, wir schicken die Patienten zurück in ihre Zellen und euch gleich mit dazu.“

 

Erschrocken standen Takeru, Kioku, Alayna und Suna vor den beiden Männern. Ihr Plan war gerade dabei zu scheitern.

 

„Weil ihr aber jetzt über so einiges Bescheid wisst, können wir euch aber trotzdem nicht am Leben lassen“, änderte Racun plötzlich seine Meinung. Dann berührte er Borroka, der daraufhin zwei große Messer aus seinem Gürtel zog. „Mein Partner Borroka hier wird euch nur ein wenig wehtun.“

 

„Das schafft ihr niemals!“, schrie Takeru und ballte seine Hände zu Fäusten. „All diese Leute hier haben ein Recht darauf, ein normales, freies Leben zu haben! Ihr habt sie lange genug eingesperrt und Experimente an ihnen ausgeführt!“

 

„Pecos‘ Gruppe müsste doch jeden Moment auftauchen, richtig?“, flüsterte Alayna Kioku zu.

 

„Ich weiß es nicht“, antwortete sie leise und deutete auf Borroka und den Mann, der auf dem Boden lag. „Siehst du ihre Abzeichen? Die gehören zu seiner Gruppe.“

 

„Wie kann das sein?“, wunderte sich Alayna, die anfing sich verzweifelt umzuschauen. „Wo ist Pecos?“

 

„Vielleicht ist es ein Hinterhalt oder so etwas. Es fühlt sich merkwürdig an.“ Kioku zückte ihr Band und machte sich bereit für den Kampf. „Du musst mit den Patienten fliehen. Ich versuche, die beiden abzulenken.“

 

„Siehst du nicht, wie bewaffnet dieser Typ ist?“, mischte sich Takeru ein. „Lass mich helfen!“

 

„Vergiss es!“, entgegnete Kioku. Doch bevor sie oder Takeru sich entscheiden konnten, rannte Borroka schon auf sie zu. Jedoch war der erste, der etwas unternahm, Suna, der auf einmal schrie, als hätte er unsägliche Schmerzen. Er fiel auf die Knie und Tak erkannte, dass aus seinen Schultern kleine goldene Bläschen austraten.

 

„Ich lasse das nicht zu, dass ihr sie verletzt!“, schrie Suna und stand auf. Dabei warf er seine Arme so nach vorn, dass die Bläschen von seiner Haut geschleudert wurden, die in der Luft anfingen sich zu mehreren Goldklumpfen zu verfestigen. Einige trafen Borroka, der jedoch durch seine Schutzausrüstung von diesem schwachen Angriff locker geschützt war.

 

„Wir müssen weg!“, rief Alayna und rannte am Rand des Raumes entlang, um die Patienten aufzuscheuchen, die aber ängstlich auf dem Boden verharrten. Kioku verstärkte ihr Band und warf sich zwischen Borroka und Suna, um den Angriff mit den Messern abzuwehren. Dabei konnte sie Suna beschützen, wurde aber an der rechten Schulter von einem Messer getroffen. Blut lief aus ihrer Wunde. Takeru zerrte an Sunas Kittel und riss ihn mit sich, um in Richtung Ausgang zu fliehen. Er wollte zwar helfen, jedoch konnte er es nicht zulassen, dass auch nur einem dieser Patienten noch irgendetwas zustieß.

 

In aller Ruhe zog sich Racun, der dies alles eher still beobachtete, einen Handschuh an, dessen Fingerspitzen spitz geschliffene Metallkuppen waren. Die Spitzen sahen aus wie dicke Nadeln. Er öffnete seine Jacke und piekte vorsichtig mit jedem Finger der Hand in diverse Fläschchen, die sicherlich irgendwelche gefährlichen Chemikalien enthielten.

 

Takeru und Suna, dem einige kleine Goldklumpen von der Haut fielen, rannten links herum in Richtung Ausgang. Alayna stand rechts an einer Ecke und versuchte, einige der Patienten mit sich zu zerren. Einige von ihnen sahen sich unsicher an. Es schien, als glaubten sie nicht daran, fliehen zu können.

 

Takeru hatte schon fast das Tor erreicht, als Borroka mit einer Hand einen Schlagstock von seinem hinteren Rücken nahm und ihn so zwischen Takerus Beine warf, dass er und Suna stürzten. Währenddessen packte Racun Alayna an der Jacke und stieß sie weg.

 

„Hiermit werdet ihr erst einmal eine Weile schlafen“, erklärte Racun und wollte mit seiner linken Hand zustechen. Jedoch überwältigte Alayna ihn wieder und beide fielen zu Boden.

 

Kioku richtete sich auf und wollte Borroka einen Tritt verpassen, aber dieser wich gekonnt aus und stach mit seinem Messer zu. Diesmal traf er ihren linken Oberschenkel und Kioku taumelte zurück.

 

Ein plötzlicher Knall und ein kurzes Beben erschütterten das Gebäude.

 

„Da ist etwas passiert!“, rief Takeru. „Wir müssen zurück zu Eimi! Er braucht sicher Hilfe!“

 

„Und die Gefangen!?“, antwortete Kioku. „Wir können sie nicht alleine lassen!“

 

„Das ist viel zu viel!“, zweifelte Alayna, der mittlerweile Tränen über das Gesicht liefen.

 

Takeru spürte um sich herum nochmal ein Beben, diesmal fühlte es ich jedoch anders an. Vor seinen Augen wurde die metallene Tür des Gebäudes hinweggerissen und das fahle Mondlicht warf Kûosas Schatten in das Gebäude. Der Hasenbär stürmte hinein, checkte kurz die Lage und warf sich dann in den Kampf.

 

Eine weitere Erschütterung, die der ersten glich, jedoch viel stärker war, riss nun einige Gegenstände von Tischen und Wänden. Das Beben war so stark, dass alle kurz innehielten. Was passierte dort unten gerade?

 

 

 

 

 

Kapitel 30 – Zu viele Geheimnisse

 

 

 

„Seit wann ist so etwas möglich?“, murmelte Pecos wiederholend vor sich hin. „Ist die Wissenschaft schon so weit?“

 

„Es wundert mich nicht, dass dies möglich ist, da diese Organisation ihre Errungenschaften über Jahrhunderte hinweg geheim gehalten hat. Sie haben auf so viele Arten und Weisen die Entwicklung des Planeten gebremst“, erklärte Niku und zündete sich an den letzten Flammen des brennenden Feuers seine Zigarette an. Kurz darauf schwang Ryoma sein Schwert darüber und auch dieses Feuer war gelöscht. Der Raum war nun nicht mehr in Brand.

 

„Möchtest du damit sagen, dass die Welt mit der Technik des Klonens sich positiv entwickeln wird? Ich sehe das anders“, wandte Yuu ein, der erfolglos die Wände nach einem Geheimgang abklopfte.

 

„Nun ja, du musst bedenken, welchen Effekt dies auf den Hunger in der Welt haben könnte“, antwortete Niku darauf. Er ging an die Tür um zu sehen, ob man sie öffnen konnte. Doch sie war von außen verschlossen worden. Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und stieß dicken Rauch aus seinen Nasenlöchern wieder aus.

 

„Ich werde ihr das nie erklären können“, seufzte Pecos matt und ließ sich auf einen Stuhl am Tisch nieder. „Sie ist ein Klon.“

 

„Bevor du überhaupt in Erwägung ziehen kannst, ihr das irgendwie zu erklären, müssen wir zunächst einmal hier raus“, sprach Yuu, während er in die Überwachungskamera in der Ecke des Raumes winkte. „Tresna? Kannst du uns sehen? Hilf uns doch bitte und mach die Tür auf!“

 

„Wir werden einen Weg finden“, versuchte Ryoma Pecos zu beruhigen und legte ihm dabei eine Hand auf die Schulter. „Ich würde mir das aber noch einmal ganz genau überlegen, ob du ihr damit wirklich etwas Gutes tust.“

 

Yuu kam an den Tisch zurück und winkte Niku ebenfalls zu sich.

 

„Ich finde keinen Schalter für den Geheimgang und Tresna reagiert auch nicht. Ich glaube, wir müssen die Tür aufbrechen“, erklärte Yuu.

 

„Bleibt uns wohl keine andere Wahl“, stimmte Niku zu und nahm noch einmal einen tiefen Zug von seiner Zigarette.

 

„Lasst uns gehen; den Ort können eure Einsatzkräfte später noch einmal von oben nach unten auf den Kopf stellen“, schlug Ryoma vor. Er sah dabei Pecos an, der aber erst für eine Weile lethargisch ins Nichts starrte, bevor er reagierte.

 

 

 

Wie ein irrer hämmerte Ea mit seinem Schwert, das mittlerweile einer großen Spitzhacke ähnelte, auf den Boden ein. Brocken von Beton schossen durch die Luft. Es klirrte jedes Mal, wenn einer dieser Brocken gegen Fässer oder die metallenen Regale prallte.

 

Tsuru hatte mittlerweile einen Verband aus dem Regal gekramt und ihre Wunden verbunden. Eimi zerrte Vodvar und Palar an den Eingang des Raumes. Die Flammen wurden immer stärker.

 

„Da unten wird’s was Interessantes geben“, meinte Ea, als er ein Loch durch den Boden schlug, welches gerade so groß war, dass eine Person hineinpasste.

 

Tsuru und Eimi sahen sich verwundert an. Es war den beiden genug gewesen, gerade gegen die Schläger kämpfen zu müssen, da hatte sich dieser junge Mann mit pinken Haaren eingemischt und redete seitdem merkwürdige Sachen vor sich her.

 

„Ich weiß, wir können sie nicht allein lassen. Wir müssen sie Pecos‘ Gruppe überführen“, erklärte Eimi und zog die Fesseln um die Hände der beiden ohnmächtigen Helfer fester. „Aber wir müssen noch die Frau finden. Sie war nicht in den Zellen. Sie ist hier irgendwo, ich weiß es!“

 

Tsuru sah sich zögernd erst die gefesselten Schläger an und danach das Loch, in das Ea gerade hineinspringen wollte.

 

„Kommt ihr mit?“, fragte er und sprang in das Loch, ohne auf eine Antwort zu warten.

 

Sollten sie nun die beiden vor dem Feuer retten oder nach einer Frau suchen, die vielleicht noch im Gebäude war? Sie wusste auf beide Optionen keine richtige Antwort, jedoch wusste Tsuru, dass sie noch herausfinden wollte, was sie selbst mit dem Labor zu tun hatte.

 

„Wir lassen sie hier“, war ihr Vorschlag und löste dabei die Fesseln wieder. „Wenn sie aufwachen, können sie selbst fliehen. Lass uns nach dieser Frau suchen.“

 

Eimi wirkte, als hätte er gerade die gleichen Optionen verglichen und nickte nur. Sie mussten sich beide beeilen, sonst würde sich das Feuer noch mehr ausbreiten. Also hüpfte erst Tsuru und dann Eimi in das Loch.

 

 

 

Kurz danach öffnete sich die Tür zu dem Lager. Hol und Nal, zwei Männer aus Pecos‘ Gruppe, traten hinein und waren überrascht, dass sie zunächst die bewusstlosen Helfer Vaidyams und dann auch noch einen brennenden Raum vor sich fanden.

 

„Diese Kinder verändern die ganze Mission“, sagte Nal kühl und überprüfte, ob Vodvar und Palar noch am Leben waren.

 

Hol, der Mann mit dem feinen Schnurrbart, verschränkte die Arme hinter seinem Rücken und nickte nur.

 

„Scheint so, als hätte sich das Blatt gewendet. Mal sehen, zu welchen Überraschungen sie noch fähig sind“, erkannte er. Zusammen mit Nal zerrten sie die Schläger aus dem brennenden Raum heraus.

 

 

 

Unten angekommen, befanden sich Eimi und Tsuru in einem weiteren Labortrakt. Sie waren in einem riesigen Raum, in dem sich viele zu Inseln zusammengestellte Schreibtische befanden, auf denen diverse medizinische Instrumente, Ordner und Unterlagen befanden. Auf der einen Seite des Raumes befanden sich etliche Schränke mit diversen kleinen Türchen und Schubladen. Sie waren sicherlich dafür da, Medikamente und medizinisches Werkzeug aufzubewahren. Folgte man den Schränken, kam man zu einem Bereich mit Betten, die durch Vorhänge verdeckt werden konnten. Gegenüber befand sich statt einer Ecke eine kreisförmige Einrundung im Raum, indem sich der Operationsbereich befand. Etliche große Maschinen waren in diesem Kreis aufgestellt.

 

„Du hast interessante Fähigkeiten“, sprach Ea, als die drei sich etwas umsahen.

 

„Wer bist du überhaupt?“, fragte Tsuru, die sich gerade ein paar Unterlagen auf den Schreibtischen ansah. Der Raum war verlassen.

 

„Ich bin Ea Noacks“, antwortete er kurz und spielte mit einer herumliegenden Spritze.

 

„Wie kannst du dieses Schwert benutzen?“, hakte Eimi nach. Er deutete Tsuru an, einen kleinen Sicherheitsabstand zu Ea zu halten, für den Fall der Fälle.

 

„Ganz einfach“, erklärte Ea und drehte sich dabei um, „es ist meines.“

 

Eimi wunderte es, dass Ea dieses Schwert einfach so benutzen konnte. Er ging davon aus, dass es ein antikes Artefakt war, welches seit Jahrhunderten nicht verwendet werden konnte. Oder lag es schlicht und einfach daran, dass Ea versteckte, starke Fähigkeiten hatte, die dieses Schwert aktivierten? Bevor er noch etwas fragen konnte, war Ea hinter einem der Vorhänge verschwunden.

 

„Ich traue ihm nicht“, flüsterte Eimi Tsuru zu. „Wir müssen vorsichtig sein. Wir kennen diesen Typen nicht. Außerdem werden Vodvar und Palar nicht die Einzigen gewesen sein, die sich hier verstecken. Lass uns schnell nach der Frau suchen und nach oben zu Alayna und den anderen fahren.“

 

„Sicher“, sprach Tsuru sehr leise, als hätte sie das, was Eimi gesagt hatte, gar nicht wahrgenommen. Ihr Blick richtete sich starr auf eine Tür, die sich neben dem Operationsbereich befand. Sie hob die Hand und winkte das gesagte von Eimi einfach weg. „Ich habe das Gefühl, dass ich kurz vor der Antwort stehe, wer ich bin.“

 

„Tsuru“, murmelte Eimi, der erschrocken war, dass sie ihn so ignorierte.

 

Tsuru ging auf die Tür zu und legte ihre Hand auf den Türgriff. Sie schritt in einen grünlich beleuchteten Raum und Eimi folgte ihr ohne zu zögern. Ea lugte zwischen zwei Vorhängen hervor und entdeckte, was Eimi und Tsuru gerade taten. Neugierig ging er den beiden nach. Als sie jedoch erkannten, was sich in diesem neuen Raum befand, konnten sie nur mit offenem Mund starrend innehalten.

 

Es war eine Halle, die mindestens zwei bis drei Stockwerke hoch war. Auf der linken Seite der Halle standen etliche Betten, die teilweise leer waren. In manchen davon schliefen noch schwangere Frauen. Über diesen Betten hingen merkwürdige Apparaturen, aus denen diverse Schläuche und Kabel herauskamen. Ein Teil davon war an die Frauen angebracht. Schockierender jedoch war die rechte Seite des Raumes. Hier standen viele große Glaszylinder, in der sich eine merkwürdige orangene Flüssigkeit befand. In manchen dieser Zylinder schwamm etwas, das erst auf den zweiten Blick als Menschen wahrzunehmen war. Auf etlichen der Befestigungen am Boden befanden sich keine Glaszylinder.

 

„Was zur Hölle ist das?“, stammelte Tsuru und hielt sich ihre zitternde Hand vor den Mund.

 

Eimi sah sich um, er konnte nicht glauben, was sich in diesem Labor versteckte. So etwas hatte er noch nie in seinem Leben gesehen. Als sein Blick durch die Halle schweifte, entdeckte er in einem der ersten Betten die Frau, die im Zug entführt worden war. Augenblicklich rannte er zu ihr, um zu schauen, wie es ihr ging. Er rief nach Tsuru, die einen kurzen Moment brauchte, um sich bewegen zu können.

 

„Schau dir das an“, murmelte er und zeigte auf die Frau. „Sie ist hochschwanger. Das kann nicht sein! Als wir sie im Zug getroffen haben, war sie dünn. Man kann doch nicht in ein paar Tagen so einen Bauch entwickeln?“

 

„Was ist das nur für ein schrecklicher Ort?“, meinte Tsuru und sah sich wieder die Glaszylinder an.

 

Eimi nahm das Handgelenk der Frau. Die Geräte über ihr machten keine Geräusche. Mit seinen Fingern versuchte er, den Puls der Frau zu spüren. Als er nichts spürte, überprüfte er die Ader am Hals. Sie hatte keinen Puls und auch leichtes Schütteln weckte die Frau nicht auf. Er musste erkennen, dass die Frau nicht mehr am Leben war. Er rammte seine Faust in die Wand. „Sie ist tot“, stammelte er, „wir sind zu spät.“

 

„Was ist mit den anderen Frauen?“, wunderte sich Tsuru und sprintete los. Eimi folgte ihr und abwechselnd stellten sie fest, dass von den sieben Frauen, die hier lagen, alle schon verstorben waren. Vor Wut kniete er sich vor ein leeres Bett und trommelte wild mit seinen Händen darauf.

 

„Verdammt!“, schrie er mehrmals. Sein Echo hallte durch den Raum, dann war es für einen kurzen Moment still.

 

„Das ist es“, sprach auf einmal Ea, der hinter einem der Glaszylinder hervortrat. Er ging noch einmal prüfend darum herum und murmelte etwas vor sich hin, das weder Eimi noch Tsuru verstanden.

 

„Hier war ich für einige Zeit gefangen“, erklärte er, ohne auf die beiden zu achten. „Jetzt versteh ich endlich, was passiert ist.“

 

Tsuru, die tröstend eine Hand auf Eimis Schulter gelegt hatte, wurde auf Ea aufmerksam und ging auf ihn zu. Eimi hob seinen Kopf.

 

„Was meinst du damit, das verstanden zu haben?“, wollte Tsuru wissen. „Was hast du mit diesem Labor zu tun?“

 

Ea kicherte und stellte sich dabei auf eine der Befestigungen am Boden, in der sich kein Glaszylinder befand. Aus diesem schalenförmigen Podest kamen dünne und dicke Schläuche, die in der Wand dahinter verschwanden.

 

„Antworte!“, verlangte sie nun und wurde dabei lauter.

 

„Oh, entschuldige bitte, ich genieße gerade meine Freiheit. Freiheit ist etwas Süßes, nicht wahr? Man darf gehen, wohin man möchte und tun und lassen, was man möchte. Das ist definitiv etwas, was ich dem Gefangensein bevorzugen würde“, sprach Ea und sah sich noch einmal die Glaszylinder an, die sich rechts und links neben ihm befanden.

 

Tsuru kam näher und wirkte nun richtig wütend.

 

„Beantworte meine Frage!“, forderte sie wiederholt und ballte dabei ihre Hände zu Fäusten.

 

„Schau doch“, fing Ea grinsend an und ging dabei in die Knie, „du brauchst nur eins und eins zusammenzählen. Diese Frauen, die dort liegen, sind tragische Opfer von brutalen Experimenten dieser Gesellschaft, die sich auserkoren fühlt, die Menschheit auf die nächste Ebene zu bringen. Diese Fleischklumpen, die in diesen Gläsern schwimmen, das sind ihre Kinder.“

 

Tsuru war verwirrt. Sie sah sich den Inhalt der Gläser noch einmal an. Es waren fleischfarbene, kleine unfertige Menschen. Eimi stand auf und sah sich abwechselnd die Behälter und die Frauen an.

 

„Nein, nicht was ihr denkt! Das sind nicht die Kinder dieser Frauen. Ich meine, dass diese Gesellschaft diese Kinder herstellt.“

 

„Was meinst du genau damit?“, hakte Tsuru wieder nach. Langsam zweifelte sie daran, ob sie überhaupt ein Mensch war.

 

„Sie nehmen diese Frauen gefangen, damit sie diese Wesen hier gebären können“, erzählte Ea. „Sie werden als Brutmaschinen für ihre Experimente missbraucht.“

 

„Woher weißt du das?“, wunderte sich Eimi, der sich nun wieder zu Wort meldete. „Tsuru, ich weiß wirklich nicht, was hier los ist, aber wir müssen so schnell es geht Pecos Bescheid geben, damit die Schutztruppe sich hier drum kümmern kann.“

 

Eimi konnte wieder klarere Gedanken fassen. Diese ganze Situation war so unglaublich merkwürdig, dass er so schnell wie möglich von hier verschwinden wollte. Tsuru erkannte, dass er zitterte. Sie selbst hatte Bauchkrämpfe beim Anblick dieses Raumes. Jedoch ging sie einen Schritt auf Eimi zu und packte ihn an den Schultern.

 

„Ich bin so kurz davor herauszufinden, wer ich bin“, sagte sie ihm und schaute ihm dabei tief in die Augen. Eimi sah, wie sie nun weinte. Sie drehte sich zurück zu Ea und zeigte mit dem Finger auf ihn.

 

„Es wird Zeit, dass du Klartext redest, sonst werde ich richtig sauer!“, forderte sie in einem energischen Ton. Als Ea grinste, stampfte sie ein paar Schritte auf ihn zu. Ea erschrak vor der Energie, die Tsuru plötzlich ausstrahlte und stand auf. Verteidigend hob er seine Hände und entschuldigte sich.

 

„Sorry, ich werde es jetzt klar machen“, sagte er und seufzte. „Ich wurde damals überwältigt und gefangen genommen. Mann, hatten die ein Glück. Bevor ich zu sinnen kam, sperrten sie mich in einen dieser Glaszylinder und versetzten meinen Körper mit Giften, sodass ich mich nicht mehr bewegen konnte. Das konnten sie einige Zeit aufrechterhalten, bis sie genug Proben von meinem Körper nehmen konnten. Ich war stets bei vollem Bewusstsein, nicht so wie die anderen Menschen, mit denen sie experimentierten. Was genau sie mit diesen Proben machten, konnte ich nicht herausfinden. Jedoch bemerkte ich, wie diese Frauen benutzt wurden. So etwas wie ungeborene Menschen werden hier in diesen Gläsern gezüchtet und den Frauen eingesetzt, damit diese dann ‚normale‘ Kinder gebären konnten.“

 

„Wie kann man so etwas Schreckliches nur tun?“, warf Eimi schockiert ein.

 

„Warum taten sie das?“, fragte Tsuru. „Wie konntest du dich befreien?“

 

„Warum? Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich wollen sie so etwas wie Supermenschen herstellen, die ganz besondere Kräfte haben.“

 

„Ganz besondere Kräfte“, murmelte Tsuru und betrachtete dabei ihre Hände. „So jemand wie ich …“

 

„Das können wir nicht sagen“, widersprach Eimi und hielt sie dabei an den Armen fest.

 

„Aber es macht Sinn! Ich kann mir das richtig vorstellen“, fing Tsuru an zu erklären und weinte dabei. „Meine Eltern wurden für dieses Experiment ausgenutzt und stellten dann fest, wie schrecklich die Arbeit dieser Leute war. Sie nahmen mich und flüchteten. Deswegen waren die Shal auch hinter mir her. Sie wollten ihr gelungenes Experiment zurückhaben!“

 

„Es gibt doch auch Leute, die andere Fähigkeiten haben! Jumon hat es uns erklärt. Diese Kräfte sind etwas ganz Natürliches in jedem von uns Menschen“, wandte Eimi ein. Er wollte nicht glauben, dass Tsuru ebenfalls so etwas sein konnte, wie das, was in diesen Glaszylindern schwamm.

 

„Hast du auch jemals schon einen Menschen getroffen, der Dinge miteinander verschmelzen konnte?“

 

„Ich habe das“, unterbrach Ea die Unterhaltung.

 

Hoffnungsvoll drehte sich Tsuru wieder zu Ea um. Mit einem fragenden Blick sah sie den rosahaarigen Mann an.

 

„Mich“, sprach Ea und zeigte mit der einen Hand auf sich, während die andere den Griff des Schwertes in der Hand drehte. Kurz darauf verwandelte er seine Hand in Stein, rammte diese in die Wand und holte sich einen Brocken aus Beton und Kabeln heraus. Ein kurzes Leuchten erhellte den Raum, dann hielt er in seiner Hand einen merkwürdigen Stein, dessen Oberfläche wie Kunststoff glänzte.

 

Tsuru stand schockiert da und konnte nicht fassen, was gerade passiert war. Was hatte dies zu bedeuten?

 

„Was verdammt nochmal willst du eigentlich!?“, forderte Eimi zu wissen, der ebenfalls nicht wusste, wie er mit dieser Situation umgehen sollte. Bevor Ea antwortete, lachte er kurz auf.

 

„Ich suche etwas, was ich schon vor langer Zeit verloren habe. Außerdem dachte ich, dass ich diesen Laden, der mich sehr lange gefangen hielt, einfach in Schutt und Asche hauen kann.“

 

„Das kann ich nicht zulassen!“, entgegnete Eimi und ballte seine Fäuste. „Die Schutztruppe wird sich darum kümmern. Sie wird dafür sorgen, dass die Opfer dieses Labors beerdigt werden können und dass so etwas nie wieder passiert!“

 

Ea stampfte mit dem Fuß auf den Boden wie ein kleines Kind, das wütend war. „Aber ich habe mich so lange darauf gefreut! Seit über zwanzig Jahren war ich auf der Suche nach diesem beschissenen Labor!“

 

„Du bist aber nicht das einzige Opfer hier!“, brüllte Eimi und ging auf Ea zu. Sie waren ungefähr gleich groß. Eimi packte Ea am Kragen und hielt ihn fest. „Es gibt andere, die ebenfalls verstehen und trauern wollen!“

 

„Eimi“, sprach Tsuru leise und zerrte an seiner Kleidung. „Lass gut sein.“ Sie holte tief Luft und wischte sich die letzten Tränen aus dem Gesicht. „Ich möchte mehr über dich Wissen, Ea. Du bist nicht mit mir verwandt?“

 

Ea sprach nicht. Er zeigte nur auf einen der Glaszylinder.

 

 

 

Währenddessen schaffte es Alayna gerade so, sich ihre Handschuhe anzuziehen, bevor Racun wieder angreifen konnte. Der Befreiungskampf am Eingang zum Labor war im vollen Gange. Mit seinen Nadel-Fingern versuchte er Alayna zu treffen. Doch diese wich immer wieder zurück. Mithilfe der Metallplatten auf dem Rücken der Handschuhe konnte sie mehrmals die spitzen Nadeln von sich wegschlagen. Es schien so, als würde ihr Gegenüber sich immer schneller bewegen.

 

„Tak, auf was wartest du!? Bring die Leute hier heraus!“, schrie sie ihrem Bruder zu.

 

Takeru konnte gerade, da er sich im Rücken Kûosas befand, der zusammen mit Kioku gegen Borroka kämpfte, zu den Leuten in der Ecke rennen.

 

„Meine Schwester hat Recht, ihr müsst hier heraus! Ich kenne einen Ort, an dem ihr Hilfe bekommt“, überredete er die in der Ecke kauernden Menschen. „Vertraut mir.“

 

Suna, der nun hinter ihm stand, nickte bestätigend. Er nahm zwei ältere Damen an den Armen und führte sie hinaus. Takeru schickte immer einen nach dem anderen zur Tür.

 

„PASS AUF!“, riefen Alayna und Kioku gleichzeitig. Racun, der bemerkt hatte, was vor sich ging, hatte sich von Alayna abgewandt und wollte sich auf Takeru stürzen, damit er keine Geiseln mehr befreien konnte.

 

Jedoch reagierte Kioku intuitiv und riss ihren rechten Arm nach vorne. Für einen Augenblick verlängerte sich ihr Band und wickelte sich um Racuns Bein, sodass er an Takeru vorbei auf den Boden fiel. Borroka nutzte diese Gelegenheit und rammte seinen Schlagstock in Kiokus Magengegend. Daraufhin fiel sie purzelnd zu Boden und stieß dabei gegen die Wand. Vor Schmerz krümmte sie sich. Kûosa versuchte Borroka daraufhin festzuhalten, jedoch konnte der muskulöse Mann Kûosa mit Leichtigkeit überwältigen und über seine Schulter werfen.

 

Takeru schubste nun auch die letzten zwei Personen von sich weg und Suna führte sie aus der Halle.

 

„Unsere wertvollen Testobjekte!“, brüllte Racun und gab mit einem Kopfnicken Borroka ein Zeichen. Dieser wandte sich sogleich dem Ausgang zu. Bevor er sich aber bewegen konnte, klammerten sich Alayna und Takeru an seine Beine.

 

„Ich lass es nicht zu, dass ihr diesen Menschen noch irgendetwas antut!“, warnte Takeru und biss in Borrokas Unterschenkel, der ihn lediglich genervt abwimmelte, in dem er zutrat. Dies tat er dann auch mit Alayna und beide lagen nun vor Kioku, die sich allmählich wieder aufrichtete.

 

„Keine Bewegung!“, rief plötzlich eine sehr bekannte Stimme. Die Tür zum Aufzug öffnete sich und heraus traten Pecos, Ryoma, Niku und Yuu. Während Yuu seinen Bogen spannte und direkt auf Racun zielte, zeigten die Läufe der Revolver von Niku und Pecos auf Borroka. Ryoma stürmte zu den Freunden und half ihnen auf.

 

„Nicht du auch noch, Borroka“, sprach Pecos enttäuscht und ging einige Schritte in den Raum hinein, ohne dass er sein Ziel dabei aus den Augen verlor. „Und ich wundere mich noch, warum hier alles ins Chaos stürzt.“

 

Als Alayna sich auf ihren Bruder stützte, bemerkte sie, dass Pecos zitterte. Was war dort unten nur passiert?