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Kapitel 21 – Wichtige Worte

 

 

 

Leise rollte eine Schublade aus dunklem Kirschholz auf. Jumon nahm sich einen silbernen Füller heraus und legte ihn auf eine Schreibunterlage in seinem Sekretär. Aus einem der Fächer, die sich an der Seite befanden, nahm er einige Briefumschläge und Briefpapier heraus und platzierte alles fein säuberlich neben einer großen Kerze. Dann setzte er sich auf seinen mit grünem Stoff gepolsterten Stuhl.

 

„Was tust du, Jumon?“, fragte Sabî müde und neugierig, als sie gerade aufwachte. Sie richtete sich gähnend in ihrem Bett auf.

 

„Ich werde noch ein paar Briefe schreiben.“

 

Sabî stand auf und warf sich eine gestrickte Decke über. Während sie ihren Bauch hielt, ging sie zum Sekretär und streichelte Jumon einmal durch das kurze Haar.

 

„Weißt du“, fing Jumon an zu erklären, als er gleichzeitig seinen Füller in das Fass tauchte, „die ganze Sache wird größer, als ich es erwartet hatte. Sie sind zurück und ich denke, sie haben es diesmal wieder auf Shiana abgese-hen. Ginta wird dies sicherlich verhindern wollen. Aber warum im Alleingang? Ich hatte ihn die letzten Jahre anders eingeschätzt. An der ganzen Sache mit Ginta ist irgendetwas komisch.“

 

„Was hast du jetzt vor?“, fragte Sabî unsicher. Jumon fing an, einen Brief zu schreiben. Dabei kratzte die metal-lene Feder des Füllers über das raue Papier.

 

„Als allererstes muss Sayoko davon erfahren. Sie hat mit ihrer jetzigen Position die meisten Möglichkeiten, zu helfen.“ Jumon hielt kurz inne und sah Sabî an. Er nahm ihre Hand und hielt diese fest, ihre Augen wurden glasig, als einige Tränen in ihr hochstiegen. „Ich werde nicht gehen, wenn du das meinst. Ich kann dich und unser Kind nicht alleine lassen. Aber ich kann auch nicht untätig hier herumsitzen und darauf warten, dass die Weltordnung wieder aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Unsere Freunde müssen davon erfahren. Deswegen schreibe ich Briefe.“

 

Sabî setzte sich wieder auf das Bett. In ihrem müden Zustand konnte sie nicht lange herumstehen.

 

„Du weißt, dass ich da eine Theorie habe über die drei Hüter und dass Shiana eine davon sein könnte. Wenn die Shal genauso weit mit ihren Nachforschungen sind wie ich, wird bald etwas Schlimmes passieren. Meine Theo-rien könnten helfen, die Welt besser zu beschützen. Aber mir mangelt es noch an so vielen Beweisen. Ich wer-de morgen früh noch einmal in die Bibliothek gehen und die Bücher heraussuchen.“

 

Es kehrte wieder Stille ein, welche nur durch das leise Kratzen des Füllers unterbrochen wurde. Sabî schlief schnell wieder ein und Jumon schrieb Briefe.

 

 

 

Takeru schloss das Tagebuch. Er war enttäuscht und verwirrt zugleich. Einerseits verschwanden seine Notizen genauso wie die Tagebucheinträge. Andererseits sprach der Eintrag gerade von Jumon. War das ein Zufall? Was hatte Jumon mit dem Tagebuch zu tun? Er nahm sich vor, dem am nächsten Tag auf den Grund zu gehen.

 

Ausgestattet mit einer Kerze ging er zurück in die Bibliothek. Dabei war er ganz leise, da seine Schwester, Kioku und Eimi in der Mitte des Raumes lagen und schliefen. Die Ungewissheit über das nächste Ziel und die Verbin-dung zwischen dem Tagebuch und Jumon beschäftigten ihn aber so sehr, dass er nicht schlafen konnte. Leise ging er in das nächste Stockwerk, um etwas in den Bücherregalen zu stöbern. Die Bibliothek besaß auf der nörd-lichen Seite eine Treppe, welche alle Stockwerke miteinander verband. Die Stockwerke gingen ringförmig an den Wänden entlang. Dabei konnte man von jedem Stockwerk aus, wenn man sich an die Brüstung zur Mitte des Raumes lehnte, ohne Probleme in die anderen Bereiche blicken. Die Ebenen waren zweieinhalb bis drei Metern hoch und man brauchte, um an die Bücher ganz oben im Regal zu kommen, definitiv eine Leiter. Am Ende jedes Regals, eingehakt in einer Arretierung, befanden sich die Leitern, sodass man diese nur noch zur richtigen Posi-tion schieben oder ziehen musste, um an alle Bücher zu gelangen. Wonach die tausenden Bücher in den Rega-len sortiert waren, konnte Takeru in der Dunkelheit nicht erkennen. Er sah nur mithilfe des Kerzenscheins, wel-che Bücher Jumon wohl häufiger aus dem Regal herausnahm als andere. Oft war es so, dass zwischen sehr ein-gestaubten Büchern welche waren, die kaum eine Staubschicht darauf hatten. Als Takeru durch die Gänge ging und Bücher entdeckte, die schmal oder breit, dick oder dünn, mit schwarzem, farbigem und ledernem Einband waren, dachte er mehr über das Tagebuch nach. Wenn es nicht möglich war, Notizen in das Buch zu schreiben, dann war dieses Buch doch sicherlich mit einer Art Magie versehen. Eine andere Begründung konnte er dafür nicht finden. Warum sonst sollten Einträge erscheinen und verschwinden? Es war so frustrierend, sich immer weiter und weiter von zu Hause fortzubewegen und seinem Vater keinen Schritt näherzukommen. Für einen kurzen Moment blitzte in Takeru der Alltag auf. Er sah, wie er sich morgens Frühstück zubereitete, wie er in die Schule ging und seine Freunde traf und wie abends seine Familie auf ihn wartete. All das war mit einem Schlag plötzlich weg gewesen. Schuld daran war dieses Tagebuch, da war er sicher!

 

Und genau aus diesem Grund konnte er nicht länger Trübsal blasen. Seine Freunde und er befanden sich mitt-lerweile auf einem anderen Kontinent und es war nicht die richtige Zeit, um frustriert zu sein. Wenn also die Notizen aus dem Buch verschwanden, dann müsste er doch nur die Einträge auf einen extra Zettel schreiben und diese dann am Ende richtig ordnen, sodass die Einträge Sinn ergaben. Das war ein guter Plan.

 

Takeru grinste zufrieden. Er war glücklich mit seinem Plan. Während er über die Details nachdachte, hörte er nicht die Schritte, die auf ihn zukamen. Als er gerade dabei war, um ein Regal herumzugehen, stieß er mit einer Person zusammen, sodass er auf den Boden fiel und die Kerze erlosch. Eine dunkle Hand streckte sich ihm ent-gegen. Sie bat ihm an, ihm aufzuhelfen.

 

„Du bist wohl noch nicht so müde wie die anderen, was?“, erkannte Jumon, als er dem Jungen wieder auf die Beine half.

 

„Kann nicht so gut schlafen“, antwortete Takeru kurz.

 

„Ich auch nicht.“

 

„Warum?“, fragte Takeru nach. Jumon deutete auf die Treppe und die zwei gingen leise in das oberste Stock-werk.

 

„Ich mache mir Sorgen um euren Vater“, antwortete Jumon, der Takeru durch die Dunkelheit in das oberste Stockwerk führte. Hier waren die Regale etwas kleiner. Auf der Nordseite des Raumes befand sich eine kleine, halbkugelförmige Glaskuppel, worin ein Tisch und zwei niedrige Sessel standen. Takeru setzte sich, nachdem Jumon auf einen der beiden Sessel gezeigt hatte. Die Aussicht aus der Glaskuppel war gigantisch. Er erkannte ein dunkles Dreieck, welches der Gipfel des Berges war. Darum herum befanden sich unzählige Sterne in verschie-denen Größen und Farben. Takeru staunte nicht schlecht darüber, was sich Jumon hier aufgebaut hatte.

 

Bevor der Junge wieder zu Wort kommen konnte, fuhr Jumon fort: „Ich habe deinen Vater sehr lange auf seiner Reise begleitet. Ich hatte immer das Gefühl, dass wir uns gut verstehen. Aber kurz vor seinem Verschwinden war er anders.“

 

„Ich hatte immer das Gefühl, dass Papa ganz normal war.“ Takeru verstand gerade nicht, worüber Jumon mit ihm gerade reden wollte.

 

„Diese Reise, die euch bevorsteht“, redete Jumon einfach weiter, machte aber eine kleine Pause und schaute dabei in die Ferne, „diese Reise wird euch verändern. Dort draußen werdet ihr auf Leute treffen, die keine gu-ten Absichten haben. Die euch verletzen und angreifen wollen, die gierig und schlecht sind.“

 

Takeru war etwas verwirrt. Jumon redete zwar sehr ruhig, aber er hatte trotzdem das Gefühl, dass der werden-de Vater gerade die Hälfte von dem, was er erzählte, weggelassen hatte.

 

„Euren Vater hat unsere Reise sehr verändert. Und das wird bei euch genauso sein. Ich möchte euch wirklich helfen, deswegen habe ich zwei Dinge vor: Erstens habe ich an Freunde von mir und euren Vater Briefe ge-schrieben. Sie werden euch unterstützen. Als nächstes solltet ihr Sayoko Fusai aufsuchen. Sie lebt in Prûo. Sie kann euch helfen, euren Vater zu finden. Zweitens möchte ich euch etwas Selbstverteidigung beibringen.“

 

„Halt, was meinst du damit!?“, stieß es aus Takeru entsetzt heraus. Er verstand kein bisschen von dem, was Ju-mon ihm gerade sagte. „Briefe, Selbstverteidigung, ich versteh kein Wort!“

 

„Sayoko ist eine wichtige Politikerin auf diesem Kontinent. Sie ist eine sehr gute Freundin von mir und eurem Vater. Sie hat, sagen wir einmal, die richtigen Verbindungen, um herauszufinden, wo euer Vater sein könnte. Ich habe sie im Brief darum gebeten, euch zu helfen. Deswegen müsst ihr sie aufsuchen.“ Jumon sah Takerus zwei-felnden Blick. „Das passiert natürlich sehr diskret. Du musst mir vertrauen, sie wird euch eine große Hilfe sein. Und ich habe auch nicht verraten, dass du dieses Buch mit dir herumträgst.“

 

Vor Schreck sprang Takeru aus dem Sessel auf. „Woher … woher weißt du, dass ich irgendein Buch habe!?“ Ta-kerus Stimme überschlug sich, als er versuchte, dies zu verheimlichen.

 

„Ich habe dich vorhin damit gesehen“, antwortete Jumon kühl und blickte wieder aus dem Fenster. „Abgesehen davon ‚sehe‘ ich das Buch.“

 

„Was meinst du mit ‚sehen‘“, wunderte sich Takeru und fasste sich dabei auf seine Brust, da unter seiner Weste das Buch steckte.

 

Jumon kam ihm näher und drückte seinen rechten Zeige- und Mittelfinger auf seine Schläfe. Plötzlich nahm Ta-keru seine Umgebung nur verschwommen wahr. Als er Jumon ansah, erkannte er nur ein orangenes Licht. Ver-wundert blickte er auf seine Hände und sich selbst. Das, was er sehen konnte, war aber nicht sein Körper, son-dern ein dunkelblaues, großes Licht und ein ganz kleines azurblaues Licht. Nachdem Jumon seine Hand wieder wegbewegte, sah Takeru nach einem Augenzwinkern den Raum wieder ganz normal. Da war der Tisch und das Fenster vor ihm, die Regale und auch Jumon.

 

„Was war das?“, fragte er erstaunt.

 

„Unsere Seelen“, gab Jumon zur Antwort. „Das ist das, was ich sehen kann. Sowie die Geister. Ich kann das alles sehen.“

 

„Warum habe ich in zwei Farben geleuchtet?“

 

„Das zweite Licht ist das Buch, das du unter deine Weste versteckst“, erklärte Jumon ruhig. „Ich würde es mir die Tage gerne etwas näher anschauen.“

 

Takeru wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Entweder war das gerade ein richtig schlechter Trick gewe-sen, oder an der Sache war wirklich etwas dran, dass er seine und die Seele des Buches gesehen hatte. Aber Jumon hatte doch im Wald auch die Geister erscheinen lassen. Dann musste das gerade auch wahr gewesen sein!

 

„Bring es mir bei!“, forderte Takeru und sah Jumon entschlossen in die Augen. „Wenn ich diese Fähigkeit habe, dann werde ich Papa sofort finden können! Dann werde ich auch das Rätsel des Buches lösen können! Und dann wird alles wieder okay sein!“ Er war richtig euphorisch. Mit so einer interessanten und großartigen Fähig-keit musste es doch ein Kinderspiel sein, Leute zu finden.

 

„Es ist kompliziert“, entgegnete Jumon.

 

„Aber so kann ich Papa doch finden! Oder nicht? Du könntest Papa finden!“

 

„So geht das leider nicht“, gab Jumon von sich. „Ich kann dir diese Fähigkeit so nicht beibringen, geschweige denn, dass ich so stark bin, damit deinen Vater zu finden.“

 

Enttäuschung machte sich in Takeru breit. Die Euphorie war mit der einen auf die andere Sekunde verschwun-den. Schwach ließ er sich zurück in den Sessel fallen und warf dabei einen müden Blick hinaus in die Ferne.

 

„Aber es gibt andere Möglichkeiten, wie ich euch helfen kann“, versuchte Jumon den Jungen zu ermutigen. „Ei-nerseits könnte ich etwas über das Buch herausfinden, das ganz offensichtlich etwas mit deinem Vater zu tun hat. Andererseits bringe ich dir gerne eine Art der Selbstverteidigung bei, die deine eigenen, ganz individuellen Fähigkeiten hervorbringt.“

 

Jumon setzte sich wieder und beugte sich vor, um Takeru etwas näher zu sein. Dabei lächelte er ihn an.

 

„Was meinst du, mit ganz individuellen Fähigkeiten?“, hakte Takeru nach.

 

„Das dunkelblaue Licht, das du gerade gesehen hast“, fing Jumon an, „das ist der Schlüssel. Dort versteckt sich dein ganzes Können. Die Seele ist immer der Schlüssel.“

 

„Was muss ich dafür tun?“ Langsam wurde Takeru mit Jumons Vorschlag warm.

 

„Du hast deine Seele nun gesehen. Aber damit du dich weiterentwickelst, musst du sie auch spüren. Ich möchte, dass du versuchst, in dich zu gehen und herauszufinden, wer du bist und was du kannst. Wenn du anfängst, dei-ne Seele richtig zu spüren, entwickelst du deine ganz eigenen Fähigkeiten. Als ich so alt war wie du, habe ich dafür täglich meditiert. Du kannst es damit versuchen, bist du dein Aros spürst.“

 

„Bis ich was spüre?“

 

„Dein Aros“, wiederholte Jumon, „es gibt verschiedene Namen dafür: Chi, Energie oder auch Aros. Das ist eine ganz individuelle Energie, die jeder von uns in sich trägt. Erlangt man Kontrolle darüber, entdeckt man Fähigkei-ten, welche andere Menschen als Superkräfte beschreiben könnten.“

 

„Du meinst, wie du Geister sehen kannst?“

 

„Genau! Du hast also verstanden, was das ist?“

 

„Aber wenn das jeder in sich trägt, wieso haben alle Menschen, die ich kenne, keine solche Fähigkeiten wie du?“ Diesen Punkt hatte Takeru noch nicht verstanden. Wenn Jumon doch gerade über Superkräfte redete, dann müsste doch jeder Mensch ganz besondere Fähigkeiten haben. Aber besonders gut malen oder Fahrrad fahren zu können, das konnte er doch nicht meinen. Zumindest waren dies Fähigkeiten, welche ihn selbst von seinen Klassenkameraden und Freunden unterschied.

 

„Das ist sehr kompliziert. Aros ist in verschiedenen Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt. Außerdem ist die Kontrolle darüber sehr wichtig. Viele Menschen wissen von dieser Energie nichts, sie wissen nichts über ihre eigene Seele und haben deswegen auch keine Kontrolle. Ich selbst erforsche schon lange dieses Thema und bin schon über etliche verschiedene Ansätze und Begründungen gestoßen. Ohne abschweifen zu wollen, solltest du versuchen, dich selbst zu finden. Das ist, wie gesagt, der Schlüssel.“

 

„Der Schlüssel“, wiederholte Takeru murmelnd für sich.

 

„Ich würde vorschlagen“, fuhr Jumon fort, „dass wir morgen weitermachen. Es ist sehr spät und wenn ich dir wirklich etwas beibringen soll, brauche ich jemand Fittes vor mir. Außerdem möchte ich das Training auch dei-nen Begleitern anbieten. Also legen wir uns schlafen.“

 

Mit diesen Worten stand Jumon auf und ging. Als er die Bibliothek verließ, blieb Takeru allein in der Dunkelheit zurück. Eine merkwürdige Stille kehrte ein. Takeru stand auf und lehnte sich mit seiner Stirn an die kalte Fens-terscheibe. Er holte mit seiner rechten Hand den Kompass unter seiner Weste hervor, während er mit seiner linken das Buch festhielt.

 

„Ich werde trainieren“, flüsterte er und erwartete, dass der Kompass dabei etwas anzeigen würde. „Dann werde ich dich finden, Papa.“

 

Dann legte sich auch Takeru zu seiner Schwester, Kioku und Eimi schlafen.

 

 

 

Als Takeru am nächsten Morgen aufwachte, war er alleine in der Bibliothek. Verschlafen suchte er seine Umge-bung ab und als er das Tagebuch neben sich unter seinen Klamotten fand, steckte er es schnell in die Tasche. Er zog sich flott seine Hose wieder an, kratzte sich am Kopf und gähnte noch einmal herzhaft. Dann begab er sich zu den anderen. Zu seiner Überraschung saßen alle am Tisch und tranken Tee. Jumon war gerade dabei, die Über-reste des Frühstücks abzuräumen.

 

„Ihr habt schon gefrühstückt“, murmelte Jumon als er in der Tür stand.

 

„Guten Morgen, Bruderherz“, begrüßte ihn seine Schwester. „Tja, wer zu spät kommt, verpasst halt das Beste.“

 

„Das war jetzt aber etwas gemein“, entgegnete Kioku.

 

„Wir haben noch etwas für dich übrig gelassen“, lächelte Eimi und lud ihn mit einer Handbewegung an den Tisch ein.

 

Als Takeru sich setzte, machten alle einen sehr entspannten Eindruck. Sabî trank genüsslich ihren Tee, während Jumon allen noch etwas nachschüttete. Als Jumon sich dann an den Tisch setzte, wirkte die Runde etwas ko-misch. Takeru aß gemächlich sein Brot und beobachtete seine Freunde. Sie waren so still, als würden sie etwas erwarten. Sabî streichelte ihren Bauch und fasste Jumon erwartungsvoll an die Schulter.

 

„Jetzt wo du da bist, Takeru, kann ich ja anfangen“, sprach Jumon. Er wirkte etwas nervös. Meinte er damit das Training? Takeru überlegte, ob das nicht doch etwas zu früh war. Immerhin hatte er doch nicht einmal sein Früh-stück gegessen.

 

„Ich glaube, es ist der richtige Zeitpunkt, dass ich euch die Wahrheit über eure Eltern erzähle. Sabî und ich ha-ben letzte Nacht noch lang darüber geredet und die Entscheidung ist gefallen. Ihr seid schon so weit gekommen, deswegen braucht ihr das Wissen über die Vergangenheit“, fing Jumon an.

 

Takeru hielt einen Moment inne. Die Wahrheit über seine Eltern? Fragend sah er Alayna an, die auf einmal sehr angespannt aussah. Er beobachtete, wie sie Eimi etwas näher rückte. Kioku stützte ihre Arme auf den Tisch und faltete ihre Hände vor dem Gesicht. Sie sah nun etwas ernster aus als vorher, als hätte sie die Hoffnung, dass Jumon auch etwas über ihre Vergangenheit erzählen würde. Was meinte er mit ‚Wahrheit‘?

 

„Als ich euren Vater richtig kennengelernt hatte, erzählte er mir von seiner Reise. Es fing alles damit an, dass sich eine merkwürdige Organisation in sein Leben begeben und eurer Urgroßmutter das Leben genommen hat-te. Ginta machte sich daraufhin kurzerhand auf den Weg, mehr über diese Organisation herauszufinden. Es dau-erte nicht lang, da kam er auch an diesen Ort, mit anderen Freunden …“

 

Jumon erzählte viele Details über die Reise ihres Vaters. Er ließ die Kämpfe und die Personen, die sie getroffen hatten dabei nicht aus. Gespannt und still saßen die Freunde am Tisch, bewegten sich kein bisschen, als würde jedes Zucken die Geschichte noch mehr in die Länge ziehen oder unterbrechen. Takeru merkte, wie sein Herz plötzlich anfing zu pochen.

 

„Als wir dann an ein Lagerhaus kamen“, fuhr Jumon fort, „trafen wir auf Shiana Aroya. Sie war eine Gefangene der Shal gewesen und wirkte zunächst wie ein ganz normales Mädchen. Was wir aber anfänglich nicht wussten, war, dass sie ganz besondere Fähigkeiten hatte …“

 

Er beschrieb auch die ganzen Eigenschaften von Shiana und wie sie ihre Reise fortsetzten. Wie sie Sayoko hal-fen, Tsuru und Kûosa trafen, Matra in ihrem Dorf kennenlernten, wie Oto und Ryoma die Gruppe verließen und wie sie noch Denji kennenlernten. Er erwähnte die Begegnung mit den Vastus Antishal und alle schlimmen Ta-ten, welche die Shal während dieser Zeit auf den Kontinenten begangen hatten.

 

„Als wir an unserem Ziel endlich alle wieder zusammentrafen, stand Ginta vor der schwierigsten Aufgabe seines Lebens. Er hatte nun nicht mehr nur die Aufgabe, die Welt vor dem Untergang zu beschützen, sondern auch Shiana zu befreien.“

 

Was Jumon nicht erwähnte, war, wie sehr Ginta in Shiana verliebt gewesen war. Er wollte gegenüber den Kin-dern nicht das Gefühl erwecken, dass er sein Zuhause verlassen hatte, weil er seine Frau nicht mehr liebte. Ju-mon erzählte auch nicht, dass ihre Mutter von der Organisation manipuliert worden war.

 

„Der Mond war der Erde bedrohlich nahe. Meiner Meinung nach hatten die Shal damals eine viel zu physikali-sche Einstellung zu der Erneuerung der Welt, welche sie als Fusion mit dem Mond verstanden. Aber das ist eine andere Theorie meinerseits.“

 

Takeru sah Kioku an. Sie formte mit ihrem Mund die Worte ‚Mond‘ und ‚Erneuerung‘. Der Ausdruck, den ihre Augen dabei hatten, wirkte so, als könne sie sich an etwas Bestimmtes erinnern. Jumon fuhr fort, die Geschichte des letzten Kampfes in allen weiteren Details zu erzählen. Er erwähnte, was für eine Kraft ihr Vater entwickelte, wie er Shiana befreite und …

 

„… am Ende opferte sich Shiana mit all ihrer Energie, um die Erneuerung der Welt zu stoppen. Meine Vermutung war immer, dass sie sich in Energie aufgelöst hat, um sich mit dem Mond zu verbinden und somit den Untergang zu stoppen. Die Welt war vor der radikalen Zerstörung gerettet.“

 

Für einen Moment war es still. Takeru hatte schon lange den Teller mit seinem Brot beiseite gelegt. Keiner trau-te sich, etwas zu sagen, bis Alayna ruckartig aufstand und dabei ihre Hände fest auf den Tisch schlug, sodass die Tassen kurz klirrten.

 

„Du willst mir jetzt ernsthaft weismachen, dass unser Vater gegen einen Tyrannen gekämpft hat und dabei fast sein Leben verloren hat, um die Welt vor dem Untergang zu retten!? Unser Vater, der jeden Tag in seinem Büro sitzt, um zu arbeiten, der mit uns einkaufen geht und Geburtstage feiert, der lacht, der mit uns zu Abend isst, der uns immer sagte, wir wären das Wertvollste in seinem Leben und dann einfach verschwunden ist!?“, schrie Alayna durch den Raum.

 

Takeru war von dem Ausbruch seiner Schwester so schockiert, dass er für einen kurzen Moment nicht atmete. Sein Herz pochte auf einmal rasend schnell. Wenn die Geschichte wahr war, was bedeutete das dann für ihn und Alayna? Jumon blickte Alayna tief in die Augen und nickte dabei.

 

„Warum zur Hölle hören wir erst jetzt davon? Warum wird darüber nicht in der Schule berichtet!? Weswegen haben wir denn Geschichtsunterricht? Warum redet keiner darüber, dass unsere Welt fast auf einmal hopsge-gangen wäre!?“

 

„Alayna, beruhige dich“, meinte Eimi und berührte dabei ihren Arm.

 

„Aber ich möchte das wissen!“, wimmelte sie Eimi ab. „Was bedeutet das für uns? Müssen wir nun auch unser Leben riskieren, damit die Welt nicht untergeht? Warum ist unser Vater verschwunden!?“

 

Alayna stiegen die Tränen in die Augen. Takeru bekam dabei ein richtig beklemmendes Gefühl in der Brust und er begann auch zu weinen.

 

„Wenn ich das wüsste“, antwortete Jumon in einem ruhigen Ton, „hätte ich schon längst etwas unternommen. Ich habe keine Antworten auf deine Fragen, aber ich arbeite jeden Tag hart, um all die Puzzleteile zusammenzu-fügen.“ Jumon deutete dabei auf die Bibliothek. „Irgendwo dort versteckt sich die Antwort und ich werde so lange nicht ruhen, bis ich die Geschichte verstehe.“

 

Takeru sprang auf und sprintete in die Bibliothek. Aus seiner Tasche zog er das Tagebuch und rannte zurück. Mit einem lauten Aufschlag knallte er das Tagebuch auf den Tisch.

 

„Ich habe auch keine Antworten, Alayna. Ich habe keine Ahnung, wo Papa ist und was das hier alles soll. Das Ta-gebuch macht mich verrückt, denn es erzählt mir nichts. Ich weiß genau so wenig wie du und wie Kioku und Eimi und Jumon! Wir dürfen jetzt nicht verzweifeln, das habe ich in den letzten Tagen viel zu sehr!“, stieß es aus Ta-keru heraus. Er war richtig in Fahrt. Die anderen hielten beeindruckt inne.

 

„Wir haben immer noch uns. Und solange wir uns haben, können wir auch unsere Eltern finden und herausfin-den, warum dies alles passiert! Alayna ich weiß, dass es nicht leicht ist. Wir sind von der einen auf die andere Nacht aus unserem Leben herausgerissen worden und haben nun diese unglaublich schwierige Aufgabe vor uns. Aber wir schaffen das! Wir haben Freunde gefunden, die uns helfen. Jumon will uns helfen! Er will uns trai-nieren, sodass wir uns beschützen können. Dort draußen sind noch mehr Leute, die unseren Vater kennen und mit jedem Schritt, den wir nach vorne gehen, kommen wir unserem Vater immer näher, ich spüre das! Es ist jetzt nicht die Zeit, wegen allem zu verzweifeln. Wir müssen jetzt erst recht stark sein!“ Takeru blickte in die Runde.

 

Alayna setzte sich wieder. Der Ausdruck in den Gesichtern seiner Freunde veränderte sich. Es fühlte sich so an, als wäre seine Hoffnung auf die anderen übergegangen.

 

„Takeru hat recht“, antwortete Kioku, als sie ihre Hand auf Alaynas legte. „Wir müssen stark bleiben. Wir müssen vertrauen haben in die Leute um uns herum. Sonst werden wir die Antworten nie finden.“

 

„Alayna, du bist nicht allein“, beruhigte sie Eimi. „Dein Bruder hat Recht, zusammen werden wir das hinkriegen und am Ende wird alles wieder normal.“

 

„Deswegen möchte ich euch trainieren“, bot Jumon an. „Wir wissen nicht, was dort draußen noch alles auf euch zukommt, ihr müsst euch verteidigen können.“

 

Takeru ging zu seiner Schwester und umarmte sie von hinten. „Papa und Mama waren so oft für uns da. Sie wa-ren immer da! Jetzt ist es Zeit, das zurückzuzahlen. Alayna, wir sind doch eine Familie.“

 

Er bemerkte, wie sich der Brustkorb seiner Schwester langsam und ruhig hob und wieder sank. Sie ließ einen langen, tiefen Seufzer heraus und löste sich von der Umarmung.

 

„Ihr habt alle Recht“, sah sie ein, „Wir können hier nicht tatenlos herumsitzen. Wir müssen etwas tun.“

 

„Dann lade ich euch ein, ein paar Tage zu bleiben. Dann kann ich mir das Tagebuch anschauen und euch etwas trainieren. Damit ihr weiterreisen könnte.“

 

Sabî lächelte und nickte. „Es wäre schön, wenn ihr als Gäste bleiben könnt.“

 

Jumon stand auf und sagte: „Dann fangen wir doch gleich damit an!“

 

Kapitel 22 – Vido

 

 

 

Ein lautes Rufen unterbrach die Stille des Abends. Es war ein Rufen, welches er noch nie zuvor gehört hatte. Es war so anders; als wenn jemand Aufmerksamkeit wollte oder nach Hilfe schrie. Es war so anders und fremd, dass er in der Sekunde, in der es passierte, wusste, was damit gemeint war. Ohne Zögern brach er auf, um dem Rufen zu folgen.

 

 

 

Als sich Alayna am gleichen Tag, früh morgens in der Mitte der Bibliothek in den Schneidersitz setzte und Jumon sie bat, einmal in sich zu gehen, gingen ihr viele Dinge durch den Kopf. Sie musste daran denken, wie sie an Jumons Haus angekommen waren, wie sie erfuhr, was ihr Vater in der Vergangenheit getan hatte und wie Jumon sie zum Training eingeladen hatte. Er forderte sie auf, sich wie bei einer Meditation von allen Gedanken zu lösen. Alayna fiel das jedoch unglaublich schwer. Innerhalb der letzten Zeit war so viel passiert, dass diese Erinnerungen wie ein Wirbelsturm durch ihr Innerstes fegten. So sehr sie es auch versuchte, es half nichts. Sie seufzte.

 

„Der Schlüssel zu dir selbst“, unterbrach Jumons tiefe Stimme die Stille, „liegt in dir. Ich merke, dass du sehr angespannt bist.“

 

„Ja“, seufzte Alayna wieder. Sie holte einmal tief Luft, ihre Augen waren dabei immer noch geschlossen.

 

„Du magst es mir wahrscheinlich nicht glauben“, erklärte Jumon ruhig, „aber ich kann das gut nachempfinden, dass dein Leben gerade auf dem Kopf steht. Ich möchte gerne etwas versuchen.“

 

„Wie, etwas versuchen?“, fragte sie verwundert. In ihrer Bauchgegend spürte Alayna plötzlich eine merkwürdige Anspannung. Sie wusste immer noch nicht, ob das mit dem Training eine so gute Idee war. Takeru und Eimi hatten sie gestern noch einmal dazu überreden müssen. Und wer wusste schon, was nun auf sie zukam?

 

„Ich möchte, dass wir dich besuchen“, sagte Jumon und Alayna hörte, wie er dabei aufstand. Er stellte sich hinter Alayna und berührte sie dabei an der Schulter.

 

„Wie meinst du das?“

 

„Du wirst sehen.“

 

Gerade noch spürte Alayna, wie sie auf einem Teppich in der Bibliothek saß. Es roch nach alten Büchern und die Stille in dem Raum wurde nur durch leises Knistern des Kaminfeuers unterbrochen. Sie spürte diese merkwürdige Anspannung in ihr. Doch nachdem Jumon im nächsten Moment etwas Leises flüsterte, war diese Anspannung und ihre Orientierung sofort weg. Sie wusste, dass ihre Augen immer noch geschlossen waren, jedoch konnte sie plötzlich etwas erkennen. Sie stand mit Jumon in einem Raum, den sie erst auf den zweiten Blick als ihr altes Zimmer wahrnahm. In diesem sehr kindlich eingerichteten Zimmer saß sie selbst als achtjähriges Mädchen auf einem Stuhl an ihrem Schreibtisch und bastelte an etwas. Es klopfte an der Tür und ihre Eltern kamen herein. Sie sprachen zu ihrem jüngeren Selbst. Dann stand sie auf und ging hinterher.

 

„Papa, Mama“, hallte es in Alaynas Kopf. Sie zögerte keine Sekunde und lief der kleinen Alayna hinterher. Als sie das Zimmer verließ, stand sie plötzlich im Schnee. Sie drehte sich um und erkannte das brennende Gebäude hinter ihr. Es dauerte nicht lange, da erkannte sie, dass es ihr Zuhause war. Diesmal dachte sie sich, diesmal müsse sie hineinrennen und Mama retten. Als sie durch die Flammen rannte und im Gebäude war, befand sie sich plötzlich im Arbeitszimmer ihres Vaters. Er saß an seinem Schreibtisch und war vertieft in seine Arbeit.

 

„Papa, geh nicht“, echoten ihre Gedanken im Raum. Doch ihr Vater hörte sie nicht. Sie versuchte noch lauter zu sprechen, aber es funktionierte nicht. Unglaubliche Trauer machte sich in ihrem Inneren breit und sie fing an zu weinen. Als sie sich ihrem Vater näherte, wurde das Bild plötzlich unklar. Der Raum verdunkelte sich.  So laut es ging, rief sie wieder nach ihrem Vater, doch es fühlte sich auf einmal so an, als würde sie jemand ziemlich stark würgen. In der nächsten Sekunde erkannte sie eine dunkle Gestalt, die sie am Hals packte. Alayna streckte ihre Hände aus, um sich zu verteidigen. Dabei sah sie aber nicht ihre Arme, sondern einen dunklen Nebel, aus dessen Kern noch dunklere Blitze und Flammen schlugen. Eine undefinierbare Angst machte sich in ihr breit. Was war das für ein Nebel? Plötzlich zuckte diese fremdartige Energie durch ihren Körper und sie merkte, wie sie von dem Würger befreit wurde. Ihr Körper schmerzte.

 

„Dort ist es versteckt“, sagte Jumon. Alayna fand sich mit geöffneten Augen in der Bibliothek wieder. Sie saß immer noch im Schneidersitz auf dem Teppich. Es roch wieder nach alten Büchern.

 

Panisch tastete sie ihren Körper ab um herauszufinden, ob sie wirklich wieder in der Bibliothek war.

 

„Was, was war das!?“, rief sie aufgebracht und stand dabei auf. Sie sah sich mehrmals um, damit sie sich wirklich sicher sein konnte, dass dieser Albtraum vorbei war.

 

Zur Beruhigung berührte Jumon sie an der Schulter, vor Schreck wich sie jedoch erst zurück.

 

„Was habe ich da gesehen, Jumon!?“ Ihre Atmung raste. Sie wollte dieses schreckliche Gefühl nicht noch einmal spüren.

 

„Das ist also das, was dich beschäftigt“, meinte Jumon kühl und setzte sich wieder hin. „Es tut mir leid, dass ich dir das zeigen musste. Aber das ist der Schlüssel.“

 

„Was meinst du mit Schlüssel?“ Alayna konnte nicht sitzen bleiben. Nervös ging sie ein paar Schritte hin und her.

 

„Was ist damals passiert, als dich dieser Mann festhielt?“, erkundigte sich Jumon. Er klopfte auf den Boden, damit sie sich ebenfalls hinsetzte.

 

Zögernd nahm sie wieder Platz. Ihre Augen suchten im Raum nach einer Antwort, ihre rechte Hand kratzte unruhig an ihrer Schulter.

 

„Ich wurde festgehalten, von so einem Typen“, erzählte sie nach einer kurzen Pause. „Er hat mir Fragen über meinen Vater gestellt. Irgendwann würgte er mich. Danach fand ich mich in einem halb verwüsteten Raum wieder.“

 

„Das muss sich schrecklich angefühlt haben“, vermutete Jumon. Dabei sah sein Gesichtsausdruck lieb aus. Ein neues Gefühl wurde in ihr immer stärker. Es schien so, als würde Jumon richtig zuhören. Nicht, dass die anderen ihr nicht zuhören würden, doch bei ihm war es irgendwie anders. Es war fast so, als könnte er auch spüren, wie sich diese Erfahrungen anfühlten.

 

„Was ist mit mir passiert?“, fragte Alayna.

 

„Wenn Menschen in einer außergewöhnlichen Situation stecken, entdecken sie meistens Verbindungen zu ihrem Inneren. Wie es mir scheint, hast du in diesem Moment dein Aros entdeckt.“

 

„Mein Aros?“, hakte sie nach. Für sie klang das wie irgendein esoterischer Zauber.

 

„Das ist das, was uns am Leben hält, die Energie, die durch jeden von uns fließt.“ Jumon beugte sich nach vorne und berührte ihre Hand. Auf einmal sah sie nicht mehr Jumon vor sich sitzen, sondern eine dunkle Silhouette, in der ein helles Licht brannte. Auch in sich selbst sah sie so ein Licht.

 

„Durch besondere Geschehnisse oder Training kann man Kontrolle darüber erlangen“, erklärte Jumon weiter. „Diese Energie ist der Schlüssel zu etwas Neuem. Wenn du die Kontrolle über deine eigene Energie erlangst, kannst du großartiges vollbringen.“

 

„So wie du Geister sehen kannst?“, wunderte sie sich. „Werde ich auch Geister sehen?“

 

„Du wirst etwas ganz Eigenes können.“

 

Alayna schloss für einen kurzen Moment wieder die Augen. Sie sah sich mit acht Jahren. Schnell wich das Bild der Vorstellung, wie ihr Vater für die Befreiung der Welt kämpfte. Er stellte sich allen Problemen und kämpfte für etwas Großartiges. Auf einmal ließ sie eine merkwürdige Angst zittern. Es fühlte sich so an, als würde die Zukunft der gesamten Welt auf ihren Schultern liegen. Diese Verantwortung, die ihr Vater ihr aufgebürdet hatte, war zu viel für sie. Alles was sie wollte, war doch nur ein normales, unaufregendes Leben zu führen.

 

„Alayna, wir sind für dich da“, sagte Jumon, um sie zu beruhigen. „Du musst nicht alleine kämpfen, dich dem Bösen stellen und deinen Vater befreien. Das ist eine Aufgabe, die uns alle betrifft. Jeder trägt seinen Teil dazu bei. Wir müssen nur herausfinden, was dein Teil ist.“ Tröstend legte er seine Hand auf ihre. „Du musst mir Vertrauen, Alayna. Ich zwinge dich nicht, zu kämpfen. Niemand zwingt dich, gegen die Welt anzutreten. Das Einzige, was ich von dir möchte, ist, dich selbst verteidigen zu können. Ich könnte es niemals vor deinem Vater verantworten, wenn dir etwas zustoßen würde. Dein Vater ist einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben. Es ist mir wichtig, dass weder ihm, noch euch etwas zustößt. Mein Beitrag ist es, das Wissen der Welt zusammenzutragen, die Nachkommen unserer Generation zu schützen und euch etwas über Selbstverteidigung beizubringen. Wir können uns entscheiden. Ich habe Menschen gesehen, die aktiv kämpften. Vor langer Zeit habe ich mich dafür entschlossen, das Gute zu schützen. Diese zwei Dinge können das Gleiche sein, müssen es aber nicht.“

 

Schnell wischte sie sich eine Träne aus dem Auge. „Du meinst, dass ich nicht kämpfen muss?“, wiederholte sie zögernd. Sie spürte immer noch diese Angst in sich. Aber vielleicht war da etwas dran. Jeder Mensch hatte die Wahl.

 

„Es geht oft nicht um das Müssen, eher um das, was wir wollen. Was willst du, Alayna?“, fragte nun Jumon.

 

„Ich will, dass es meiner Familie wieder gut geht.“

 

„Das, was ich dir gezeigt habe, ist der Schlüssel zu dem, was du beitragen kannst, um dieses Ziel zu erreichen.“

 

„Was, was muss ich dafür tun?“, hakte sie nach.

 

„Versuche etwas zu meditieren, damit du diese Energie in dir spüren kannst. Auch wenn es dir Angst macht, es ist ein Teil von dir und du musst das akzeptieren. Wenn du das schaffst, dich dieser Angst zu stellen, bist du einen großen Schritt weiter.“

 

„Mich dieser Angst stellen“, wiederholte Alayna. Sie wusste, dass dies eine schwierige Aufgabe für sie sein würde.

 

„Probieren wir es gemeinsam?“, bot ihr Jumon an. Dabei lächelte er. Nach einem kurzen Zögern nickte sie und willigte dem Meditieren zu.

 

 

 

Jumon eilte durch die Bibliothek. Seine Nervosität ließ ihn alles um sich herum ausblenden. Zielstrebig riss er die Tür zum Schlafzimmer auf. Kioku und Alayna standen schon neben dem Bett.

 

„Schnell, hol warmes Wasser!“, forderte Kioku und Alayna rannte aus dem Raum. „Wir werden auch Handtücher brauchen.“ Schnell kamen Takeru und Eimi mit dazu. Als Kioku erkannte, dass Jumon an der Tür stand, forderte sie ihn auf, ein desinfiziertes Messer zu besorgen und die Jungs, den Raum zu verlassen. Wie es schien, war der Tag der Geburt gekommen.

 

 

 

Etwas früher am Tag, es war ungefähr Mittag, war Eimi an der Reihe mit seinem Training. Er hatte seine Sachen mitgebracht, wie Jumon es von ihm gefordert hatte.

 

„Nimm deine Sachen bitte mit nach Draußen“, forderte Jumon, der plötzlich hinter einem Regal hervorkam. Kurzerhand folgte Eimi ihm nach draußen. Einige Meter hinter dem Haus befand sich eine kleine Lichtung im Wald. Der Schnee knirschte unter Eimis Füßen. Durch eine kleine Handbewegung forderte Jumon ihn auf, seine Sachen in den Schnee zu legen.

 

„Wie es mir scheint, bist du ein fitter, junger Mann“, fing Jumon an zu beobachten. Eimi nickte. „Eimi, ich denke, dir ist klar, dass du den körperlichen Part in dieser Gruppe übernimmst. Takeru und Alayna sind beide ziemlich jung und nicht gerade die Sportlichsten.“

 

„Ich weiß“, antwortete Eimi. „Ich bin es aus dem Waisenhaus gewohnt, körperlich anstrengende Arbeit zu übernehmen. Schon immer habe ich geholfen, wo ich nur konnte.“

 

„Deswegen möchte ich mit dir zunächst eine körperliche Übung beginnen“, erklärte Jumon.

 

„Über den anderen Teil habe ich mich schon mit Tak und Alayna unterhalten. Ich denke, ich weiß, wie ich damit umgehen muss.“

 

„Dann können wir zur Übung kommen“, lächelte Jumon. Er ging einige Schritte hin und her und überlegte, wie er nun am besten anfangen sollte. „Du hast ein Schwert dabei, Eimi.“

 

Eimi hob es aus dem Schnee und präsentierte dieses. „Es lässt sich zwar nicht aus der Scheide ziehen, aber man könnte es doch trotzdem verwenden, richtig? Es scheint mir relativ stabil zu sein.“

 

„Das ist richtig“, erklärte Jumon, als er mit seiner Hand über die lederne und mit Metall beschlagene Scheide fuhr. „Es ist definitiv eine Möglichkeit, sich und andere zu beschützen, ohne dabei jemanden tödlich zu verletzen. Hattest du schon vorher damit einmal gekämpft oder geübt?“

 

Eimi schüttelte den Kopf. „Ich habe das nur einmal so in der Luft versucht. Ich hoffe ja, dass allein dadurch, dass das Schwert in meinem Besitz ist, Angreifer etwas abschreckt werden.“

 

„Oder es könnte sie provozieren“, entgegnete Jumon. Dann bückte er sich und fuhr mit seiner Hand über den Schnee. Im nächsten Moment lag vor ihm ein Degen aus Eis. Eimis Augen wurden größer.

 

„Das ist eine meiner Fähigkeiten, für die ich trainiert habe“, erklärte Jumon. „Es gibt Menschen, die ähnliche oder noch viel stärkere Fähigkeiten trainiert haben. Um so etwas zu entwickeln, musst du definitiv die Übungen machen, die ich auch Alayna vorgeschlagen habe.“

 

Eimi erstaunten die unglaublichen Fähigkeiten von Jumon. So etwas hatte er zuvor noch nie gesehen. Der Gedanke, dass in dieser Welt noch mehr Menschen existierten, die andere Fähigkeiten hatten, erfüllte ihn mit Ehrfurcht.

 

„Nimm dein Schwert in die Hand. Ich möchte, dass du folgende Angriffe verteidigst“, forderte Jumon und schwang dabei seinen Eisdegen demonstrativ um sich herum. Dabei hatte er seine linke Hand auf den Rücken gelegt. Dann sprintete Jumon auf Eimi zu und versuchte, ihn mit einigen Hieben und Stichen anzugreifen. Instinktiv nahm Eimi das Schwert in beide Hände und versuchte so gut es ging, die Angriffe zu parieren. Dabei wurde Eimi einige Male von dem Degen getroffen. Mit jedem Treffer wuchs Eimi an dieser Stelle am Körper ein kleiner Schneekristall. Nach einigen Minuten pausierten die beiden. Eimi schnaufte.

 

„Du deckst deine rechte Seite noch sehr schlecht“, erklärte Jumon und deutete auf seine mit vielen kleinen Schneekristallen versetzte rechte Seite.

 

Danach gab Jumon ihm einige Tipps, wie er beide Seiten besser schützen könnte. Nach einiger Zeit der Übung und der Umsetzung sah Jumon schon einige Erfolge.

 

Etwas später und nach weiteren zwei Pausen wollte Jumon den nächsten Schritt einleiten. „Dadurch, dass dort draußen Gegner lauern, die einfach unberechenbar sind, möchte ich nun eine weitere Übung machen. Während du versuchst, dich zu verteidigen, versuche nun auch, Gegenangriffe zu starten.“

 

Eimi machte sich bereit und sah Jumon tief in die Augen. Als dieser sich jedoch umdrehte und sich nicht weit von Eimi entfernt in den Schnee setzte, war er erst einmal verdutzt. Jumon legte seine Hand auf den Schnee und bevor Eimi etwas sagen konnte, wuchsen um Eimi herum Männer aus Schnee aus dem Boden, die neben Schwertern aus Eis nun auch Äxte und diverse andere Waffen in den Händen hielten.

 

„Schneemänner!?“, rief Eimi erstaunt.

 

„Schneemänner“, antwortete Jumon kühl. Dann begann der Angriff. Die sieben Männer aus Schnee griffen alle gleichzeitig an. Sie hatten jeweils verschiedene Körpergrößen und auch verschiedene Geschwindigkeiten. Es viel Eimi ziemlich schwer, sich auf alle gleichzeitig zu konzentrieren, jedoch konnte er sich durch die Übungen vorher viel besser verteidigen. Es gelang ihm auch, bei einem Schneemann einen Gegentreffer zu landen, wodurch dieser sich wieder in Schnee auflöste. Leider wurden die übrigen Schneemänner durch den Zerfall ihres Kumpanen nun wesentlich schneller. Eimi musste sich ducken, durch den Schnee stapfen und schnell reagieren. Er kassierte einige Treffer, wodurch seine Motivation aber nicht sank. Er wollte unbedingt versuchen, sein Bestes zu geben. Jedes Mal, wenn Eimi den Angriff einer Waffe mit der Scheide seines Schwertes abblockte, wurde er einige Schritte zurückgedrängt. Er spürte, dass es ihm noch an Körperkraft fehlte. Er war aber erstaunt, dass das Material der Scheide so stabil war, dass nicht einmal Kratzer auf dem Metall zu sehen waren.

 

Es dauerte etwas, bis Eimi es schaffte, einen zweiten Schneemann anzugreifen, wodurch sich dieser auch in Schnee auflöste. Eine Weile später ließ er sich jedoch auf den weichen, weißen Boden fallen. Schnaufend lag er dort und die Schneemänner hielten plötzlich inne.

 

„Ich … kann … nicht … mehr“, schnaufte Eimi. Dabei stieß er kleine weiße Atemwolken in die Luft. Es war viel zu anstrengend, sich durch den Schnee zu kämpfen.

 

„Ich glaube, das reicht fürs erste“, meinte Jumon und steckte sein Buch in die Tasche. Als er aufstand und zu Eimi ging, reichte er ihm eine Hand und half ihm aufzustehen. Mit einem Fingerschnippen zersetzten sich die Schneemänner wieder in ihre tausend kleinen Einzelteile. Danach brachte Jumon ihm eine Thermoskanne mit heißem Tee.

 

„Du hast Potential“, fing Jumon an, „aber du hast auch noch viel zu lernen. Die Gefahren, die dort draußen auf euch warten, sind viel zu schrecklich.“

 

Jumon setzte sich und sah in die dämmernde Ferne. Die Sonne war gerade am Untergehen. Es war kalt. Eimi nahm einen Schluck des heißen Tees. Er schmeckte nach Kräutern und hatte eine starke Süße. Bei dem, was Jumon sagte, hatte Eimi ein merkwürdiges Gefühl. Ihm war zwar schon klar gewesen, dass diese Reise besondere Gefahren mit sich bringen würde, aber das ganze Ausmaß der Gefahr war wie ein großer, unerforschter Fleck auf einer alten Landkarte. Man wusste, dass etwas kommen würde, konnte aber niemals erahnen, was das sein sollte.

 

„Wie hast du das damals geschafft? Einfach dein Zuhause zu verlassen, jemandem zu folgen, den du nicht kanntest und ein Abenteuer zu bestreiten, von dem du nicht wusstest, wie es endet?“, fragte Eimi. Er konnte sich diese Frage nur mit einem Bauchgefühl beantworten. Einem Bauchgefühl, das er hatte, wenn er Takeru und Alayna in die Augen sah. Vor allem Alayna. Wenn sie mit ihm sprach, fühlte er sich besonders.

 

„Weißt du Eimi, das ist nicht so leicht zu beantworten. Als ich Ginta damals das erste Mal traf, sah ich einen Jungen, der in meinem Alter war. Einen Jungen, der etwas Wichtiges verloren hatte. Ich sah ihn an und wusste, dass er eine Antwort hatte. Ich musste nur noch herausfinden, wie sie lautete. Außerdem trug er etwas in sich, das ich zuvor noch nie gesehen hatte, eine Leidenschaft, eine Seele, welche so stark war, dass ich einfach mit ihm mitgehen musste. Ich wusste, dass ich durch ihn eine Antwort finden würde.“

 

Als Eimi diesen Worten lauschte, richtete sich sein Blick in die Ferne. Die Sonne verschwand langsam hinter dem Horizont. Das goldene Strahlen wich auf einem Male einem grünen Blitz, der so schnell kam, wie er auch wieder verschwand. Als die Sonne verschwunden war, fuhr ein kalter Schauer durch seinen Rücken.

 

„Ich verstehe“, antwortete er, ohne es weiter zu kommentieren. Vielleicht würde er durch Alayna und Takeru auch eine Antwort finden.

 

„Lass uns reingehen, es wird spät. Außerdem muss ich noch mit Kioku sprechen“, schlug Jumon vor und stand auf. Eimi deutete ihm an, schon gehen zu können. Er wollte noch einen Moment sitzen bleiben, um den ersten Stern des Abends zu entdecken.

 

 

 

„Uh, ich habe sowas ja noch nie wirklich gemacht“, murmelte Kioku während sie wartete, bis man das Köpfchen des Babys sehen konnte.

 

„Was hast du gesagt?“, fragte Jumon panisch, dessen Aufgabe es war, Sabî zu beruhigen.

 

„Nichts!“, antwortete sie mit einem falschen Grinsen. „Ich glaube, es kommt gleich. Sabî, immer atmen und pressen, atmen und pressen.“

 

Sabî atmete und presste. Ein Schmerz fuhr ihr durch den Körper und ihr Gesicht zog dabei angestrengte Grimassen.

 

„Alayna, halte schon einmal das warme Wasser und die Tücher bereit“, forderte Kioku. Sie hatte tatsächlich noch nie bei einer Geburt mitgeholfen. Es war eher so, dass sie dabei wie einem Instinkt folgte. Langsam war das Köpfchen zu sehen.

 

 

 

Das Feuer knisterte leise. Als Kioku die Bibliothek betrat, standen zwei Sessel und ein kleiner Tisch vor dem Kamin. Auf dem Tisch, der aus dunklem Holz gebaut worden war und dessen Fuß aus geschwungenen, floralen Formen bestand, befanden sich zwei Tassen aus Porzellan und eine alte Teekanne. Kioku kam näher. Jumon legte das Buch beiseite und begrüßte sie mit einem Nicken. Er lud sie mit einer Handbewegung ein, sich in den schweren Ohrensessel zu setzen. Dann goss er etwas Tee in die Tassen und reichte ihr eine davon.

 

„Du hast den anderen heute viel beigebracht“, fing Kioku an. „Ich möchte dir dafür danken. Es beruhigt mich irgendwie, dass vor allem Alayna und Tak etwas darüber lernen, wie sie sich selbst verteidigen können.“

 

„Ihr habt schon einiges durchgemacht, richtig?“, hakte Jumon nach. Kioku nickte. Dabei hielt sie sich unsicher an ihren Oberarmen fest.

 

Jumon beugte sich nach vorne und nahm ihre Hand.

 

„Der Welt steht eine große Veränderung bevor. Wir sind mittendrin. Wir alle stecken in dieser Sache, Kioku“, erklärte Jumon. „Ich habe schon einiges in die Wege geleitet, damit ihr durch diese Sache nicht allein durchmüsst. Du bist also nicht alleine mit der Verantwortung.“

 

„Danke“, sagte Kioku leise.

 

„Ich möchte nun aber zu dem kommen, weshalb ich dich hierherbestellt habe: Dir.“ Jumon sah ihr dabei tief in die Augen. „Wer bist du?“

 

Eine so direkte Frage hatte Kioku nicht erwartet. Sie schluckte und begann etwas zu schwitzen. Das lag einerseits daran, dass das Feuer im Kamin ziemlich warm war, aber auch, dass sie keine Antwort auf diese Frage wusste. Diese verdammte Frage, die ihr immer den Hals zuschnürte. Die jedes Mal dafür sorgte, dass sie sich inmitten dieser großen Welt so unglaublich verloren fühlte. Kioku wollte irgendetwas sagen, schaffte es aber nicht. Jumon ließ ihre Hand nicht los.

 

„Ich zeige dir etwas“, kündigte Jumon an. Im nächsten Moment sah sie um sich herum nichts als Schwärze. Vor ihr befand sich ein flammendes Licht. Jumon erklärte ihr, dass dieses Licht er wäre.

 

„Das ist die Seele. Schau selbst einmal auf dich.“

 

Wie er es wollte, sah sich an sich hinunter. Sie sah ein viel kleineres Licht als das von Jumon.

 

„Versuche an diesem Licht vorbeizusehen. Siehst du es? Konzentriere dich darauf.“

 

Nun versuchte sie, an ihrer Seele vorbeizusehen. Vor ihr erschloss sich eine unendliche Schwärze. Das Licht blendete sie, es war schwierig, noch etwas anderes wahrzunehmen.

 

„Schau genau hin.“

 

Sie sah genau hin. Für einen Augenblick blitzte ein weiteres Licht in einer anderen Farbe. Was war das? Bevor sie sich diese Frage stellen konnte, befand sie sich plötzlich wieder in der Bibliothek. Das warme Feuer knisterte weiter im Kamin. Es roch nach Tee und alten Büchern. Sie blinzelte mehrmals, um sich richtig orientieren zu können.

 

„Das war dein richtiges Ich“, erklärte Jumon.

 

„Ich … Ich verstehe das nicht“, meinte Kioku und sah ihn verwundert dabei an. Was hatte das zu bedeuten?

 

„Als wir uns das erste Mal gesehen haben, hatte ich schon die Vermutung, dass du dein Gedächtnis verloren hast. Du weißt nicht, wer du wirklich bist, richtig?“

 

Kioku nickte.

 

„Ich nehme an, es gab ein Ereignis in deinem Leben, weswegen du dein Gedächtnis verloren hast. Deine wahre Seele befindet sich in dir, das haben wir gesehen. Nachdem du ein neues Ich aufbauen musstest, hat sich etwas wie eine zweite Seele in dir gebildet. Du hast den Bezug zu deinem früheren Leben fast komplett verloren. Aber es gibt Brücken.“

 

„Brücken? Du meinst, ich kann damit herausfinden, wer ich bin? Kannst du mir dabei helfen?“ Sie lehnte sich nach vorne und stützte sich im Sessel ab. In Kiokus Stimme hörte am Euphorie. Vielleicht war es doch nicht so schwer herauszufinden, wer sie war.

 

„Ich kann diese Brücken leider nicht herstellen“, antwortete Jumon kühl und nippte an seinem heißen Tee.

 

Wie auf einen Schlag wich die anfängliche Euphorie wieder der Enttäuschung. „Aber…“, murmelte Kioku.

 

„Diese Brücken können tatsächlich nur von dir oder Etwas erzeugt werden.“

 

„Was meinst du mit ‚Etwas‘?“, hakte Kioku sofort nach. Irgendwie klang das ziemlich kompliziert.

 

„Das ist ziemlich kompliziert“, gestand Jumon. „Bei verlorenen Geistern, die nicht ins Jenseits übertreten können, ist es meistens ein Ereignis oder ein Gegenstand, welches die Brücke darstellt. Wie das bei lebenden Seelen ist, kann ich dir nicht sagen.“

 

Er nahm das Buch in die Hand, welches er vorher gelesen hatte. „Ich habe etwas Recherche betrieben. In diesem Buch steht, dass für eine Verbindung zu einer verlorenen aber lebendigen Seele meistens die Auseinandersetzung mit dem auslösenden Ereignis zu raten ist. Dies ist jedoch eine sehr umstrittene und radikale Methode. Es wurden hierbei schon Fälle beschrieben, bei denen die Beteiligten dadurch dann zu noch stärkeren seelischen und psychischen Verletzungen kamen. Ich bin mir deswegen nicht sicher, was ich darüber denken soll. Es gab ebenfalls einmal eine Theorie über ‚Schlüssel‘.“

 

„Was meinst du genau mit Schlüssel?“

 

„Das möchte ich mit einer Gegenfrage beantworten. Wann war das letzte Mal, dass du eine Verbindung zu diesem Ereignis gespürt hast, dass den Gedächtnisverlust in dir ausgelöst hat?“

 

Kioku schloss dafür die Augen und ging kurz in sich. „Was mich bewegt hat, war das Boot. Wir haben in Vernezye das Boot gesucht, das mir eine Antwort hätte geben müssen. Aber es hat mir keine Antwort gegeben. Dafür erinnerte ich mich, dass ich einmal in das Meer gestürzt bin, als wir auf dem Luftschiff auf diesen Kontinent flogen.“

 

„Siehst du, dies könnte ein Schlüssel sein. Die Erinnerung an den Sturz könnte tatsächlich etwas mit dem damaligen Ereignis zu tun haben. Ich schlage vor, dass du auf deiner Reise Ausschau hältst nach diesen Schlüsseln. Vielleicht ist der ein oder andere dabei, der dir dein früheres Ich zurückbringt.“

 

„Jumon“, meinte Kioku und blickte dabei traurig in die Flammen, „was passiert, wenn ich herausgefunden habe, wer ich bin? Vergesse ich dann mein jetziges Ich?“

 

„Was danach passiert, kann ich dir leider nicht prophezeien, Kioku. Es kann alles Mögliche passieren. Dein Körper kann sich dagegen wehren, sich zu erinnern. Das ist oft der Fall, wenn jemand ein Trauma erlebt hat. Es kann sein, dass deine jetzigen Erinnerungen bleiben. Oder auch nicht.“

 

Die Trauer, die sich nun in Kiokus Augen wiederspiegelte, war so überwältigend, dass sich Jumon verpflichtet fühlte, etwas zu sagen, um diese merkwürdige Stille zu durchbrechen.

 

„Ich höre nicht auf nachzuforschen, Kioku. Das ist das, was ich am besten kann. Erfahre ich irgendetwas Neues, lasse ich dir dies unverzüglich mitteilen.“

 

„Danke, Jumon“, bedankte sich Kioku und stand auf. Sie wischte sich eine Träne aus dem Auge und sah Jumon danach wieder mit einem Blick der Stärke an. „Ich schaue einmal nach Sabî. Sie möchte sicherlich auch einen Tee trinken.“

 

„Danke“, bedankte sich auch Jumon. Er blieb noch für eine Weile sitzen, starrte in das Feuer und blätterte ab und an in einem Buch.

 

 

 

Ein lautes Rufen unterbrach die Stille des Abends. Es war ein Rufen, welches er noch nie zuvor gehört hatte. Es war so anders; als wenn jemand Aufmerksamkeit wollte oder nach Hilfe schrie. Es war so anders und fremd, dass er in der Sekunde, in der es passierte, wusste, was damit gemeint war. Ohne Zögern brach er auf, um dem Rufen zu folgen.

 

 

 

Kioku saß ausgelaugt auf einem Stuhl. Alayna wischte noch etwas Fruchtwasser vom Boden auf. Das Messer und einige verwendete Tücher lagen auf einem anderen Stuhl. Es war alles so schnell passiert. Nun hatte Jumon ein in ein Tuch eingewickeltes schreiendes Kind in den Armen. Er weinte vor Glück und präsentierte der sehr erschöpften Sabî voller Stolz ihren Sohn.

 

Es klopfte und Eimi lugte in das Schlafzimmer.

 

„Ist es passiert?“, fragte er vorsichtig. Kioku nickte, was für Eimi und Takeru das Zeichen war, hereinkommen zu dürfen.

 

„Das Wunder der Geburt“, grinste Takeru über beide Ohren.

 

„Ein Wunder? Ein Glück, dass du das nicht hast sehen müssen“, flüsterte Alayna noch etwas verwirrt vom Prozess der Geburt.

 

„Ist es ein Mädchen oder ein Junge?“, hakte Takeru nach und sah dem Neugeborenen in die Augen.

 

„Es ist ein Junge“, sagte Jumon stolz. Als er es neben Sabî in das Bett legte, beruhigte sich das Kind etwas.

 

„Glückwunsch!“, freute sich Eimi.

 

„Wie soll das Kind eigentlich heißen?“, fragte Alayna, die den Eimer und den Putzlappen vor die Tür stellte. Es fühlte sich für sie sehr merkwürdig an, die Geburt so miterlebt haben zu dürfen. Einerseits war es etwas sehr Ungewöhnliches, andererseits war es auch etwas sehr Schönes gewesen. Sie musste sich unweigerlich vorstellen, wie die Geburt ihres Bruders damals ausgesehen haben musste.

 

„Wir haben uns lange unterhalten darüber“, meinte Sabî und kuschelte sich an ihren Sohn.

 

„Vido soll sein Name sein“, erklärte Jumon und streichelte dabei Sabî durch das Haar.

 

„Das ist ein echt schöner Name“, meinte Kioku. Als sie Vido so ansah, wusste sie, dass diese Erinnerung für immer bleiben würde. Den Anfang eines neuen Lebens zu erleben, das wusste sie, würde man nicht so schnell wieder vergessen, egal ob es mit ihrem jetzigen, oder mit ihrem früheren Leben sein sollte. Dieses gute Gefühl versicherte ihr, dass sie eines Tages die Antworten finden sollte, die sie schon so lange suchte.

 

 

Kapitel 23 – Familien

 

 

 

Langsam fielen die Augen des Neugeborenen zu und es schlief ein. Dabei strahlte Vido Ruhe und Frieden aus, wie es nur ein Baby tun konnte. Takeru gähnte beim Anblick des Kleinen, dabei war er gerade erst aufgestanden. Es war Morgen und die Freunde wollten Sabî und Vido begrüßen. Jedoch waren beide so müde und erschöpft, dass sie sich wieder schlafen legten.

 

Nachdem sie noch eine Weile am Kinderbett gestanden und Vido beim Einschlafen betrachtet hatten, verließen sie zum Frühstück das Schlafzimmer. Leise schloss Jumon hinter sich die Tür, um seine Frau und sein Kind nicht noch einmal aufzuwecken.

 

„Ich mach uns mal Frühstück“, sprach er leise, wie man es oft nur konnte, wenn man gerade aufgestanden war. „Möchte einer von euch einen Kaffee?“

 

Jumon blickte in die Runde und Eimi meldete sich. Die anderen sahen ihn perplex an.

 

„Du trinkst schon Kaffee?“, wunderte sich Takeru erstaunt.

 

„Schmeckt dir das auch wirklich?“, fragte Alayna.

 

Kioku setzte erst zu einer Frage an, hielt sich dann jedoch zurück. Für einen Moment tippte sie nachdenklich ihren Finger an ihr Kinn. „Ich glaube, ich nehme auch einen. Tatsächlich habe ich noch nie einen getrunken.“

 

„Wenn man früher zu Arbeiten anfängt, als die Kids im Waisenhaus aufstehen, dann muss man morgens echt fit sein. Da hilft halt ab und zu ein Kaffee“, verteidigte sich Eimi. Er wirkte fast irgendwie verlegen.

 

Jumon kratzte sich unbeeindruckt am Hinterkopf. Er war zwar eigentlich ein Teetrinker, aber wie Eimi meinte, war manchmal ein Kaffee nötig. „Natürlich habe ich für die Teetrinker auch einen Tee.“

 

Während er Wasser für Tee kochte, füllte er den Trichtereinsatz der Kaffeekanne mit Kaffeepulver. Den unteren, metallenen Kessel füllte er mit Wasser, danach stellte er diesen auf den Ofen. Kurze Zeit später verteilte sich schon langsam der Kaffeegeruch in der Küche. Zu guter Letzt schäumte er mit einem Schneebesen noch etwas warme Milch in einem kleinen Topf auf. Dann gab er alles in verschiedene Tassen und brachte diese den Freunden. Danach holte er Geschirr und deckte zum Frühstück auf. Scheiben aus Brot konnten mit verschiedenem Belag bestrichen oder belegt werden. Dazu gab es noch etwas Obst.

 

„Faszinierend, dass jeder von uns auch mal so klein war“, meinte Takeru, der gerade von einem Apfel abgebissen hatte. „Verrückt auch, dass man in diesem Alter ohne Eltern total aufgeschmissen wäre.“

 

Er nahm wieder einen Bissen. Takeru bemerkte nicht, dass die Stille, die gerade einkehrte, nicht aufgrund von Müdigkeit entstand. Munter aß er weiter, während sich die anderen einen Moment Zeit nahmen, um über ihre Familien nachzudenken. Während Eimi beruhigt davon ausgehen konnte, dass es seinen Eltern gut ging, zweifelte Alayna stark über den Verbleib ihrer Eltern. Kioku kannte ihre Eltern gar nicht, es existierte nur ein beunruhigendes Gefühl in ihrer Bauchgegend.

 

Nach einer Weile, ohne dass jemand etwas sagte, stand Eimi auf. Er beendete sein Frühstück, brachte das Geschirr zum Spülbecken und verabschiedete sich mit den Worten, dass er noch etwas trainieren gehen wollte. Er warf sich seinen Poncho über, griff nach seinem Schwert und ging nach draußen.

 

„Ich schätze, dass Sabî und Vido noch etwas schlafen werden, ich werde noch etwas … erledigen …“, verabschiedete sich auch Jumon und machte dabei einen verwirrten Eindruck.

 

„Was habt ihr heute vor?“, fragte Kioku neugierig.

 

„Ich weiß noch nicht so genau“, meinte Takeru und schlürfte seinen Tee aus. „Alayna, wir könnten doch heute gemeinsam diese Meditationsübung machen?“

 

Normalerweise hätte Alayna nun aus Prinzip schon nein gesagt. Sie fand es seit einigen Jahren immer sehr anstrengend, wenn sie etwas mit ihrem Bruder machen musste. Aber angesichts des großen Unbekannten, das ihnen auf ihrer Reise noch bevorstand, willigte sie ein. Jumons Worte vom Vortag hatten auf jeden Fall einen bleibenden Eindruck bei ihr hinterlassen. ‚Das Gute zu schützen und zu kämpfen, können die gleichen Dinge sein, müssen es aber nicht‘, klangen die Worte in ihrem Kopf nach.

 

So gingen auch die Geschwister zum Trainieren.

 

 

 

So leise es ging, spülte Kioku das benutzte Geschirr und räumte den Frühstückstisch ab. Dabei sortierte sie den Kühlschrank wieder ordentlich, fegte die Küche noch sauber und brachte alles wieder in eine gewohnte Ordnung. Wenn sie schon so lange Gäste in diesem Haus waren, dann war es nur das Mindeste, etwas im Haushalt auszuhelfen. Von draußen brachte sie noch neue Holzscheite herein, sodass man den Ofen weiterhin anfeuern konnte. Sie kochte zwei Tassen Tee und setzte sich dann in das Schlafzimmer, in dem Sabî und Vido schliefen. Der angenehme, würzige Duft des Tees verbreitete sich schnell im Schlafzimmer. Sabî schlief in aller Ruhe. Vidos Augen jedoch bewegten sich schnell unter den Lidern. Träumte er etwa schon? Konnten Neugeborene schon träumen? Und wenn ja, von was?

 

Kioku betrachtete den kleinen Vido in seiner Liege. Er hatte noch keine Haare. Sein Kopf war im Gegensatz zum Körper sehr groß, so wie das bei Babys halt nun war. Seine kleinen Hände griffen unbeholfen und eher reflexartig nach der Decke. Seine Haut sah sehr weich aus.

 

„Wo ist Jumon?“, sprach Sabî ganz leise und richtete sich langsam auf. Sie war aufgewacht.

 

„Er meinte, er müsse noch etwas erledigen“, antwortete Kioku ebenso leise, um den kleinen Vido nicht aufzuwecken.

 

„Oh“, murmelte Sabî. Nach kurzem Innehalten sprach sie weiter: „Hat er erwähnt, was er tut?“

 

Kioku dachte nach. „Nicht wirklich“, sprach sie, „er wirkte dabei etwas zerstreut.“

 

Sabî kicherte. Dabei fuhr sie mit einer Hand durch ihr zerzaustes Haar. Dann kicherte sie wieder.

 

„Was, was ist daran so komisch?“, wunderte sich Kioku, die das Lachen nicht deuten konnte.

 

„Er hat wieder eine seiner Panikattacken. Aber psst …“, sagte sie und hielt sich grinsend den Zeigefinger vor die Lippen, „das darf keiner erfahren.“

 

„Das verstehe ich nicht“, antwortete Kioku und brachte Sabî eine der beiden Tassen. Im Gegenzug lud Sabî sie ein, sich mit auf das Bett zu setzen.

 

„Es ist so lange her, dass ich mich mit jemanden so unterhalten konnte“, grinste Sabî, „wenn ihn etwas überfordert, oder er Angst hat, dann bekommt er manchmal solche Panikattacken. Dann meint er aus heiterem Himmel plötzlich etwas erledigen zu müssen. Er sagt nur nie, was er tut. Weißt du, Jumon ist schon ein sehr konkreter und zielstrebiger Mensch. Wenn er an etwas arbeitet, kann er immer sagen, warum und wofür er das tut. Nur nicht, wenn ihn die Panik überfällt.“

 

Sabî nahm einen Schluck des Tees. Kioku dachte darüber nach. Jemanden besser zu kennen, als er selbst es tat, das gehörte zu einer guten Familie. Und in dieser Sekunde überfiel sie wieder ein unglaubliches Gefühl der Trauer.

 

„Was ist?“, unterbrach Sabî ihre Gedanken. „Ich sehe, du denkst über etwas nach. Du kannst es mir ruhig anvertrauen. Ich habe nicht so viele Menschen in meinem Leben, denen ich das weitererzählen könnte.“ Sabî lachte wieder und nahm einen weiteren Schluck Tee.

 

„Tak hat vorhin etwas erwähnt und meinte, dass der kleine Vido ohne euch total aufgeschmissen wäre“, erklärte sie und blickte rüber zum Kinderbett. „Und er hat Recht, ohne Familie ist man aufgeschmissen. Ich bin es schon ziemlich lange, weil ich nicht weiß, wer ich bin und wer meine Familie ist.“

 

Sie hielt für einen Moment inne, ihre Gedanken waren schwierig zu formulieren. „Ich habe nun Alayna und Tak und … Es ist nicht so, als würde es mir nicht reichen, aber …“ Sie fuhr sich seufzend durch die Haare. „… es reicht mir irgendwie doch nicht.“

 

„Es ist halt nicht deine Familie, richtig?“, antwortete Sabî. Kioku nickte nur zögernd.

 

„Familie ist immer relativ“, erklärte Sabî. „Sie kann sich verändern. Früher habe ich in einem Dorf gelebt, hatte Eltern – also ich habe immer noch Eltern – aber nun habe ich Jumon und Vido. Familie verändert sich mit der Zeit. Man kann auch von keiner Familie zu einer Familie gelangen. So ist es Jumon ergangen.“

 

Kioku hob fragend die Augenbrauen.

 

„Er wurde von seiner verstoßen, weil er nicht einer von ihnen war. Er war das Kind, das Geister beschwor. Das hat keiner verstanden. Darum hat er sich irgendwann allein hier eingenistet und angefangen, ein einsames Leben zu führen. Er hatte seine Geister um sich herum und sonst niemanden. Aber du kannst dir ja ausmalen, wie man wird, wenn man sich nur mit Toten unterhält.“ Sabî lachte nervös. „Was ich eigentlich damit sagen möchte, ist, dass du dir etwas Zeit lassen musst. Familie passiert nicht von heute auf morgen oder auf übermorgen. Sie baut sich auf und entwickelt sich. Vielleicht passiert das bei dir gerade auch, nur merkst du es noch nicht so stark. Du wirst schon finden, wonach du suchst.“

 

„Danke“, bedankte sich Kioku und grinste wieder. Genau in diesem Moment hörten die beiden ein leises Wimmern, was kurzerhand zu einem Schreien wurde. Vido war aufgewacht.

 

 

 

Alayna und Tak setzten sich auf der obersten Etage der Bibliothek gegenüber auf einen Teppich. Im Kamin brannte ein kleines Feuer. Das unregelmäßige Knistern wirkte beruhigend auf die Geschwister. Takeru lud seine Schwester ein, sich zu setzen.

 

„Jumon hat erklärt, dass wir in uns die Antwort finden werden. Also versuchen wir doch einmal, in uns zu gehen.“ Takeru schloss demonstrativ die Augen. Alayna wusste nicht recht, ob und wie das genau funktionieren sollte. Also vertraute sie einmal ihrem Bruder und schloss ebenfalls ihre Augen. Das Knistern des Feuers wurde lauter. Sie spürte den groben Stoff des Teppichs, auf dem sie saß. Sie spürte auch, wie sich ihr Brustkorb beim Atmen bewegte. Ihr linkes Handgelenk juckte und sie kratzte sich. Durch ihren Nacken zog ein merkwürdiger Schmerz, vielleicht hatte sie schlecht geschlafen. Ungeduldig rutschte sie auf ihrem Hintern hin und her.

 

„Und wie funktioniert das jetzt?“, fragte sie ungeduldig.

 

„Ich habe auch keine Ahnung“, gestand Takeru und lachte. „Ich dachte immer, dass Meditieren einfach so passiert, wenn man die Augen schließt. Tatsächlich habe ich es auch noch nie ausprobiert.“

 

„Das ist ja echt klasse. Du hast mal wieder keine Ahnung“, meinte Alayna und fuhr sich mit ihrer Hand durch ihre Haare. „Wie sollen wir das denn hinbekommen, Papa wieder zu finden, wenn wir nicht einmal das können? Du hattest recht, als du vorhin meintest, dass man ohne Eltern aufgeschmissen ist.“ Alayna seufzte und stützte ihren Kopf auf ihrer Hand ab. Dabei sah sie zweifelnd ins Feuer.

 

„Aber das habe ich doch so gar nicht gemeint!“, verteidigte Takeru. „Ich habe nur gesagt, dass, wenn man ein Baby ist, ohne Eltern einfach nicht klarkommt. Wer füttert und wickelt denn einen sonst?“

 

„Aber es stimmt, was du gesagt hast. Wir sind voll aufgeschmissen!“, entgegnete sie wieder, ohne ihrem Bruder dabei wirklich zugehört zu haben.

 

„Stimmt doch gar nicht!“, sagte Takeru lauter. Er stand dabei auf.

 

„Schau doch mal, was wir bisher geschafft haben! Nichts! Nicht einmal meditieren können wir!“ Alayna war so aufgebracht, dass sie aufstand und sich zum Feuer drehte. Was Takeru nicht mitbekam, war, dass sein Kompass unter seinem Shirt anfing leicht zu leuchten.

 

„Hör doch mal, wir machen das gerade beide zum ersten Mal, das ist doch klar, dass wir das nicht gleich hinbekommen! Das ist doch nicht schlimm. Das mit Papa, das kriegen wir schon hin. Schau doch mal, wie Jumon uns hilft. Eimi und Kioku sind doch auch an unserer Seite. Alles wird gut!“ Takeru versuchte sein Schluchzen zu verbergen und so motiviert wie möglich zu klingen. „Wir machen das gemeinsam. Außerdem sind wir unsere Familie. Du und ich, wir kriegen das schon hin. Komm setz dich wieder. Ich habe da eine Idee, wie das gut geht mit dem Meditieren.“

 

„Ich weiß nicht“, antwortete Alayna leise. „Ich bin so aufgebracht gerade. Ich hab so viele Stimmungsschwankungen in letzter Zeit, es ist so schwer sich da zu konzentrieren. Es ist alles so schwer, Tak. Warum muss es immer so schwer sein?“

 

Er legte ihr zur Beruhigung eine Hand auf die Schulter. Dann setzten sich die beiden wieder.

 

„Versuche einmal genau das zu machen, was ich sage“, erklärte Takeru. Alayna seufzte noch einmal und machte genau das, was ihr Bruder von ihr verlangte.

 

„Schließe die Augen und atme tief ein und aus.“

 

Das tat sie. Sie spürte wieder den Teppich, ihren Atem und die Wärme, die das Feuer ausstrahlte.

 

„Konzentriere dich auf das Knistern des Feuers. Hörst du, wie es zischt und knackt?“

 

Die Geräusche des Feuers waren sehr unregelmäßig. Es war nicht so wie bei Regen, dass man einen gewissen Rhythmus festlegen konnte. Auch nach längeren Anstrengungen erkannte Alayna darin kein Muster.

 

„Erinnerst du dich daran, als Mama einmal krank war?“, hörte sie die Stimme ihres Bruders leiser sprechen. „Papa, du und ich haben uns den ganzen Tag um sie gekümmert. Papa war ziemlich erledigt am Abend, als er sich um uns alle kümmern musste. Weißt du noch, als wir aus dem Garten einfach irgendwelche Blumen zu einem Tee zusammen geschüttet haben? Mama hat ihn tatsächlich probiert. Ihr Gesichtsausdruck war so schrecklich, aber sie hat die ganze Tasse ausgetrunken!“

 

Alayna hörte, wie Takeru leise kicherte.

 

„Mama war am nächsten Tag wieder gesund, weißt du noch? Und als …“ Takeru erzählte weiter. Jedoch wurde seine Stimme immer leiser für sie. Auch das unregelmäßige Knistern des Feuers drängte sich immer weiter in den Hintergrund ihres Bewusstseins. Es dauerte noch einen tiefen Atemzug, dann befand sie sich in einem großen schwarzen Raum. Sie sah sich um. Es war so dunkel, dass sie sich selbst nicht sehen konnte. Sie hörte und spürte nichts. Auf irgendeine angenehme Art und Weise fühlte sich diese Leere sehr frei und gut an. Es war kein Gefühl, verloren zu sein, sondern irgendwo sicher zu sein. Dieses irgendwo war sie selbst.

 

Sie sah sich um und ging ein paar Schritte. Im Dunkeln erkannte sie die Umrisse von Türen. Sie ging zu einer näher hin und hörte dumpf irgendwelche Worte, die ihr ziemlich bekannt vorkamen. An einer anderen Tür hörte sie auch andere bekannte Stimmen. Sie öffnete aber keine dieser Türen. Alayna lief weiter.

 

Während sie also noch etwas suchte, von dem sie noch nicht sicher wusste, was es sein sollte, erinnerte sie sich an Jumons Worte. Daran, dass man eine Aufgabe hatte. Sie dachte daran, wie Papa ohne zu zögern sein Zuhause verlassen haben musste und alles zurückgelassen hatte, um seine Aufgabe zu lösen. Ihr war nicht klar, warum er es hat sein müssen. Es hätte doch auch jeder andere Mensch auf diesem Planeten sein können. Aber es war er gewesen und sie war seine Tochter.

 

Auf einmal erkannte sie ein schwaches Flackern am Ende des Ganges. Sie lief diesem Flackern etwas entgegen.  Die Farbe des Lichts war undefinierbar. Als sie näher kam, erkannte sie eine Silhouette. Sie sah aus wie eine Person, die ihr nahe stand. Die Person saß auf dem Boden, die Hände im Schoß zusammengefaltet, den Kopf leicht gesenkt. So wie sie die Silhouette nur schwer erkennen konnte, schätzte sie, dass die Person kleiner sein müsste, als sie es war. Aber alu sie wieder versuchte näher zu kommen, wurde das Licht diesmal schwächer und die Person verschwand.

 

Sie drehte sich um. Dabei fand sie ihren alten Gedanken wieder: die Aufgabe. Was war ihre Aufgabe? Ihren Vater zu finden? Oder war es doch etwas anderes? Was steckte eigentlich hinter diesen ganzen Geschehnissen? Gerade, als sie sich setzen wollte, flog ein warmes, buntes Licht um sie herum. Es fühlte sich vertraut und richtig an, als hätte sie dieses Licht schon einmal irgendwo wahrgenommen. Zögernd streckte sie ihre Hand danach aus und …

 

… Alayna saß in der Bibliothek vor ihrem Bruder, der seine Hände in seinem Schoß gefaltet hatte. Sein Kopf war leicht gesenkt. Sie war wieder zurück. Was auch immer das gewesen war, das Meditieren hatte wohl funktioniert. War sie sich selbst nun näher gekommen? Sie konnte es noch nicht beurteilen. Sie entschloss sich, ganz leise und vorsichtig aufzustehen und zu gehen. Takeru brauchte wohl noch etwas Zeit und die wollte sie ihm geben. Unten angekommen schnappte sie sich eine Jacke und obwohl sie die Kälte verabscheute, entschloss sie sich, einen kleinen Spaziergang zu machen. Die Sonne schien und es fühlte sich richtig an. Der Schnee knirschte unter ihren Füßen. Sie hörte entfernt einige Vögel zwitschern. Aus dem Gebüsch hüpfte für eine Sekunde ein weißer Hase und verschwand in der Luft. Einer der Geister, dachte sich Alayna. Sie entdeckte die Fußabdrücke, von denen sie vermutete, dass sie zu Eimi gehörten und folgte ihnen.

 

An einer kleinen Lichtung angekommen, bemerkte sie, wie er mit dem Schwert übte.

 

 

 

Etwas zuvor war Eimi an der Lichtung angekommen. Sein Schwert steckte er in den Boden in der Nähe einer alten Eiche und lief einige Runden im Kreis, um sich warm zu machen. Die Atemwolken zogen feine, langsam verschwindende Linien in die Luft. Als er spürte, wie seine Muskeln langsam wach wurden und bereit waren, mehr zu leisten, warf er sich in den Schnee und machte dabei einige Liegestütze. Er sah, wie die Schneekristalle beim Ausatmen etwas schmolzen. An seinen Händen bildeten sich dicke, glänzende Wassertropfen. Es war eisig kalt, aber Eimi versuchte sich einzureden, dass es ihn nicht störte. Was einen nicht umbrachte, machte einen härter, so hieß es doch.

 

Takeru hatte irgendwie recht gehabt, dachte er sich. Ohne Familie war man einfach aufgeschmissen. Er wusste das. Er sah es, täglich. Immer wiederholte sich das gleiche Schema, wenn ein neues Kind im Waisenhaus ankam. Es ignorierte alle um sich herum, verzog sich in eine Ecke und ernährte sich die ersten Tage von Luft und Hass. Diese Kinder waren wie paralysiert, unfähig sich zu öffnen, Emotionen zu zeigen, soziale Kontakte zu knüpfen. Sie sprachen nicht darüber, was passiert war, sie halfen sich nicht selbst.

 

Aber dann, nach einigen Tagen, wenn das Alleinsein langsam zum Alltag wurde, wenn es endlich mehr Kraft kostete, deprimiert zu sein, statt sich auf alles Neue einzulassen, dann passierte es endlich. Es konnte eine neue Familie aufgebaut werden. Klar, war es nicht „Familie“ im klassischen Sinne, aber die Kinder fingen dann allmählich an zu lernen, dass gewisse Rollen in einer Familie auch von anderen Menschen eingenommen werden konnten. Eimi empfand sich selbst immer als großer Bruder, zu dem man eine freundschaftliche Beziehung aufbauen konnte. Tatsächlich schaffte er das auch oft. Da er selbst keine Geschwister hatte, war dies dadurch eine ganz besondere Erfahrung für ihn. Aber ein Elternteil konnte er dadurch nicht ersetzen.

 

Wenn er darüber nachdachte, wie seine Eltern zu ihm waren, dann konnte er sich glücklich schätzen. Selbst wenn sein Vater es nicht zugeben konnte, weil er so oft und lange arbeiten war, weil er eigentlich jemand Strenges war, der auf das Einhalten von Regeln und das Ansehen in der Gesellschaft großen Wert legte, war er stolz auf Eimi. Es lag nicht nur daran, dass Eimi diesen Job im Waisenhaus angenommen hatte, sondern auch, dass er ein Ziel hatte und es verfolgte. Eimi schaffte es sogar neben der Arbeit im Waisenhaus, seine Zensuren in der Schule zu halten. Sein Vater war stolz, zumindest erzählte dies seine Mutter oft genug, wenn sein Vater nicht zu Hause war. Seine Mutter war eine sehr liebe Frau. Nachdem Eimi alt genug gewesen war, hatte sie einen Job in einem Altenheim angenommen. Vielleicht war sie von Eimis sozialer Stärke so beeindruckt, dass sie sich entschlossen hatte, ebenfalls etwas Gutes beitragen zu wollen. Er vermisste seine Familie, wusste aber, dass er sich keine Sorgen um das Wohlbefinden der beiden machen musste.

 

Das Waisenhaus – seine zweite Familie – vermisste er ebenso. Die Kinder, die Betreuer, alle, die darin lebten und arbeiteten, gehörten ebenso zu seiner Familie. Er kannte alle beim Namen, wusste was ihr Lieblingsgerichte waren und was sie am liebsten spielten. Eimi kannte alle Eigenheiten und Träume der Kinder.

 

Während er so über die Bedeutung von Familie nachdachte, hatte er sich schon längst sein Schwert geschnappt und machte einige grundlegende Übungen im Schnee. Dabei ging er Bewegungsabfolgen ab, die ihm Jumon am Vortag gezeigt hatte. Er achtete dabei auf die akkurate Ausführung der Bewegung und auf ein steigerndes Tempo. Dies war gar nicht so leicht, denn je länger er das schwere Schwert um sich herum schwang, desto schwieriger wurde es, Kraft für die Bewegungen aufzubringen. Aber vielleicht war das der Trick des Trainings, sich darauf zu konzentrieren, konstante Leistung zu bringen, aber gleichzeitig auch zu versuchen, die Intensität zu steigern. Das Blut pumpte durch seinen ganzen aufgewärmten Körper. Die Kälte, das erschwerte Bewegen durch den Schnee und das Gewicht des Schwertes brachte ihn zum Schnaufen.

 

Plötzlich vernahm er ein Knirschen im Schnee. Bereit zum Kampf streckte er das Schwert in Richtung des Geräusches. Jedoch ließ er ganz erleichtert das Schwert sinken, als er erkannte, wer dort stand: Alayna.

 

„Du trainierst hier ganz alleine?“, fragte Alayna neugierig, dabei schlang sie ihre Arme noch fester um ihren Körper. Ihr war sehr kalt.

 

„Ich denke, Jumon hat etwas Besseres zu tun, als mir heute zu helfen“, grinste Eimi und stützte sich dabei auf sein Schwert. „Wie geht es dir?“

 

Eimi bemerkte, dass Alayna bei dieser Frage kurz innehielt, bevor sie antwortete. Vielleicht lag es daran, dass ihr diese Frage sonst niemand stellte.

 

„Ich weiß, dass es alles ein wenig viel ist“, erklärte Eimi, bevor sie antworten konnte. „Ich möchte stärker werden, damit ich euch beschützen kann, damit Situationen, wie sie dir passiert sind, nicht mehr vorkommen.“

 

„Es war ein schreckliches Gefühl“, antwortete sie ruhig. „Ich habe mich so machtlos gefühlt und ich glaube, ich fühle mich immer noch so. Alle anderen können so viel mehr beitragen, als ich. Sieh dir einmal Jumon an, was er alles tut. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das schaffe. Ich bin nicht wie mein Vater.“

 

Eimi wusste, dass die Geschichte über die Vergangenheit von Ginta, die Jumon erzählt hatte, sie sehr beschäftigte. Aber es klang auch alles wie ein Märchen. Warum war darüber nie berichtet worden? Warum erzählten seine Eltern nichts von den Geschehnissen? Warum lernten sie in der Schule nichts darüber?

 

„Du musst auch gar nicht wie dein Vater sein“, entgegnete Eimi und ging zu Alayna. „Niemand muss so sein, wie irgendwer anders. Jeder muss so sein, wie er selbst ist. Ich glaube ja, dass das eigentlich das ist, was Jumon uns sagen wollte. Warum er will, dass wir trainieren und meditieren. Wir müssen herausfinden, wer wir sind und was wir mit uns machen.“

 

„Wenn das so leicht wäre“, seufzte Alayna. „Ich wäre gerade gern ein sechzehnjähriges Mädchen, welches z Hause auf dem Bett liegt und ein Buch liest, oder irgendwas anderes tut. Etwas anderes als DAS hier.“

 

Er bemerkte, wie unsicher sie sich fühlte. Aber was war in so einer Situation das Richtige zu sagen?

 

„Damit wir diesen Zustand wieder erreichen, müssen wir leider vorerst DAS hier erledigen. Wir erledigen es zusammen, ja? Wir erledigen es für uns, für unsere Familien und Freunde und für all die, die noch kommen werden, so wie Vido.“ Als Eimi diese Worte sagte, musste er unweigerlich grinsen. Alayna grinste auch. Sie biss sich dabei auf die Unterlippe und fuhr sich einmal durchs Haar.

 

„Ja“, sagte sie nur.

 

Er war sich unsicher, wie er den Tonfall deuten sollte. Es klang weder entschlossen noch wirklich unsicher. Sie brauchte einfach noch etwas Zeit, dachte er sich.

 

„Wollen wir zusammen etwas trainieren? Ich würde mich freuen, wenn ich einen Partner hätte“, schlug er vor. Alaynas Blick war erst unentschlossen, jedoch zog sie sich dann ihre Handschuhe über und kam Eimi entgegen. Der Schnee knirschte laut unter ihren Füßen. Eimi zeigte ihr einige Grundtechniken der Selbstverteidigung, dann trainierten sie zusammen für eine Weile.

 

 

 

Eine Weile zuvor …

 

„Konzentriere dich auf das Knistern des Feuers. Hörst du, wie es zischt und knackt?“ Takeru machte eine kurze Pause. „Erinnerst du dich daran, als Mama einmal krank war? Papa, du und ich haben uns den ganzen Tag um sie gekümmert. Papa war ziemlich erledigt am Abend, als er sich um uns alle kümmern musste. Weißt du noch, als wir aus dem Garten einfach irgendwelche Blumen zu einem Tee zusammen geschüttet haben? Mama hat ihn tatsächlich probiert. Ihr Gesichtsausdruck war so schrecklich, aber sie hat die ganze Tasse ausgetrunken!“

 

Takeru kicherte leise.

 

„Mama war am nächsten Tag wieder gesund, weißt du noch? Und als Mama uns erzählte, dass es ganz sicher an unserem tollen Tee gelegen haben muss, waren wir ganz stolz. Sie meinte dann aber, dass wir das nicht mehr machen sollten, denn so ein Zaubertee wirke nur einmal, dann nicht mehr. Wir haben ihr es sehr lange geglaubt.“

 

Er sah auf und sah, dass Alayna ihre Augen geschlossen hatte und einen unglaublich entspannten Ausdruck hatte. Sie war jetzt sicherlich schon am Meditieren. Also wenn es bei ihr funktionierte, sollte es doch auch bei ihm klappen, dachte sich Takeru. Dann schloss er ebenfalls seine Augen und versuchte sich zu konzentrieren. Die Geräusche des Feuers lenkten ihn erst ein wenig ab, dann konnte er aber wieder klare Gedanken fassen. Er dachte darüber nach, was Jumon ihm über seinen Vater erzählt hatte, dass er die Welt rettete und all dies. Er dachte über die Reise nach, das Fliegen mit dem Luftschiff, den Job, die brennende Stadt und … das Knistern des Feuers wurde wieder stärker. Da, er sah vor seinem inneren Auge plötzlich einen Funken Feuer. Er war klein und hell und tänzelte ungeduldig vor ihm herum. Als er sich stärker auf den Funken konzentrierte, wurde dieser stärker und stärker. Er nahm eine rechteckige Form an und plötzlich sah er sein Zuhause in Flammen aufgehen. Eine Hitzewelle kam ihm entgegen und peitschte über seine Haut. Er verspürte auf einmal ein Gefühl, das einem die Kehle zuschnürte. So etwas spürte man immer nur, kurz bevor man in Tränen ausbrechen würde. Aber es geschah nicht; das einengende Gefühl blieb. Das Haus brannte. Er konnte nichts machen, außer zuzusehen. So sehr er es auch versuchte, sich ein anderes Bild herbeizuwünschen, es ging einfach nicht. Könnte er es doch nur auspusten, dieses Feuer. Könnte er doch nur seine Familie dadurch retten, dieses Feuer einfach auszublasen.

 

Da entdeckte er etwas Grünes über dem Haus. Oder war es doch eher Blau? Eher Türkis? Er konnte es nicht genau erkennen. Es war wie ein samtenes Tuch, das sich formlos über den schwarzen Himmel schlängelte und dabei leicht leuchtete. Seine Aufmerksamkeit wurde kurz darauf gezogen, bis das Feuer wieder sein ganzes Bewusstsein einnahm. Es war verschwunden.

 

Was Takeru dabei nicht bemerkte, war, dass sein Kompass, den er immer unter seinen Klamotten trug, leicht anfing zu leuchten.

 

Takeru strengte sich an und schaffte es, in seiner Vorstellung in das Haus zu gelangen. Die Hitze der Flammen nahm er dabei gar nicht mehr war. Es knackste und knisterte und grelle Funken blitzten und tanzten überall hin und her. Das Haus sah aber von innen gar nicht aus, wie sein Zuhause, es waren nur leere, brennende Räume darin, die ihn kaum bekannt vorkamen. Er machte einen Schritt nach dem anderen und versuchte, sich dabei zu orientieren. Je tiefer er in das Haus stieg, desto kälter wurde es mit der Zeit. Kalte, leere Räume reihten sich nacheinander wie Steine in einem Flussbett. Viel Zeit verging, aber Takeru fand nichts. Er wurde immer mehr enttäuscht. Bis er aus seiner Meditation aufwachte.

 

Vor ihm brannte nur noch eine kleine Flamme im Kamin. Alayna war verschwunden. Wie, als müsste er diese Erfahrung erst noch verarbeiten, blieb er noch eine Weile sitzen und ließ die Eindrücke auf sich wirken. Nachdem er sich dann bereit fühlte, stand er auf und sah sich in der Bibliothek um.

 

„Fühlt sich so meditieren an? Ich hoffe, das ist nicht immer so“, murmelte er leise vor sich hin, noch etwas zerstreut von der Erfahrung.

 

Takeru ging hinunter in das zweite Stockwerk; bisher hatte er sich die Bücher aus diesem Bereich noch nicht genauer angeschaut. Er schlenderte durch die Regale, konnte sich aber auf die Buchtitel nicht konzentrieren. An einem Tisch an der anderen Seite der ringförmigen Ebene entdeckte er Jumon, der über einige Büchern gebeugt war und las. Takeru kam näher und sprach ihn mehrere Male an, Jumon reagierte jedoch nicht.

 

Erst, als Takeru ganz nah bei ihm stand, seine Hand auf Jumons Schulter legte und dabei seinen Namen sagte, schreckte Jumon erschrocken auf. Jumon schnaufte.

 

„Tak, was, was machst du denn hier?“, sprach Jumon verwirrt.

 

Geschockt stand Takeru da und betrachtete Jumon mit weit geöffneten Augen. „Ich wollte nur hallo sagen“, rechtfertigte er sich.

 

„Ich habe dich gar nicht wahrgenommen“, erklärte Jumon. „Ich war wohl etwas vertieft in dieses Buch.“

 

Takeru merkte, wie Jumon sich an seine Brust griff, als würde sein Herz rasen. Der Ausdruck in seinen Augen wirkte panisch, fast orientierungslos.

 

„Was liest du da?“, fragte Takeru und deutete auf das geöffnete Buch.

 

„In diesem Buch wird erklärt, aus welchen Pfeilern die Welt besteht“, erzählte Jumon, atmete danach zweimal tief ein und aus. „Materie, Zeit und Raum sind Grundpfeiler unseres Universums.“

 

„Das klingt ziemlich wissenschaftlich“, beobachtete Takeru. „Was genau ist damit gemeint?“

 

„Materie ist all das, aus was wir bestehen. Deine Haare, deine Haut, unser Essen, die Erde, die Luft, unser Planet. All das hat Materie. Diese Materie befindet sich in einem Raum; du kannst dich durch ihn bewegen und unser Planet dreht sich um die Sonne.“

 

„Soweit verstehe ich das“, grinste Takeru.

 

„Und als letztes bleibt die Zeit. Zeit vergeht wie ein Fluss, wie eine Welle, die über uns hereinbricht. Jede Sekunde kommt und vergeht und wird so nie wieder passieren. So ist zumindest die Annahme dieses Wissenschaftlers. Es gibt Leute, die andere Theorien haben.“

 

Takeru schaute aus einem der Fenster der Bibliothek. „Apropos Zeit, es ist sicherlich schon mittag.“

 

Panisch schaute Jumon auf. „Es ist schon Mittag? Oh nein, ich habe ganz vergessen, Sabî und euch etwas zu Essen zuzubereiten!“ Er sprang auf und hetzte hinunter in die Bibliothek. Takeru blieb alleine an dem Arbeitstisch stehen und betrachtete die Bücher und Jumons Notizen.

 

Auf einem Papier sah er die drei erklärten Begriffe in einem Dreieck aufgezeichnet. Dabei standen einige unleserliche Notizen. Eine Sache war jedoch farblich besonders hervorgehoben. Es war ein Name: Shiana. Irgendwie klang er sehr vertraut, Takeru konnte aber ihn gerade nicht zuordnen. Sein Kopf brummte.

 

 

 

Kurzerhand darauf entschied er sich, ebenfalls zurückzugehen. Als er durch die Tür der Bibliothek zurück in die Küche gelangte, sah er, wie sich Eimi und Alayna an einem Tee wärmten. Sabî saß auf der Eckbank und wiegte Vido in ihren Armen, damit er einschlief. Dabei schmiegte sich Jumon ganz eng an seine Frau und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Er wirkte sehr erschöpft. Kioku stand am Herd und bereitete etwas zueEssen für die Leute zu. Mit einem freundlichen Lächeln begrüßten ihn die anderen. Als er sich an den Tisch dazusetzte, schoss ihn ein Gedanke durch den Kopf: ‚Jeder hat auf irgendeine Art und Weise eine Familie.‘

 

In diesem Moment erkannte er, dass er neue Familienmitglieder gewonnen hatte.

 

 

Kapitel 24 – Fahrt ins Tal

 

 

 

Es war einer dieser kühlen, ruhigen Morgen, an denen man aufstand und das Erste, was man tat, darin bestand, einfach nur aus dem Fenster zu starren. Das war zumindest das, was Alayna tat, als sie aufwachte. Die aufgehende Sonne strahlte in grellem Orange und Gelb und brachte den Schnee zum Glitzern. Die Schneedecke war unberührt und sah aus wie ein samtenes Kissen, das einfach auf dem Boden lag. Alayna gähnte herzhaft und entdeckte danach ein weißes Reh, das zwischen den Bäumen hervortrat und keine Fußspuren im Schnee hinterließ. Ihr nächster Gedanke galt dem gestrigen Tag, als sie mit Eimi zusammen trainiert hatte. Er hatte ihr verschiedene Möglichkeiten gezeigt, Angreifer abzuwehren. Dabei war er sehr behutsam mit ihr umgegangen und hatte sie das ein oder andere Mal zum Lachen gebracht. Seitdem sie Eimi kennengelernt hatte, hatte es keinen Moment gegeben, in dem sie es nicht gemocht hatte, was er gesagt oder getan hatte. Normalerweise passierte es ziemlich schnell, dass sie irgendeine Kleinigkeit an Menschen fand, die sie nervte. Selbst bei ihrer besten Freundin Kaly war es so gewesen, dass sie nach kurzer Zeit genervt gewesen war. Das passierte immer, wenn sie anfing, über irgendwelche Jungs zu reden, die Alayna gar nicht kannte und dabei so tat, als müsste man sie unbedingt kennen müssen. Es passierte so oft, dass Alayna in diesen Situationen schon gar nicht mehr zuhörte. Sie schaltete dann ab und dachte an etwas anderes. Das war zwar nicht nett, aber so konnte sie zumindest ihre Freundschaft mit Kaly lange am Leben halten, ohne dass es eskalierte.

 

Tatsächlich war das bei Eimi ganz anders. Da war nichts, was nervte. Alayna genoss es, dass er so ruhig war und immer so wirkte, als wüsste er ganz genau, was er sagen sollte. Er verstand sich gut mit ihr und brachte sie zum Lachen und auch zum Schmunzeln. Diese ganz besondere Ausstrahlung wiegte sie in Sicherheit. Sie drehte sich herum und sah, wie Eimi neben Tak auf dem Boden lag, die Decke hatte er in der Nacht von sich weggestrampelt. Seine Haare waren zerzaust, ein Stückchen seines Shirts stecke in seinen Boxershorts und warf knittrige Falten. Sein Gesichtsausdruck war friedlich.

 

 

 

Der Morgen verging irgendwie sehr schnell. Sie sah zu, wie ihr Bruder panisch all sein Zeug in seine Tasche stopfte und dabei keine Ordnung beachtete. Er aß sein Frühstück sehr flott, ging rasch ins Badezimmer und stolperte beim Zurückkommen. Alles was er tat, war sehr hektisch, als würde er es gar nicht erwarten können, bald loszugehen. Aber das war der Eindruck, den sie von ihrem kleinen Bruder schon immer gehabt hatte. Egal bei welchen Aktionen, Ausflügen, dem Urlaub, dem ersten Schultag oder sonst auch immer war Tak dabei einfach nur sehr aufgeregt gewesen und hatte gewollt, dass es so schnell wie möglich passierte. Das führte das ein oder andere Mal auch dazu, dass die Familie echt Probleme bekam.

 

Den einen Herbst hatten sie einen Ausflug in eine Stadt im Süden machen wollen. Die kleine Reise sollte den ganzen Tag dauern. Also packten sie genug zu trinken ein, Regenjacken, falls das Wetter doch schlechter werden sollte, kleine Snacks und etwas Unterhaltung für die Zugfahrt. Alayna schaffte es, dies alles ordentlich einzupacken. Takeru war dabei so nervös, dass er das Packen fast vollständig vergessen hätte. Als ihre Eltern das bemerkten, waren sie schon auf halbem Weg zum Bahnhof. Also packte ihr Vater Takeru Huckepack, rannte zurück zum Haus und stopfte seinem Sohn noch schnell etwas wärmere Klamotten und etwas zu trinken in seinen Rucksack. Alayna wartete derweil mit ihrer Mutter am Bahnhof und als ihr Vater und Takeru zurückkamen, schafften sie es gerade noch rechtzeitig in den Zug. Früher hatte Alayna so etwas unglaublich geärgert. Aber gerade sah sie gleichgültig zu, wie ihr Bruder von der einen in die andere Ecke flitzte, weil er noch etwas vergessen hatte, oder weil er sich an etwas erinnerte, was er noch erledigen musste. Was auch immer er da erledigen musste.

 

Kioku lächelte. Alayna sah Kioku dabei zu, wie sie von Sabî, die den kleinen Vido im Arm hielt, einige Nahrungsmittel bekam und dabei ehrlich lächelte. Sie hatte das Gefühl, dass Kioku und Sabî sich sehr gut verstanden. Die Art und Weise, wie sie sich gegenseitig ansahen, wie sie immer mal wieder kicherten, weil die eine der anderen sagte, wie nett und toll sie die andere fand, zeigte Alayna, dass sich eine neue Freundschaft entwickelte. Auch der kleine Vido hatte wohl seinen Gefallen an Kioku gefunden, denn er war immer ganz ruhig und fasziniert von der Frau mit der Narbe und beobachtete sie mit seinen großen Augen ganz genau. Manchmal meinte Alayna etwas wie ein Lachen in seinem Gesicht zu sehen. Aber vielleicht war es auch nur ein Schmunzeln.

 

Jumon und Eimi saßen noch beim Frühstück. Während Jumon einige Bücher wälzte und dabei einen Tee trank, saß Eimi ruhig neben ihm und aß genüsslich sein Brot. Diese Ruhe, die er ausstrahlte, hüllte Alayna auch nun ein. Es war wie eine Decke aus leichtem Stoff, die sanft um ihre Schultern gelegt wurde. Ihre Atmung wurde ruhiger und sie fühlte sich sicher. Kurz darauf stand Jumon auf und ging in die Bibliothek. Kurzerhand kam er wieder und deutete, dass sich alle an den Küchentisch setzen sollten.

 

 

 

„Ich habe in der letzten Nacht noch einige Vorbereitungen getroffen“, fing Jumon an zu erklären. „Zunächst habe ich euch eine kleine Karte vorbereitet, damit ihr den Weg zur Gondelstation etwas weiter oben auf dem Berg findet.“ Er übergab Eimi ein zweimal gefaltetes Papier, der dieses daraufhin öffnete. Er entdeckte eine kleine Karte, auf dem Jumons Haus abgebildet war. Von dort aus führte ein Pfad in Richtung Nordwesten zur Gondelstation. Es waren auch die Abzweigungen eingezeichnet, damit die Freunde wussten, wo sie in welche Richtung abbiegen sollten.

 

„Außerdem solltet ihr mit dem Inhalt dieses Umschlages die Fahrscheine für die Gondel und für den Zug bezahlen können. Ich habe noch etwas zusätzlich dazugetan, für Notfälle“, meinte Jumon und überreichte Kioku den Umschlag. Diese öffnete ihn und zählte das Geld darin. Als sie damit fertig war, weiteten sich ihre Augen.

 

„Danke, Jumon, das wäre wirklich nicht nötig gewesen“, bedankte sie sich, obwohl sie genau wusste, dass das Geld nötig war.

 

„Jumon und ich kaufen ja nur Nahrungsmittel im Dorf, ganz selten kauft er sich dann irgendwo Bücher. Wir haben genug davon und es macht uns eine Freude, wenn wir helfen können“, erläuterte Sabî und fasste Kioku dabei mit einem herzlichen Lächeln an der Schulter an. Dankbar griff Kioku nach Sabîs Hand.

 

„Das war noch nicht alles“, erklärte Jumon weiter und griff nach einem weiteren Briefumschlag. „Ich weiß, dass Sayoko eine mächtige Politikerin ist. Ich kann mir vorstellen, dass ihr am Anfang Schwierigkeiten habt, zu ihr durchzukommen, obwohl ich ihr schon einen Brief geschrieben habe. Deswegen habe ich hier einen weiteren Brief vorbereitet, der euch vor … sagen wir einmal Problemen schützt. Die Schutzmaßnahmen in Prûo sind hoch und in diesem Land passieren schlimme Dinge. Wenn ihr diesen Brief vorzeigt, werden die Leute wissen, was ihr für Freunde habt. Das sollte euch in der ein oder anderen Situation vielleicht helfen.“ Er überreichte Alayna diesen Umschlag. Sie stecke ihn sogleich in ihre Tasche, ohne wirklich zu überprüfen, was darinstand. Sie vertraute Jumon, obwohl sie irgendwie das Gefühl beschlich, dass er etwas verheimlichte.

 

„Eine letzte Sache habe ich noch“, sagte Jumon und drehte sich zu Takeru. „Hier ist ein Notizbuch für dich. Damit kannst du notieren, was mit deinem Buch passiert. Vielleicht, wenn du etwas Besonderes herausgefunden hast, kannst du mir einen Brief schreiben?“ Jumon schob Takeru Stifte, ein Notizbuch und ein Briefset zu seinem Platz. Takerus Augen wurden groß und er bedankte sich. „So kann ich dir auf jeden Fall helfen, deinen Vater schneller zu finden.“

 

„Danke, Jumon“, sagte Takeru und blätterte durch das Notizbuch. Die Seiten waren aus festem Papier und es war in etwa genauso dick wie das blaue Buch, das er tief in seine Tasche gesteckt hatte.

 

Es war wirklich großartig, wie Jumon der Gruppe half. So, wie er sich gegenüber ihnen verhielt, musste er früher ein richtig guter Freund ihres Vaters gewesen sein. Unweigerlich musste Alayna an die Situation denken, als sie Jumon vor einigen Tagen das erste Mal draußen im Schnee begegnet waren. Sie konnte es kaum fassen, dass jemand behauptete, ihren Vater so gut zu kennen. Aber mittlerweile hat sich wirklich herausgestellt, dass er die ganze Zeit die Wahrheit sprach. Ist Freundschaft doch etwas anderes, wenn man erwachsen war? Bis jetzt dachte sie immer, dass Freundschaft bedeutete, sich zumindest jeden zweiten Tag zu sehen, sich alle Geheimnisse zu erzählen und immer zusammenzuhalten. Sich nicht zu melden, galt für sie als höchster Vertrauensbruch. Ob Kaly das verstand? Alayna hatte sich jetzt eine sehr lange Zeit nicht bei ihr gemeldet, was ihren besonderen Umständen zu verdanken war. Ob sie sich Sorgen machte? Alayna gestand sich gerade selbst ehrlich ein, dass ihre Gedanken in letzter Zeit wenig mit ihrer besten Freundin zu tun gehabt hatten. Aber sie war sich sicher, wenn ihre Freundschaft das hier überlebte, dann hatte sie wirklich eine Freundin fürs Leben gefunden. Trotzdem blieb ein merkwürdiges Bauchgefühl, eine Art Vorahnung, dass Freundschaft vielleicht doch etwas anderes bedeuten sollte.

 

 

 

Ausgestattet mit einem vollen Bauch, ihren warmen Winterklamotten und den Sachen, die Jumon ihnen geschenkt hatte, waren die Freunde nun bereit weiterzuziehen.

 

„Wenn ihr etwas Neues über den Verbleib eures Vaters herausfinden solltet, schreibt mir doch bitte. Andersrum versuche ich euch zu kontaktieren, wenn ich etwas über diese ganze Situation erfahren sollte und weiß, wo ihr seid. Denkt an das Training, das ich euch gezeigt habe. Es ist wichtig, dass ihr euch gegenseitig beschützen könnt“, verabschiedete sich Jumon von den Freunden. „Erschreckt euch nicht, wenn ich ein paar Geister damit beauftrage, euch noch eine Weile zu folgen. Nur, damit ich weiß, ob ihr den Weg zur Gondelstation findet.“

 

„Ich hoffe, ihr habt eine sichere Reise“, verabschiedete sich Sabî und umarmte jeden der Freunde noch einmal fest. „Das Essen, welches ich euch eingepackt habe, macht sehr satt. Hier oben auf den Bergen verbrauchen die Leute immer viel Energie. Wir haben schon früh gelernt energiereiches Essen zuzubereiten.“

 

Vido brachte zum Abschied etwas heraus, dass sich entfernt wie ein Lachen anhörte.

 

„Danke für alles“, bedankte sich Kioku und umarmte Sabî ein zweites Mal.

 

„Wir sind euch wirklich dankbar. Ihr seid eine enorme Hilfe für uns“, sagte Eimi und lächelte.

 

„Wir werden Papa sicher schnell finden!“, kündigte Takeru an und klopfte dabei auf seine Tasche, um auf die Geschenke zu deuten.

 

„Danke, Sabî, danke, Jumon. Wenn wir Papa finden, erzähle ich ihm, was für tolle Freunde er hat“, sagte auch Alayna.

 

Nun konnten die Freunde losziehen, zu ihrem nächsten großen Ziel: Prûo.

 

 

 

Eimi, der die Karte von Jumon erhalten hatte, führte die Gruppe einen Pfad entlang, der nur durch die Hilfe der Karte wirklich gut zu finden war. Der unberührte Schnee machte es schwer, den richtigen Weg zur Gondelstation zu finden. Dadurch, dass Jumon aber besondere Wegweiser eingezeichnet hatte, wie besonders große Steine mit einer besonderen Form, eine Gruppe von Bäumen oder Weggabelungen, konnte Eimi die Gruppe sicher einen Weg entlangführen.

 

Alayna fand es sehr anstrengend, den Berg hoch zu laufen. Das Wetter war zwar schön, die Sonne schien, aber das helle Licht und die Reflektion des Schnees blendeten sie häufig. Die klare Luft hatte eins mit dem pulvrigen Schnee gemeinsam: sie waren beide besonders kalt. Immer wieder, als sie so durch den Schnee stapfte, gelangte etwas davon in ihren Schuh. Jedes Mal lief ihr dabei ein kalter Schauer über den Rücken. Die anderen hatten kein Problem durch den Schnee zu laufen. Ihr kleiner Bruder war damit beschäftigt, die Geistertiere zu entdecken, die das ein oder andere Mal hinter einem Busch oder zwischen den Bäumen eines kleinen Waldes herauslugten und überprüften, ob die Freunde noch auf dem richtigen Pfad waren. Kioku war fasziniert von den Gipfeln des Gebirges, welche man in der Ferne sehen konnte. In diesem Gebirge konnte man einige schöne Gipfel betrachten, die sich alle durch ihre unterschiedlichen Formen voneinander unterschieden.

 

Während der Wanderung sprach keiner. Die Eindrücke, die die Freunde in den letzten Tagen gesammelt hatten, brauchten etwas Zeit, bis sie sich setzen konnten.

 

Alayna musste sich vorstellen, wie ihr Vater sein Zuhause verlassen hatte, allen den Rücken gekehrt hatte, ohne über die Menschen nachzudenken, die er zurückgelassen hatte. Sie musste sich unweigerlich den Gesichtsausdruck vorstellen, den ihr Vater hatte, wenn er konzentriert an etwas arbeitete. Vielleicht hatte er damals, als er ungefähr so alt war, wie sie jetzt, den gleichen Gesichtsausdruck gehabt. Sie fragte sich auch, ob er Angst gehabt hatte. War es Angst vor dem Unbekannten gewesen, in das er sich gestürzt hatte? Sie hatte schon die ganze Zeit über Angst. Da war einerseits die Sorge, dass ihrer Familie etwas zustoßen würde und andererseits ein beunruhigendes, tiefes und dumpfes Gefühl in ihrem Bauch, eine Vorahnung, dass am Ende nichts mehr so sein würde wie früher. Sie würde sich ändern, genauso wie es damals mit ihrem Vater passiert sein musste. Sie wusste, dass er sich der Angst und den Sorgen, die er gehabt hatte, gestellt hatte, um etwas zu verändern. Sicherlich waren die Freunde, die er auf seiner Reise kennengelernt hatte, eine große Hilfe für ihn gewesen. So wie Jumon auch für sie jetzt eine große Hilfe gewesen war. Zum ersten Mal auf dieser Reise fühlte sie sich plötzlich beruhigt. Es war anders als damals, als Ryoma aufgetaucht war und den Freunden die Richtung gezeigt hatte oder als sie auf Kioku getroffen waren und sogar anders, als Eimi entschlossen hatte, mit ihnen zu reisen. Es war allein die Vorahnung, dass dort draußen jemand da war, der mit ihrem Vater befreundet war und auch helfen wollte.

 

 

 

Während die Sonne gegen Mittag ihren höchsten Stand erreichte, entdeckte Eimi in der Ferne ein Gebäude, welches die Gondelstation sein musste. Er winkte seinen Freunden und ging etwas schneller, Takeru folgte ihm direkt. Kioku und Alayna ließen sich etwas Zeit.

 

„Das waren viele Eindrücke, die zu verarbeiten sind. Ich finde es unglaublich, dass euer Vater solche Freunde hat“, sagte Kioku, die kurz auf Alayna wartete, um mit ihr zusammen zu laufen. Kioku klang dabei etwas traurig, fand Alayna. Ihr war bewusst, dass Kioku sich nicht an ihr früheres Leben erinnerte und auch nicht daran, ob sie Freunde hatte. Aber wie genau sich das anfühlen musste, konnte sie nicht wirklich verstehen.

 

„Ich möchte Papa fragen, warum er uns das niemals erzählt hat“, antwortete Alayna darauf. „Es muss ja einen Grund gegeben haben, dass er so ein wichtiges Kapitel in seinem Leben verschwiegen hat.“

 

„Er wollte euch sicherlich nur schützen“, antwortete Kioku, ohne zu wissen, vor was er sie schützen wollte.

 

„Vielleicht“, meinte Alayna und machte eine kurze Pause. „Jumon muss früher ein guter Freund von Papa gewesen sein.“

 

„Das ist er immer noch“, war Kioku überzeugt.

 

„Richtig“, murmelte Alayna und lächelte.

 

Mittlerweile waren Eimi und Takeru an der Gondelstation angekommen. Sie winkten wie die Irren und freuten sich, als Erste angekommen zu sein. Die Station war ein großes Gebäude aus Holz. Es gab eine Eingangshalle, in der Schalter für Tickets und ein kleiner Souvenirladen auf der linken Seite waren. Mithilfe eines Zaunes wurde das Gebäude in zwei Hälften geteilt. Die eine war für Passagiere, die ins Tal wollten und die andere Seite war für Leute, die gerade ankamen. Aus einer Gondel, die gerade oben ankam, stiegen eine kleine Familie und andere Leute aus, die so wirkten, als würden sie hier oben leben. An den Schaltern für die Talfahrt standen ein paar Leute an.

 

„Kioku, jetzt bist du dran“, meinte Eimi und grinste dabei.

 

„Natürlich, das Geld“, fiel ihr ein und kramte aus der Tasche den Umschlag. Sie nahm nur so viel heraus, wie sie für die Fahrt brauchten und steckte den Umschlag dann sofort wieder so tief es ging in ihre Tasche. Am Schalter kaufte sie dann vier Fahrkarten. Die Gondel stand schon bereit und die Freunde konnten einsteigen. Die Gondel war aus Metall gebaut und es war Platz für sicherlich fünfzehn bis zwanzig Personen. Die Gondel hing mit einem Stahlarm an einem sehr dicken Drahtseil. Ein weiteres Seil sicherte die Gondel. Mit den Freunden stiegen noch sieben weitere Personen ein. Die Tür wurde von der Person geschlossen, die auch die Fahrkarten am Schalter verkaufte. Dann ging die Fahrt los.

 

Das Seil bewegte sich und langsam fuhr die Gondel aus der Halle hinaus und schwebte draußen angekommen, schon etwas über den Schnee. Die Bahn führte relativ steil den Berg hinab und schon bald waren die Freunde einige Meter über dem Boden. Durch die großen Fenster hatten die Freunde einen fantastischen Ausblick.

 

„Schaut mal, wie weit man in die Ferne schauen kann!“, jubelte Takeru und wollte in jede Himmelsrichtung einen Blick erhaschen. Man konnte in der Ferne verschiedene Dörfer und Städte erkennen; hinter einem Hügel schlängelte sich ein Fluss ins Tal. Einige grüne Flecken erkannte man nur auf dem zweiten Blick als Wald. In der Ferne verschwammen die Konturen der Landschaft und man konnte den Horizont nicht mehr als klare Linie erkennen. Die Aussicht war phänomenal.

 

„Das ist genauso schön wie auf dem Luftschiff, finde ich“, meinte Eimi und lehnte sich entspannt auf seinem Sitz zurück. Er schien die Fahrt richtig zu genießen.

 

„Nur etwas sicherer“, erklärte Kioku und fuhr sich dabei einmal durch die Haare. Sie wollte nicht noch einmal so etwas durchmachen, wie auf dem Luftschiff.

 

„Ja, es ist schön“, murmelte Alayna und blickte gedankenversunken in die Ferne.

 

 

 

Die Fahrt dauerte ungefähr zwanzig Minuten. Unten am Fuß des Berges ankommen, befand sich eine weitere Gondelstation, die genauso aussah und aufgebaut war, wie die oben. Ein Mitarbeiter der Station öffnete die Tür der Gondel und die Gäste konnten aussteigen. Danach informierten sie sich am Schalter, wo denn der nächste Bahnhof wäre und die nette Mitarbeiterin erklärte ihnen den Weg. Von der Station aus war es keine halbe Stunde zu laufen. Der Weg führte durch eine kleine Stadt, die aussah wie jede andere normale Stadt. Es gab eine große Hauptstraße, an der sich die Läden aneinanderreihten. Menschen spazierten oder eilten an ihnen vorbei. Es gab Vorgärten zu kleinen Häusern und die Welt schien hier in Ordnung. Obwohl so viel passierte, wirkte diese Stadt sehr friedlich. Männer in komischen blauen Uniformen liefen an den Freunden vorbei, welche nicht erahnen konnten, welchen Beruf sie verübten.

 

Am Bahnhof angekommen, kaufte Kioku wieder Tickets im kleinen Bahnhofsgebäude und die Freunde gingen aufs Gleis. Der Zug nach Prûo war lang. Die vielen Wagen waren oben cremefarben und unten in einem dunklen rot gestrichen. Auf dem Gleis befanden sich viele Leute, die wahrscheinlich auf diesen oder den nächsten Zug warteten. Es war sehr eng und die Freunde mussten aufpassen, sich in dem Gedränge nicht zu verlieren. Große Reisekoffer standen im Weg, Kinder spielten, obwohl besorgte Mütter sie immer dazu aufforderten, dies sein zu lassen. Es war schwer, an einer großen Gruppe von Menschen vorbeizukommen, die so wirkten, als würden sie gemeinsam einen Ausflug machen. Ziel war, flott einzusteigen, damit sie noch Sitzplätze ergattern konnten. Als Alayna den anderen so hinterherstapfte, blieb sie aus Versehen an einer Person hängen und rempelte sie an. Sie wollte sich umdrehen, um sich zu entschuldigen, aber die Silhouette mit pinken Haaren verschwand schnell in der Menge. Ein komisches Gefühl überkam sie, als hätte sie die Person schon einmal gesehen. Bevor sie sich aber mehr Gedanken darüber machen konnte, zerrte Takeru, der schon halb eingestiegen war, an ihr.

 

„Komm, Eimi und Kioku sind schon drin“, meinte er und Alayna stieg auch ein. Das komische Gefühl verschwand aber nicht. Sie wollte sich erinnern, woher ihr diese Person so bekannt vorkam.

 

Kapitel 25 – Ärger im Zug

 

 

 

Das Erste, was den Freunden im Zug auffiel, war, dass dieser sehr voll war. Es war sehr schwer, einen Sitzplatz zu finden. Erst, nachdem sie durch ein paar Abteile gegangen waren, konnten sie endlich einen finden, der noch frei war. In einem Abteil befand sich der Gang in der Mitte. Auf der linken und rechten Seite befanden sich abwechselnd Gruppen aus jeweils vier oder zwei Sitzen. Bei den Sitzplätzen der Vierergruppe befand sich zwischen den Sitzen ein kleiner Tisch. Die Sitzpolster waren mit einem cremefarbenen Stoff überzogen. Bei den Sitzen der ersten Klassen waren diese sicherlich aus Leder. Die Innenwände des Abteils waren wie außen am Zug in einem dunklen Rot gestrichen. Kleine Lampen befanden sich seitlich an den Fenstern und obwohl es Tag war, brannten die Lichter trotzdem. Über den Fenstern befanden sich Ablagen, auf die man sein Gepäck stellen konnte. Während Kioku, Eimi und Alayna ihre Taschen nach oben verfrachteten, packte Takeru seine Tasche lieber unter den Sitz. Ein Bauchgefühl sagte ihm, dass sie dort sicherer aufgehoben wäre.

 

Takeru setzte sich ans Fenster. Er betrachtete, noch bevor der Zug losfuhr, das rege Treiben auf dem Bahnsteig. Es war immer noch sehr viel los, obwohl sicherlich die Hälfte der Leute in den Zug gestiegen war. Männer standen mit Aktenkoffern da und aßen etwas, Mütter zerrten an den Mützen und Schals ihrer Kinder, als wären sie nicht gut genug für den Winter eingepackt, Leute unterhielten sich angeregt, ein Bahnhofsangestellter spazierte über den Bahnsteig um zu überprüfen, ob alles in Ordnung war. Takeru hörte, wie die Türen geschlossen wurden. Er öffnete das Fenster und obwohl es sehr kalt war, steckte er seinen Kopf hinaus. Der Schaffner winkte in Richtung der großen, dunkelroten Dampflok am Anfang des Zuges. Die Freunde befanden sich nun relativ weit hinten, aber Takeru konnte trotzdem die Rauchwolken der Dampflok sehen. Der Schaffner pfiff laut, stieg ein und der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Einige Leute auf dem Bahnsteig fingen an zu winken. Langsam verließ der Zug den Bahnhof. Takeru schloss das Fenster und setzte sich wieder auf seinen Platz.

 

 

 

Irgendwie musste er plötzlich an einen Ausflug denken, den er vor ein oder zwei Jahren mit seiner Klasse unternommen hatte. Die Klasse war für drei Tage in die westlichen Wälder gefahren, um in einer Hütte gemeinsam zu übernachten und etwas über die Natur zu lernen. Das war der erste Ausflug gewesen, den Takeru ohne seine Eltern unternommen hatte und er war ziemlich nervös gewesen. Schon Tage zuvor hatte er vor Aufregung kaum schlafen können. Die Klassenlehrerin hatte sich zusammen mit einem anderen Lehrer aus der Schule und den Kindern entschieden, dort drei Tage zu verbringen. Die Zugfahrt hatte zwar nicht lang gedauert, aber für Takeru, der so begeistert von der Dampflok und den Abläufen an einem Bahnhof war, war es wie eine kleine Ewigkeit gewesen. Es war Sommer gewesen und die vorbeiziehenden Schatten der Bäume um die Bahnstrecke hatten auf den Sitzen und dem Boden im Abteil geflackert. Der frische Fahrtwind war dröhnend in das Abteil gedrungen, als Takeru damals das Fenster während der Fahrt geöffnet hatte. Es war zwar ein lautes, aber auch ein gleichmäßiges und beruhigendes Dröhnen gewesen. Takeru war von allem so fasziniert gewesen, dass er es kaum geschafft hatte, auf seinem Platz sitzen zu bleiben. Am Zielbahnhof angekommen, hatten die Schüler noch eine kleine Wanderung zur Hütte unternehmen müssen, die sich mitten in einem riesigen Wald befand. Auf dem Weg dorthin hatten sie schon einiges über die heimischen Bäume und Vögel kennengelernt, die sie auf dem Weg zur Hütte gesehen hatten. Er konnte sich noch ganz genau daran erinnern, wie das helle Sonnenlicht durch die Kronen der Bäume kleine Inseln aus Licht auf den mit Moos und Gräsern bedeckten Waldboden geworfen hatte. Obwohl es Sommer gewesen war, hatte Takeru es im Wald als kalt empfunden. Der süßlich-erdige Geruch war markant und unvergesslich gewesen. Die Hütte war klein gewesen, ausreichend dafür, dass eine Klasse aus ungefähr zwanzig Schülern darin hatte übernachten können. Es hatte drei große Schlafräume gegeben, in denen die Kinder mit Schlafsäcken auf dem Boden hatten übernachten können. Natürlich waren die Schlafräume für Jungen und Mädchen getrennt gewesen. Es hatte jeweils eine Kochgruppe für das Frühstück, das Mittag- und das Abendessen gegeben. Takeru hatte zu den Leuten gehört, die das Frühstück vorbereitet hatten. Die drei Tage in der Hütte waren rasend schnell vergangen. Sie hatten mehr über den Wald erfahren, die darin beheimateten Pflanzen und Tiere zu unterscheiden gelernt, darauf geachtet, wie der Wald wuchs und auch Spuren hinterlassen. Einmal hatten sie aus gefundenen Hölzern Figuren basteln dürfen, die sie wie kleine Wanderleute an den Pfaden entlang des Waldes aufgestellt hatten. Am letzten Tag hatte es einen Wettbewerb gegeben, bei dem zwei Gruppen gegeneinander angetreten waren. Die Aufgabe war gewesen, ein Floß zu bauen, das auf einem kleinen Bach schwimmen sollte, der durch den Wald führte. Dieses sollte nur aus Materialien gebaut sein, welche man im Wald finden konnte. Er hatte zwar gute Ideen eingebracht, jedoch hatte am Ende trotzdem die andere Gruppe gewonnen, deren Floß sich einfach länger über Wasser hatte halten können.

 

 

 

Der Zug rollte endlich aus dem Bahnhof und nahm etwas an Fahrt auf. Eine kurze Weile konnte man noch die Häuser der Stadt sehen, dann wich das Bild schnell schneebedeckten Feldern und Hügeln. Wenn man auf der anderen Seite hinausblickte, entdeckte man die riesigen weißen Flächen der Gebirge, von denen sie sich nun fortbewegten. Der Zug wurde nun schneller. Takeru nahm alle möglichen Geräusche wahr. Der Wind, der von außen gegen die Wände des Waggons drückte, das Rattern über die Gleise und Weichen und das Gerede der Menschen, die sich auch mit im Abteil befanden, mischten sich zu einem merkwürdigen, gleichmäßigen Lied zusammen. Es befanden sich unterschiedliche Leute im Abteil; es waren sicherlich genauso viele alte wie junge Menschen, Frauen und Männer und Kinder darin. Bestimmt hatten sie alle ein anderes Reiseziel. Ob sie sich bewusst waren, unter was für einer Bedrohung das Land stand, in dem sie lebten? Diese Frage kam in Takeru genauso schnell auf, wie sie wieder verschwand.

 

Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Alayna plötzlich aufstand.

 

„Entschuldigt, ich muss da mal kurz wohin, ich habe das Gefühl, dass da jemand ist, den ich schon einmal gesehen habe“, erklärte sie und sah sich dabei um.

 

„Pass auf dich auf“, meinte Kioku und drückte ihr das Zugticket in die Hand. „Nimm das mit, falls der Schaffner dich kontrolliert.“

 

Sie bedankte sich und ging los. Der Gang im Zug war gerade breit genug, dass man ohne Probleme hindurch laufen konnte. Der Waggon wankte leicht hin und her, jedoch war das nicht stark genug, um jemanden aus dem Gleichgewicht zu bringen. Ganz langsam spazierte Alayna, ohne dabei aus dem Fenster zu schauen und die vorbeiziehenden weißen Landschaften zu bewundern, durch den Zug und beobachtete dabei so unauffällig wie es nur ging die Menschen in ihren Sitzen.

 

Die Silhouette, welche sie vor dem Einstieg erblickt hatte, erinnerte sie so sehr an jemanden, dass sie nun die Antwort brauchte. Als sie vor einer Weile in Funtraprolis hatten übernachten wollen, hatte ihr ein junger Mann mit pinken Haaren die Schlüssel für sein Zimmer gegeben, sodass Kioku, Takeru und sie dort hatten übernachten können. Ein schmerzvolles Zucken fuhr ihr durch den Körper. Die Ereignisse, die danach passiert waren, bereiteten ihr Bauchschmerzen. Nur ungern erinnerte sie sich daran, wie sie gefesselt und gefangen gehalten worden war. Dieses dunkle Gefühl in ihr, welches Jumon auch erkannt hatte, verunsicherte sie. Das Bauchgefühl änderte die Position und ein eiskalter Schauer fuhr ihr über den Rücken, als würde sie jemand beobachten. Vorsichtig drehte sie sich um, aber dort war niemand, der sie beobachtete. Sie ging weiter.

 

Ob sich dieser junge Mann an sie erinnern würde? Ob es ihm gut ging? Die Ereignisse in Funtraprolis waren erschütternd gewesen, die Stadt war in Chaos versunken. Hatte er vorher schon die Stadt verlassen oder hatte er sich mit anschauen müssen, was dort geschah? Alayna merkte gerade, dass sie sich zum ersten Mal Gedanken darüber machte, was dort passiert war. Sie waren danach so schnell aus der Stadt verschwunden, dass sie kaum mehr darüber hatten nachdenken können, was eigentlich aus den Bewohnern der Stadt wurde. Sie fühlte sich schlecht dafür, bisher kein Mitleid für das Schicksal der anderen empfunden zu haben. Für einen weiteren Moment blieb sie stehen und hielt inne. Wie hatte ihr Vater all das ertragen können, als er auf seiner Reise gewesen war? Wie hatte er sich das alles anschauen und trotzdem mutig und entschlossen bleiben können?

 

Genau deswegen musste sie diesen jungen Mann suchen, sie musste sich vergewissern, dass er es war und dass es ihm gut ging. Sie überlegte sich auch kurz, ob eine Entschuldigung angebracht wäre. Obwohl ihr auffiel, dass nichts davon ihre Schuld gewesen war. Wieso sollte sie sich entschuldigen? Ein Dankeschön für die Zimmerschlüssel würde genügen. Damit würde ihr schweres Bauchgefühl sicherlich verschwinden. Sie verließ den Waggon und ging in den nächsten.

 

 

 

Eimi beobachtete, wie Kioku aus dem Fenster starrte und die vorbeiziehenden Landschaften betrachtete. Als Alayna die Gruppe verließ, hatte Eimi ein merkwürdiges Gefühl dabei, er entschied sich jedoch, ihr nicht hinterher zu laufen. Es würde schon nichts passieren, sagte ihm sein Verstand.

 

„Die Zugfahrt dauert noch eine Weile“, fing Eimi an zu reden und wandte sich zu Takeru. „Vielleicht zeigst du mir derweil, wie du das mit der Meditation machst? Ich möchte die Zeit nicht ungenutzt lassen.“

 

„Das ist eine klasse Idee, Eimi“, antwortete Takeru, schmunzelte aber dabei. Er blickte sich um und deutete auf die ganzen Leute. „Ist es dir nicht zu laut dafür?“

 

„Ach was“, verneinte Eimi und schüttelte den Kopf. „Aus dem Waisenhaus bin ich solche Lautstärkepegel gewohnt. Ich kann mich da schon konzentrieren. Also, wie stellst du das an?“

 

„Willst du gleich mitmachen, Kioku?“, fragte Takeru nach. „Dann kann ich das euch beiden gleich erklären.“

 

„Lass gut sein“, antwortete sie lächelnd. „Ich glaube nicht, dass ich mich hier konzentrieren kann.“

 

„Also“, erklärte Takeru, „dann machen wir das ohne dich. Schließe deine Augen, Eimi.“

 

Eimi schloss seine Augen. Er folgte Takerus Anweisungen sofort.

 

„Du kannst dich ruhig etwas gemütlicher hinsetzen, so wie du dich wohlfühlst. Wenn du gut sitzt, konzentriere dich für eine Weile auf deine Atmung, sodass du gleichmäßig ein- und ausatmest. Nimm tiefe Züge und spüre, wie die Luft deine Lunge füllt. Deine Konzentration verändert sich, blicke auf dein Inneres. Versuche, dich in der Dunkelheit zu finden …“

 

 

 

Takeru sprach mit einer ruhigen Stimme. Das gleichmäßige Rattern des Zuges und die Gespräche im Hintergrund wurden mit jedem Atemzug dumpfer. Takeru, der seine Anweisungen immer wieder wiederholte, wurde irgendwann leiser, bis Eimi ihn nicht mehr hören konnte. In Wirklichkeit war einige Zeit verstrichen, aber für Eimis Empfinden verging die Zeit rasend. Er befand sich nun in einem Zustand, der sich so gut wie Schlaf anfühlte, aber keiner war. Er befand sich ganz bewusst … irgendwo. Wo war er denn genau? Beim Versuch, sich irgendwie zu orientieren, entdeckte er weder irgendeinen Anhaltspunkt, noch irgendein Licht, das ihm vielleicht die richtige Richtung zeigte. Ganz allein war er in einer merkwürdigen Dunkelheit, die sich aber vertraut anfühlte. Er entschloss sich, diesen merkwürdigen Ort trotzdem zu erkunden.

 

 

 

Alayna hatte mittlerweile mehrere Wagen durchquert und den jungen Mann mit den pinken Haaren nicht entdeckt. Sie zweifelte daran, ob er überhaupt eingestiegen war. Nachdenkend stand sie im Gang eines Waggons und hielt sich an beiden Seiten an Griffen fest, die an den Sitzen befestigt worden waren, damit man sich üblicherweise während der Fahrt festhalten konnte.

 

„Suchen Sie etwas?“, sprach sie plötzlich eine Frau an. „Sie sehen so verloren aus, Schätzchen.“

 

Alayna drehte sich um. In der Ecke neben der Tür, an der es kein Fenster gab, saß eine Frau in einem schwarzen, schlichten Kleid. Ein ebenfalls schwarzes Stirnband hielt ihre pinken, langen und teils gestuften Haare aus der Stirn. Ihre gelbgoldenen Augen starrten sie direkt an. Ein merkwürdiges Gefühl überkam Alayna, als sie von dieser Frau so angestarrt wurde. Die Falten im Gesicht ließen sie alt erscheinen, sie war sicherlich schon in ihren Vierzigern. Das Merkwürdige an der Frau war nicht, dass sie kein Gepäck, geschweige denn eine Handtasche mit sich trug, noch, dass sie so alleine in einer dunklen Ecke saß, sondern ihre Augen. Diese Augen wirkten so vertraut, aber gleichzeitig auch abschreckend. Bei genauem Betrachten entdeckte Alayna, dass sich in ihrer Iris dunkelgelbe Ringe befanden.

 

„Suchen Sie etwas?“, wiederholte die Frau ihre Frage, als hätte Alayna sie beim ersten Mal nicht wirklich verstanden.

 

„Tatsächlich“, murmelte Alayna und sah sich noch einmal unsicher um, als ob sie erwarten würde, dass die anderen Menschen dieses Gespräch mitbekamen.

 

„Kann ich Ihnen behilflich sein?“, sprach die Frau wieder und stand auf. „Also bei der Suche, versteht sich.“

 

Als sie aufstand, glänzte ihr Haar besonders. Die sehr schlanke Frau wirkte sehr edel auf Alayna. Diese spontane Hilfsbereitschaft verunsicherte sie jedoch. Irgendetwas an dieser Situation kam ihr so merkwürdig bekannt vor. Während die Augen der Frau, ohne dabei zu blinzeln, keine Sekunde lang den Blickkontakt unterbrachen, sah Alayna vor sich genau die Situation mit dem jungen Mann im Hotel, den sie eigentlich suchte.

 

„Ich suche einen jungen Mann, der ungefähr ihre Haarfarbe hat“, erklärte Alayna.

 

„So ist das also“, murmelte die Frau und streckte ganz langsam ihre dürre Hand nach Alayna aus. Gerade als Alayna zu realisieren versuchte, was geschah, wie merkwürdig und bedrohlich diese Situation war und wie paralysiert ihr Körper durch den starren Blick der Frau war, kam der Zug mit lautem Krachen schnell zu stehen, als hätte jemand die Notbremse gezogen. Alayna konnte sich nicht rechtzeitig festhalten und wurde durch den plötzlichen Ruck zu Boden geworfen. Sie sah, wie einige Koffer und Taschen von den Regalen flogen, wie Menschen sich gegenseitig festhielten und wie ein Vater seine Kinder vor dem Aufprall beschützen wollte. Ganz langsam sah sie die Sachen passieren, bis der harte, schmerzvolle Aufprall sie in die Realität zurückholte. Ihr erster Gedanke galt der Frau. Jedoch dachte sie nicht daran, wie unheimlich sie ihre Hand nach ihr ausgestreckt hatte, sondern wie ihr Gesicht für einen winzigen Augenblick so ausgesehen hatte, wie das des jungen Mannes, den sie eigentlich suchte.

 

Alayna stand auf, rieb sich den linken Ellbogen, den sie sich schmerzhaft gestoßen hatte und erkannte, dass die Frau verschwunden war. Schnell drängte sie sich an den Menschen vorbei, die ihr Hab und Gut wieder aufräumten, um zu ihren Freunden zu gelangen.

 

 

 

Etwas zuvor war Eimi aus seiner Meditation erwacht, als eine größere Menschenmenge bestürzt von dem vorherigen Abteil in ihres flüchteten. Sie waren dabei so laut und panisch gewesen, dass Eimi sich nicht mehr auf die Meditation hatte konzentrieren können. Er war enttäuscht, weil er außer einer dunklen Leere noch nichts entdeckt hatte.

 

„Und, wie war‘s?“, fragte Takeru, der ebenfalls aus seiner Meditation erwachte. „Hat es was gebracht?“

 

Eimi schüttelte den Kopf.

 

„Es ist nicht so wild“, erklärte Takeru. „Jumon meinte, dass der Prozess etwas dauern kann. Beim nächsten Mal klappt es vielleicht.“

 

„Danke für den Trost“, meinte Eimi. Es kamen nun wieder mehrere Menschen aus dem vorderen Abteil in ihres. Die Menschen wirkten sehr aufgebracht, einige redeten wild durcheinander, ein dicker Mann wollte sich an mehreren Menschen vorbeidrängen, um als Erster einen der seltenen neuen Sitzplätze zu ergattern.

 

„Was ist da los?“, hakte Eimi nach, aber weder Kioku noch Takeru wussten darauf eine Antwort. „Wir sollten lieber nachschauen, nicht, dass etwas mit Alayna passiert ist.“

 

„Gute Idee“, meinte Kioku. Eimi schnappte sich seinen Poncho und sein Schwert und gemeinsam drängten sie entgegen dem Strom zur Ursache des Geschehens. Zwei Abteile weiter war es plötzlich menschenleer, nur fünf Gestalten bedrängten eine junge Frau. Ein großer, muskelbepackter Mann mit kurzgeschorenen, schwarzen Haaren hielt mit seiner riesigen Hand die Frau am Arm, sodass sie nicht fliehen konnte. Der Versuch, sich gegen diesen Mann zu wehren, scheiterte vergeblich. Man konnte sehen, dass die Frau bald keine Kraft mehr haben würde. Ein weiterer großer und stark wirkender Mann stand etwas weiter hinten und wirkte so, als würde er den Durchgang zum nächsten Abteil blockieren. Er trug eine Wollmütze. Dann war da noch eine Frau mit violetten, glatten Haaren, die in der einen Hand ein Klemmbrett mit Papieren trug und mit der anderen Hand dort etwas notierte. Sie trug einen weißen Kittel und trug knallroten Lippenstift. Ein kleiner Mann mit einer großen, auffälligen Brille kramte aus einer zusammenrollbaren Ledertasche eine kleine Phiole und eine Spritze heraus. Es schien, als wollte er der Frau eine Dosis irgendeines Mittels verabreichen. Er trug einen knielangen dunkelgrauen Mantel aus Gummi, dessen Knöpfe auf dem Rücken waren. Dann war da noch ein Mann, der ebenfalls einen weißen Kittel trug und der festgehaltenen Frau mit seiner Hand gerade zärtlich die Haare aus dem Gesicht streichen wollte, wobei die Frau sich jedoch schreiend wehrte.

 

„Was machen Sie mit der Frau?“, fragte Eimi laut, um auf sich aufmerksam zu machen. Eine Hand hielt er unter seinem Poncho bereits am Griff seines Schwertes. Einerseits war er beruhigt, dass die Frau nicht Alayna war, andererseits spürte er die Bedrohung, die von diesen fünf Personen ausging.

 

Jedoch ließen sich der Mann mit der Spritze, die Frau mit dem Klemmbrett und der Muskelprotz nicht beirren und fuhren mit ihrem Vorhaben fort. Einzig der blonde Mann im Arztkittel drehte sich zu Eimi um und setzte dabei plötzlich einen merkwürdig netten Gesichtsausdruck auf.

 

„Oh, machen Sie sich keine Sorgen“, antwortete er höflich. „Wir kümmern uns um diese arme, kranke Frau.“

 

„Einen Scheißdreck tut ihr!“, schrie die Frau hysterisch und versuchte sich loszureißen. „Lasst mich in Frieden!“

 

„Ihr müsst verzeihen, die Frau leidet unter dem Ganser-Syndrom. Wir helfen ihr nur, indem wir sie mit ausreichend Medizin behandeln. Sie müssen sich keine Sorgen machen, die Spritze, die wir der Frau verabreichen, macht sie gleich nur etwas müde. Racun, fahre fort“, erklärte er und bat den Mann mit der Brille, der Frau die Spritze zu verabreichen.

 

„Das stimmt gar nicht! Lassen Sie mich los! Ich kenne diese Leute gar nicht!“, schrie die Frau wieder.

 

„Aber, aber, Frau Murcha, Sie wissen doch genau, dass sich Ihre Krankheit auch amnestisch auswirkt und sie ganz oft vergessen, was um Sie herum passiert“, erläuterte der blonde Mann weiter. „Bitte machen Sie sich keine Gedanken, Sie können sich wieder in ihr Abteil begeben.“

 

„Irgendetwas ist komisch“, flüsterte Takeru Kioku zu, die bestätigend nickte.

 

„Über was auch immer Sie da reden“, sprach Kioku selbstbewusst, „wir glauben Ihnen nicht. Bitte lassen Sie die Frau gehen.“

 

„Lasst mich verdammt nochmal gehen!“, schrie die Frau nun viel lauter und versuchte, den Muskelprotz zu beißen, der aber mit Leichtigkeit ihren Kopf festhielt und sich so schützen konnte.

 

Die violetthaarige Frau notierte sich wieder etwas auf ihrem Klemmbrett und der Mann mit der Spritze fuhr fort.

 

„Tz, tz, tz“, schüttelte der Blonde den Kopf und kam den Freunden einen Schritt näher. „Ich fürchte einfach, dass das nicht geht. Unsere liebe Frau Murcha ist etwas ganz Besonderes und wir behandeln diese Frau.“ Der Ausdruck auf seinem Gesicht hatte sich schlagartig geändert. Nun blickte der Mann finster und bedrohlich.

 

„Racun, fahre fort“, sprach er und der Mann mit der Brille tat dies. Er entnahm mit der Spritze etwas Flüssigkeit aus der Phiole und hielt die Spritze bedrohlich nach oben. Der Muskelprotz nahm die Arme der Frau und hielt sie auf ihrem Rücken fest. Die Schmerzen, die sie dabei hatte, konnte man aus ihrem Gesicht herauslesen.

 

Es reichte Eimi zuzuschauen, dass diese offensichtlich unschuldige Frau so von diesen Typen bedroht wurde. Er ging auf die Gruppe zu, doch der blonde Mann stellte sich ihm in den Weg. In diesem Moment wollte er gerne sein Schwert ziehen, doch er merkte, dass in dem engen Gang zwischen den Sitzplätzen kaum Platz dafür war, sein Schwert zu ziehen.

 

Die Spritze kam der Frau bedrohlich nahe und auf einmal schien alles wie in Zeitlupe vor Eimis Augen abzulaufen. Er sah aus dem Augenwinkel, dass Takeru über die Sitze kletterte und an der Notbremse zog, die sich über den Fenstern befand. Mit einem unglaublich lauten Quietschen kam der Zug ruckartig zum Halten, während er noch etwas über die Gleise glitt. Auf einen Schlag warf es alle Personen im Abteil nach vorne. Eimi sah, wie der Muskelprotz nicht aufhörte, die Frau festzuhalten und sich gegen die Sitze presste, um nicht umzufallen. Der andere Typ mit der Mütze stemmte sich mit aller Kraft an eine Wand und so konnte er stehen bleiben. Takeru schleuderte es mit einem mächtigen ‚Wumms‘ mit dem Kopf voran über die Sitze. Er stieß sich dabei schmerzvoll seinen Rücken. Kioku fiel auf die Knie und schaffte es noch, sich an den Sitzflächen festzuhalten, ohne ganz auf den Boden zu fallen. Danach ging alles schnell. Im Liegen drückte der Mann mit der Brille die Spritze in die Wade der Frau, die wenige Sekunden danach in sich zusammensackte. Der Mützenmann riss die Tür des Waggons nach draußen auf und half dem Blonden und der Frau mit Klemmbrett hinauszusteigen. Kurz darauf flohen auch die anderen zwei Männer; der große trug dabei die ohnmächtige Frau nach draußen. Von draußen hörte er die Worte des blonden Mannes: „Scheint so, als müssten wir unseren Plan etwas früher umsetzen, wir müssen hier auf Team B warten!“

 

Mit aller Kraft stemmte sich Eimi auf und stürmte nach draußen, ohne Kioku und Takeru dabei zu beachten. Mit einem großen Sprung kam er auf dem dreckigen Boden neben dem Zug auf. Er erkannte, dass nicht weit entfernt eine kleine Stadt war, die vielleicht in einer halben Stunde zu Fuß erreichbar war. Die fünf Personen gingen auf das Feld hinaus.

 

„Halt!“, schrie Eimi, so laut er konnte und zog dabei endlich sein Schwert. „Lasst die Frau gehen!“ Er rannte los und bemerkte dabei, dass sein linkes Knie vom Aufprall auf den Boden schmerzte. Er ignorierte dies jedoch so gut es ging. Mit vollem Selbstbewusstsein und einem lauten Kampfschrei rannte er auf den großen Mann zu, der die entführte Frau trug. Jetzt war die Möglichkeit gekommen, die ersten Dinge, die er im Training gelernt hatte, auch anzuwenden. Adrenalin schoss durch seinen Körper, der sich dadurch viel leichter bewegen ließ. Er bildete sich ein, dass er nun schärfer sah. Mit voller Wucht wollte er dem Mann einen Seitenhieb verpassen. Jedoch hielt dieser das Schwert mit einer Hand fest.

 

„Racun und Andme, kümmert euch nicht weiter darum“, befahl der blonde Mann und sprach mit dem kleinen Mann und der violetthaarigen Frau. „Palar und Vodvar erledigen das.“ Er schnippte und der eine Mann ließ die Frau sanft auf den Boden nieder. Dann gingen beide Muskelprotze auf Eimi los.

 

Palar, der Mann mit der Mütze, rannte auf Eimi los und wollte ihn mit seiner Seite rammen. Kurz bevor er zu Eimi kam, warf sich Kioku plötzlich dazwischen, die ebenfalls aus dem Zug gekommen war. Mit voller Wucht bekam sie die ganze Kraft dieses riesigen Kerls mit und wurde zu Boden gestoßen. Bevor Eimi sich aber zu ihr umdrehen konnte, um ihr zu helfen, riss Vodvar sein Schwert zur Seite und er wurde mitgezogen. Er schlitterte über den steinigen Boden. Kioku und Eimi standen wieder auf und versuchten erneut gegen die zwei Typen anzutreten. Eimi schwang sein Schwert und versuchte durch die Deckung Vodvars zu gelangen. Kioku strengte sich an, ihr Band, welches sie um ihr Handgelenk trug, zu kontrollieren. Jedoch klappte es nicht. Eine riesige Faust kam auf sie zugeschossen und sie wich im letzten Moment noch aus. Sie duckte sich unter den Arm des Angreifers und rammte ihre Fingerknöchel direkt in eine empfindliche Stelle am Oberarm, nahe der Achsel. Der Arm Palars zuckte und er ging einige Schritte zurück. Vodvar ließ sich von Eimis Angriff treffen; Eimi kassierte dafür aber einen mächtigen Tritt in seine Magengegend. Er taumelte röchelnd zurück und ließ sich auf seine Knie fallen. Wie konnte es sein, dass selbst mit dem Training, das er gemacht hatte, einfach keine Chance gegen diese Leute hatte? Er hatte keinerlei Kampferfahrung und das Training war erst einige Tage her. Er war zu schwach. Eimi blickte zu Kioku, die schon wieder schreiend auf Palar zurannte, aber dafür auch einige Tritte und Hiebe erleiden musste. Es war auswegslos und es dauerte nicht lange, da lag sie auch auf dem Boden. Nun kam Takeru aus dem Zug angerannt und überprüfte, ob es Kioku gut ging. Wut stieg in ihm hoch.

 

„Tak, lass es bleiben! Sie sind zu stark!“, rief Eimi ihm zu, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht seinen Bauch hielt.

 

„Aber sie haben diese Frau!“, brüllte Takeru und stand auf. „Wir können diese Leute nicht einfach davonkommen lassen!“

 

„Lass es!“, rief auch Kioku, die versuchte, wieder auf die Beine zu kommen.

 

Takeru ignorierte den Rat seiner Freunde und ging auf diese Truppe zu. Während Vodvar die bewusstlose Frau wieder über seine Schulter warf, stand allein Palar vor ihm und lachte, während er sich kurz unter seiner Wollmütze kratzte.

 

Als er diesem Riesen gegenüberstand, überkam ihn ein merkwürdiges Gefühl. War dies das Gefühl, dass sein Vater gehabt haben musste, als er auf Reisen gegangen war? Dieses ungute Gefühl, das Angst, aber auch Wut war, das Verzweiflung aber auch Hoffnung war, sprudelte in ihm hinauf. Er schloss kurz seine Augen und dachte an Jumons Worte, dass, wenn er den Schlüssel zu sich selbst fand, er seine Kräfte entdecken würde. Takeru ballte seine Fäuste und zwang sich, einen Schlüssel zu finden. So wie sein Vater es getan hatte. Er wollte auch mutig, stark und selbstbewusst sein. Er wollte Menschen retten.

 

Ein Zucken fuhr durch seinen Arm und mit einem lauten Brüllen rannte er auf Palar zu und versuchte ihn zu schlagen. Für einen sehr kurzen Moment sahen Eimi und Kioku aus der Entfernung einen transparenten dunklen Nebel, der sich um Takerus Faust bildete, als er Palar schlagen wollte. Sie wurden jedoch abgelenkt, weil ein lautes Getrappel zu hören war. Was sie bisher nicht gemerkt hatten, war, dass eine Kutsche mit vier Pferden direkt zum Geschehen fuhr. Die Kutsche wurde langsamer und öffnete zwei Flügeltüren. Der blonde Mann, Andme, Racun und Vodvar sprangen hinein. Palar wich der Attacke Takerus aus, statt sie zu blocken. Takeru kam dabei ins Wanken und fiel zu Boden.

 

„Palar, beweg dich!“, schrie der Blonde und winkte seinen Kollegen zur Kutsche. Schnell rannte er zur Kutsche und die Türen wurden geschlossen. Mit einem lauten Peitschenhieb trieb der Fahrer die Pferde dazu an, sich schnellstmöglich wieder in Bewegung zu setzen. Sie flohen.

 

 

 

Als etwas zuvor Alayna auf die Beine kam, sah sie die pinkhaarige Frau gerade durch die Abteiltür stürmen. Sie versuchte der Frau hinterherzulaufen. Sie hatte das Gefühl, dass die Frau etwas mit dem jungen Mann zu tun hatte, den sie eigentlich suchte.

 

Im nächsten Abteil angekommen, kam sie nur schwer voran. Viele der Menschen versuchten nach dieser Notbremsung wieder auf die Beine zu kommen, sie halfen sich gegenseitig hoch, stellten ihre Koffer wieder auf die dafür abgesehen Ablagen und überprüften, dass niemand verletzt war. Es war jetzt noch enger und voller geworden, es schien, als wären einige mehr Menschen nun in dem Abteil. Vorsichtig und sich ständig entschuldigend quetschte sich Alayna an den Menschen vorbei. Sie sah die pinkhaarige Frau nicht mehr. Es dauerte eine Weile, bis sie zu einem leeren Abteil kam, dessen Tür weit offen stand. Sie blickte nach draußen und sah Eimi, Kioku und Takeru auf dem Boden liegen, während eine schwarze, große Kutsche sich von ihren Freunden wegbewegte. Auf dem Dach der Kutsche lag die pinkhaarige Frau und fuhr als unbemerkter Gast mit.

 

Als ihr Bruder laut schreiend auf den Boden trommelte, sprang sie auch aus dem Zug und rannte zu ihren Freunden. Während sie ihnen aufhalf, erzählte Eimi ihr, was passiert war. Die Kutsche verschwand in der Ferne. Dieses Mal hatten sie verloren.