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Kapitel 11 – Schatten

 

Es war Nachmittag. Die Sonne und die warme Luft brachten den Schnee zum Schmelzen. Einige Tauben stürzten sich auf trockenes Brot, welches ihnen eine alte Frau zuwarf. Kioku trennte sich von Alayna, Takeru und Eimi, die sich zusammen die Stadt anschauen wollten. Sie musste nachdenken, deswegen blieb sie allein und ging in die entgegengesetzte Richtung.

Sie hatte kein Problem mit Eimi, dennoch brauchte sie jetzt irgendwie eine Verschnaufpause. In den letzten Tagen war so viel passiert, was sie jetzt etwas durcheinander brachte. Was tat sie sich da eigentlich an? Irgendjemand sollte sich um die Kinder kümmern, denn in dieser gefährlichen Welt konnten die Kinder nicht alleine sein. Vielleicht war es dieses Muttergefühl, das sie dazu brachte, mit Alayna und Takeru zu reisen. Vielleicht war es aber auch Neugierde.

Die beiden hatten etwas an sich, das Kioku half, sich selbst besser kennenzulernen. Sie wusste nicht, wie lange sie schon auf der Suche nach ihrer eigenen Identität war. Aber wenn sie in der Nähe von Takeru war, wusste sie, wohin sie gehen musste. Wenn sie bei Alayna war, wusste sie, von wem sie lernen konnte.

Bevor dies alles geschehen war, sah sie nur Schatten. Es waren Schatten, die die aufgehende Sonne verdeckten, welche, die fremde Menschen verschwimmen ließen. Jeder Tag war ungreifbar und aufs Neue eine große Herausforderung. Wie kam man denn zurecht, wenn man nicht wusste, wer man war und woher man kam?

Das, was Kioku noch mehr zu schaffen machte, als nichts über sich selbst zu wissen, war, dass die Männer in Schwarz anscheinend mehr über sie wussten als sie selbst. Wieso auch immer sie verfolgt wurde, da musste ein gewisser Grund dahinter stecken.

 

Vorsichtig drehte sie sich um, sie wollte sicher gehen, dass sie niemand verfolgte. Kioku nahm zwar im Augenwinkel einen Schatten war, aber bevor sie sich darauf konzentrieren konnte, war dieser schon weg.

„Bestimmt nur ein Vogel“, murmelte sie vor sich hin und ging weiter.

Kioku nahm die bunten, farbenprächtigen Häuser etwas mehr unter die Lupe. Jedes davon war mit einem riesigen, wunderschönen Gemälde verziert. Sie hatte das Gefühl, durch ein Kunstmuseum zu laufen. Während man beim einen den Zusammenknall von krassen, intensiven Farben sah, erkannte sie auf anderen Meere, Wälder und Wesen, die wohl nicht von dieser Welt waren. Man sah Landschaften, Visionen, Träume, Farben und Formen in jeder erdenklichen Komposition. Ihr fiel nicht auf, dass sie immer schneller wurde, um noch mehr der Bilder zu sehen. Sie folgte den Abzweigungen und Gassen und bald hatte sie sich im Wirrwarr der bunten Häuser verirrt.

 

Takeru wusste einfach nicht, was er sagen sollte. Erst ließ seine Schwester ihn alleine und dann kam sie mit einem fremden Jungen wieder. Er mochte es nie, wenn sie Jungs mit nach Hause brachte, weil er ihr dann immer so peinlich war. Nie konnte er sich eingliedern und die meisten Jungs hatte er nur von hinten gesehen, bevor ihn Alayna anmachte, doch in sein Zimmer zu verschwinden. Es war schrecklich für ihn.

Doch Eimi war anders. Vom ersten Moment an, sah er Takeru direkt in die Augen. Das Grün seiner Iris war dabei so heftig, dass sich Takeru irgendwie durchschaut gefühlt hatte. Eimi berührte ihn an der Schulter und begrüßte ihn mit einem Händeschütteln. Er lächelte ihn an und Takeru wusste, dass nur er gemeint war.

Als Eimi ihm und seiner Schwester die Stadt zeigte, redete er auch mit Takeru und versuchte ihn kennenzulernen. Das war das erste Mal, dass er so positiv von einem Freund ihrer Schwester eingebunden wurde. Was bedeutete das?

Überraschend war zudem, dass Eimi sie auf ihrer Suche begleiten wollte. Was hatte Alayna ihm erzählt? Irgendwie wollte Takeru nicht, dass andere von dem Verschwinden ihres Vaters erfuhren. Aber dafür war es jetzt wohl zu spät.

Wo sein Vater denn nur war? Plötzlich schweiften Takerus Gedanken ab, er hörte nicht mehr, was ihm die Zwei sagten. Er nickte immer wieder, um nicht ganz so abgelenkt zu wirken.

Er hoffte, er könne seinen Vater so schnell wie nur möglich wiedersehen. Es war schrecklich, so weit von Zuhause weg zu sein und das allein mit Alayna, obwohl er nun auch Kioku und Eimi hatte.

Andererseits reizte es ihn, weiterzugehen und mehr zu erleben. Das, was sie bisher durchstehen mussten, war schon richtig aufregend. Deswegen fragte er sich, wie es wohl weitergehen würde. Gäbe es immer mehr neue Kämpfe und Bösewichte? Was war hinter dieser Stadt und hinter der nächsten? Takeru hatte noch nie so eine gute Möglichkeit geschenkt bekommen, diese Welt kennenzulernen und neue Horizonte zu entdecken.

 

Kioku war genervt. Als ihr auffiel, dass sie sich verlaufen hatte, war es schon zu spät, den Weg zurück zu finden. Und auf einmal beschlich Kioku ein komisches Gefühl. Es war so, als würde sie von allen Seiten beobachtet werden, ein eiskalter Blick, der von überall kam. Nervös drehte sie sich mehrmals um, doch entdecken konnte sie nichts. Ein Schatten zog an ihrer linken Seite vorbei. Als sie sich dorthin drehte, kam er von rechts. Was war das nur?

"Hallo...?", sagte sie vorsichtig in den Hof hinein, in dem sie sich befand.

Die umliegenden Häuser waren so groß, dass die Sonne nur schlecht zwischen den Fassaden in den Hof schien. Der Schatten war kalt.

"Wer ist da? Ich weiß, dass du da bist, komm raus!", forderte Kioku und drehte sich immer häufiger und hastiger um.

Sie schrie, als plötzlich eine alte Frau vor ihrer Nase stand und sie von unten anstarrte.

Ihr struppiges Haar war rosafarben, ungewöhnlich für so eine alte Frau. Ihre Falten zogen wirre Linien über ihr Gesicht. Die Augen, mit denen Kioku betrachtet wurde, waren groß und eigenartig. Man erkannte Ringe in der Iris der Frau. Sie war klein und stämmig, was noch durch ihre Klamotten verstärkt wurde. Sie trug ein weites Oberteil, aus dunklem, schweren Stoff, aus dem auch die Hose gefertigt worden war. Ihre zotteligen Haare wurden durch ein ebenso dunkles Haarband zurückgehalten.

"Entschuldige", krächzte die Frau und räusperte sich. "Es ist nicht höflich, andere Leute so zu überraschen, aber, das ist nun einmal passiert."

Sie kicherte.

Kioku verstand nicht, was da gerade vor sich ging. Langsam ging sie einen Schritt zurück. Die alte Dame war ihr nicht geheuer.

"Wie es mir scheint, suchst du den richtigen Weg...", murmelte die Frau und musterte Kioku von oben bis unten. Dabei blieb die Frau mit dem Blick an Kiokus Narbe hängen. Das war das, was Kioku immer hasste, wenn die Leute so offensichtlich ihre Narbe anstarrten. Für sie war es schlimm genug, dass ihre Stirn so entstellt war und ringsum ihre Haare ausgefallen waren. Deswegen sah es so aus, als hätte sie an ihrer Schläfe eine große, leere Lücke, die eigentlich nicht leer war, denn da war die Narbe. Unbewusst langte sich Kioku selbst an die Narbe und fuhr einmal mit ihren Zeigefingern drüber, während sie nachdachte.

"Ich würde wieder gern zurück auf die Hauptstraße", kam sie auch endlich zu Wort.

"Aber der richtige Weg ist dort", widersprach ihr die alte Frau und zeigte mit ihren knochigen, faltigen Fingern in eine Richtung.

Aber Kioku hatte doch gar nicht behauptet, dass sie den Weg wüsste. Warum brachte die Frau nun so eine komische Aussage? War sie einfach zu alt?

"Sind Sie sicher, dass Sie wissen, wo die Hauptstraße liegt?", hakte Kioku unsicher nach.

"Das spielt für dich keine Rolle", entgegnete die Frau, "Du musst diesen Weg gehen. Vertraue mir. Es wird sich lohnen..."

Die alte Frau neigte ihren Kopf, dabei wirkte ihr eines Auge nun viel größer als das andere. Ihr Blick war angsteinflößend.

Kioku hatte genug. Mit einem kurzen "Danke" verabschiedete sie sich von der Dame und ging. Ein richtig unangenehmes Gefühl kroch ihr den Rücken hinunter. Wenn sie nicht diesen Weg gehen würde, dann würde ihr die Frau bestimmt hinterherlaufen. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als den vorgeschlagenen Weg zu nehmen. Doch war das eine gute Idee? Kioku wusste nicht, was sie davon halten sollte.

 

Der Weg führte Kioku durch verschachtelte, enge und zugemüllte Gassen. Sie versuchte die Sonne zu sehen, um zu bestimmen, in welche Richtung sie überhaupt ging. Jedoch konnte sie diese nicht sehen. Es gab keinen Weg, der sie wieder zurück auf die Straße hätte führen können. Die Gebäude hatten an den Seiten auch wenig Fenster, weswegen sie niemanden so leicht hätte fragen können. Sie stolperte und stieß sich den linken Fuß an einem Stahlrohr an. Sie verzog ihr Gesicht und stammelte immer wieder „Autsch“ vor sich hin, während sie in einer kurzen Pause ihren großen Zeh rieb. Dann ging sie weiter. Es war eiskalt.

Irgendwann kam sie dann an einem weiteren Hinterhof an. Ein kleiner Wandvorsprung war vor einem etwas größeren Platz. Jedoch war der Eingang zu diesem Platz zugestellt. Kioku konnte nicht durch die Gittertür hindurch gehen.

Plötzlich hörte sie Schritte und eine Tür schlug zu. Auf dem Mauervorsprung war ein Gitterzaun angebracht. Sie duckte sich aus Reflex und lauschte dem Gespräch von drei Männern.

„Die Kinder sind nicht unser Zielobjekt!“, schimpfte der eine Mann.

„Das weiß ich doch ebenfalls. Jedoch bin ich der Überzeugung, dass sie den Schlüssel haben“, erklärte ein Anderer.

Kioku hielt die Luft an. Was meinten sie mit Kindern? Doch nicht etwa Alayna und Takeru? Sie drückte ihren Körper fest an die Mauer und spitzelte etwas durch das Gitter hindurch. Vor einer Tür standen drei Männer. Ein junger Mann mit grauen Haaren und einem blauen Anzug stand neben jemand im schwarzen Trenchcoat, dessen wuschelige schwarze Haare sein Gesicht verbargen. Der letzte Mann trug einen Umhang, dessen Kapuze sein Gesicht verdeckte.

„Du redest ständig von einem Schlüssel!“, fing der im Trenchcoat wieder zu schimpfen an und hob dabei bedrohlich seine Arme. „Dabei hast du dich noch nicht einmal versichern können, ob dieser wirklich funktioniert, wenn es diesen überhaupt gibt. Das bringt uns nicht weiter, Ryoma. Die Mission geht vor, das weißt du.“

„Ist mir klar“, murmelte Ryoma.

Nun kam der Mann im Anzug ebenfalls zu Wort.

„Ich habe euer Anliegen auf jeden Fall einmal weitergeleitet. Es ist aber nicht garantiert, dass ich schnell auch Ergebnisse bekomme“, erklärte dieser. „Gerüchte verbreiten sich in dieser Stadt schnell, aber man gelangt nur schwer an Informationen.“

„Dabei müssten Sie das doch am besten können, Bürgermeister Takeno.“

„Dennoch liegt es nicht in meiner Hand. Wenn ich doch nur eigenhändig etwas tun könnte, dann würde ich mich bei eurem Anliegen auch wohler fühlen.“

„Solange es deinen Bürgern gut geht, machst du alles richtig, Jôô“, beschwichtigte ihn Ryoma.

„Dann machen wir uns wieder auf den Weg“, sagte der Mann im Trenchcoat kühl. Dann zündete er sich eine Zigarette an.

„Ist wohl besser so, Niku“, bestätigte Ryoma. „Wenn es etwas neues gibt, lass es uns hören, ja?“

„Geht klar. Danke, dass ihr da wart und mir Bescheid gegeben habt“, bedankte sich Jôô und hielt den anderen beiden die Tür auf.

Niku ging als erster hinein. Ryoma hielt noch einen Augenblick inne und sah sich um.

„Hier ist irgendetwas“, murmelte er.

Kioku fühlte sich angesprochen. Schnell duckte sie sich wieder und hielt mit ihrer Hand ihren Mund zu. Sie musste ganz leise atmen, damit sie nicht bemerkt werden würde.

„Wahrscheinlich nur der Wind“, lachte Jôô und bat Ryoma hinein. Dann schloss er die Tür hinter sich.

Kioku lief ein kalter Schauer über den Rücken. Wer waren diese Personen? Was für eine Mission war das? Über welche Kinder hatten sie gesprochen? Es dauerte etwas, bis Kioku sich traute aufzustehen und den Weg zurück zu gehen.

Die Leute waren ziemlich suspekt. Waren sie böse? Kioku konnte es momentan noch nicht beurteilen. Sie sahen so aus, als hätten sie mit den Männern in Schwarz zu tun. Selbst der Bürgermeister der Stadt war darin wohl involviert.

Als Kioku zurücklief, spürte sie wieder eine merkwürdige Präsenz im Rücken. Sie drehte sich schnell um, dabei bildete sie sich einen Schatten ein. Sie erhöhte ihr Schritttempo. Wurde sie gerade verfolgt? Sie hörte nur sich selbst. Was auch immer das gerade war, sie wollte nur so schnell wie möglich zu den Kindern zurück. Bald erreichte sie wieder die Hauptstraße. Der Schatten war weg. Sicher fühlte sie sich dennoch nicht.

Kapitel 12 – Einige Vorbereitungen

 

Es waren nun zwei Tage vergangen als Alayna den Jungen Eimi vorstellte, der fortan als weitere Begleitung die Suche nach ihrem Vater antrat. Takeru hatte sich ziemlich schnell daran gewöhnt, dass eine weitere Person mit auf die Reise kommen würde. Bisher hatte er auch das Gefühl, dass Kioku eine ziemlich große Bereicherung für die Suche war. Obwohl sie schon erwachsen war, hatte sie dennoch einen ziemlich netten und coolen Charakter. Außerdem konnte Kioku ihn manchmal öfter zum Lachen bringen, als seine Schwester. Alayna hatte in den letzten Tagen eigentlich nur Augen für Eimi gehabt, weswegen sich Takeru etwas allein fühlte. Aber durch irgendein komisches Gefühl konnte Takeru nicht sauer auf seine Schwester sein, so wie er es sonst immer war, wenn ein anderer Junge bei ihr war. Eimi strahlte etwas aus, was Takeru das Gefühl gab, ihm unbedingt nacheifern zu wollen.

Immer wenn Eimi mit ihm redete, sah er Takeru tief in die Augen und hörte ihm auch wirklich bei jedem Wort zu. Alayna war manchmal so sehr genervt, dass sie einfach nur wiederholte Male ein „hm“ von sich gab und ihm gar nicht zuhörte. Eimi jedoch schien keins seiner Worte verpassen zu wollen. Deswegen wurde Takerus Vorschlag, doch noch einige Utensilien für die Reise zu besorgen, sofort von Eimi und Kioku befürwortet. Alayna hatte als einzige ein Widerspruch einzulegen, woher sollte denn das Geld dafür kommen? Eimi konnte als erster etwas für die Reise aus seinem Ersparten beisteuern. Alayna und Tak, die aber weder Geld noch ihre Spardosen von Zuhause mitgebracht hatten, sowie Kioku, die nur noch wenig Geld übrig hatte, mussten also die letzten Tage für etwas Geld arbeiten. Eimi unterstützte die Freunde so gut er konnte und suchte sich für ihren kurzen Aufenthalt auch noch einen Job.

Das Geld wurde zusammengelegt und gezählt und in vier gleichgroße Haufen aufgeteilt.

Jeder sollte sich selbst die wichtigsten Dinge besorgen, die er für die Reise brauchte, nachdem sich jeder aber eine Art Grundausrüstung zugelegt hatte. Takeru hatte als Kind viele spannende Abenteuergeschichten gelesen und wusste, dass ein richtiger Abenteurer auch eine spezielle Ausrüstung brauchte. Zuerst sollte sich jeder ein gutes Taschenmesser zulegen. Nachdem Alayna schon einmal gefesselt worden war, fand Takeru es erst recht wichtig, ein Messer zu besitzen, da es auch für zahlreiche andere Situationen enorm praktisch sein würde. Als nächstes hatte Takeru eine kleine Taschenlampe vorgeschlagen, die man gut gebrauchen konnte, falls man mal wieder durch einen finsteren Wald lief und kaum mehr die Hand vor Augen sah.. Als nächstes stand ein Rucksack auf der Liste. Irgendwie musste man doch die ganzen Sachen, das Essen sowie Kleidung verstauen können.

Was als nächstes auf der Liste stand, überraschte jeden. Takeru dachte auch an eine Grundausstattung aus Medikamenten, Verbandsmaterial und Desinfektionsspray. Er wusste, dass man sich auch auf schlimme Arten und Weisen verletzten konnte und da wäre so ein Notfallpack unentbehrlich. Jetzt waren die Freunde daran, sich ihre eigenen Sachen zu besorgen.

 

„Es ist schön, dass die Mädchen miteinander einkaufen gehen“, fing Eimi an, als er gemeinsam mit Tak die Straßen der Stadt nach guten Geschäften abklapperte. „So sind wir in der Lage, einmal ein Gespräch unter Männern zu führen.“

Takeru war plötzlich ganz aufgeregt. Er freute sich unglaublich, dass sich Eimi einmal Zeit für ihn genommen hatte.

„Ich habe das Gefühl“, erzählte Eimi weiter, „dass uns da ein ziemlich großes Abenteuer bevorsteht. Bist du da nicht aufgeregt?“

„Doch total!“, antwortete Takeru und sah Eimi mit großen Augen an. „Aber ich habe auch Angst.“

Takeru schlenderte etwas langsamer und blickte grübelnd auf den Boden.

„Warum denn? Ich weiß, da draußen gibt es gefährliche Leute, die etwas Böses wollen, aber wir Vier werden das doch schaffen, oder?“, entgegnete Eimi und legte seine Hand auf Takerus Schulter.

„Und was, wenn wir meinen Vater nie finden werden? Unsere Mutter wird sich schreckliche Sorgen machen!“

„Ich schätze, die Sorgen hat sie so oder so schon, wenn ihre Kinder nicht Zuhause sind“, sprach Eimi und versuchte dabei etwas zu lächeln, um diesem Satz etwas die Traurigkeit zu nehmen.

Takeru drehte sich zu Eimi und sah ihm tief in die Augen. Dabei ballte er unbemerkt seine rechte Hand zu einer Faust. Er spürte Mut.

„Meine Mam schafft das!“, kündigte Takeru entschlossen an, „Und sie wird sich richtig freuen, wenn wir mit unserem Papa wieder nach Hause kommen! Dann ist alles wieder in Ordnung.“

Takerus Entschlossenheit überraschte Eimi. Er hätte niemals gedacht, dass der kleine Junge so mutig seiner Situation entgegenstehen würde. Eimi sah das Feuer in Takerus Augen und fühlte, dass er keine leeren Worte sprach. Egal was es kosten würde, sie würden ihren Vater finden und glücklich nach Hause kommen.

 

Auf der anderen Seite der Stadt waren Kioku und Alayna dabei, ihre Besorgungen zu tätigen. Während sich Alayna gerade eine Jacke ansah, musste Kioku sie unbedingt auf die Ereignisse der vergangenen Tage ansprechen.

„Alayna ich will ehrlich zu dir sein“, sprach Kioku sie direkt an, „Mir geht dieser eine Abend nicht aus dem Kopf, an dem du mit Eimi einfach verschwunden bist.“

Alayna zog fragend ihre Augenbrauen nach oben. Sie wusste nicht, was Kioku von ihr wollte.

„Es hat mich richtig wütend gemacht, dass du einfach verschwunden bist, ohne etwas zu sagen. Das geht einfach nicht! Es hätte was weiß ich denn alles passieren können und du kannst mich und vor allem nicht deinen Bruder so allein lassen, egal für welchen Jungen!“

Kioku bemerkte, dass sie immer lauter wurde, dann hielt sie kurz inne. Alayna konnte aus Schock erst gar nichts sagen.

„Versteh mich nicht falsch“, erklärte Kioku, als sie sich wieder etwas beruhigte, „Ich bin nicht deine Mutter und werde diese Stelle auch nicht ersetzen. Aber wir müssen zusammenarbeiten, damit diese Sache hier funktioniert.“

„Entschuldige“, sagte Alayna knapp.

Kioku dachte fast, Alayna wäre dieses Gespräch komplett egal, doch nach einer kurzen Pause fand Alayna die richtigen Worte, um sich zu erklären.

„Ich weiß, dass es falsch war, was ich an diesem Abend gemacht habe. Ich selbst hab doch keine Ahnung, was in mich gefahren war. Aber ich brauchte diese Nacht einfach. Ich wollte einmal wieder für mich sein und einen klaren Kopf bekommen. In den letzten Tagen war so viel passiert, ich konnte nicht wirklich runterfahren. Eimi hat mir geholfen mich wieder zu fassen.“

Alayna ließ die Jacke, die sie gerade noch in der Hand hielt, auf den Boden fallen. Es folgte ein leises Schluchzen, sie senkte ihren Kopf und fing an zu weinen. Kioku ging einen Schritt auf sie zu und umarmte Alayna.

„Ist schon gut“, sagte sie tröstend.

„Eimi hat mit mir die ganze Nacht nur geredet. Er hat mir von sich erzählt, woher er kommt, was er macht, wer er ist. Und das Einzige, was ich ihm entgegenbringen konnte war, dass das Verschwinden meines Vaters meine Welt einfach komplett über den Haufen geworfen hatte und ich seitdem nichts anderes im Kopf hatte als Laufen und Suchen, Laufen und Suchen …“

Kioku streichelte Alayna sanft über den Kopf.

„Es tut mir wirklich leid, Kioku! Ich wollte keinem von euch irgendwelche Sorgen bereiten. Ich konnte an diesem Abend einfach nur nicht anders …“

„Ist alles wieder in Ordnung“, lachte Kioku und gab ihr ein Taschentuch. „Eimi ist auch ein toller Typ. Ich freue mich, dass er uns auf der Reise begleiten wird.“

Alayna nickte und lächelte.

„Gemeinsam kriegen wir das schon hin! Aber Alayna, du musst mir versprechen, dein Verschwinden das nächste Mal anzukündigen. Ich will diese Sorgen nicht wieder durchleben müssen.“

„Geht klar.“

 

Das war es, was Takeru wollte. Er stand in einem schäbigen Laden, in dem nur altes, unbrauchbares Zeug verkauft wurde. Aber auf einem Tisch, in der hinteren Ecke des Ladens, auf dem einiges an Zeug aufgebaut war, blitzte etwas Glänzendes unter dem Zeug hervor. Takeru griff nach einer feinen, goldenen Kette und zog daran. Er musste vorsichtig sein, einige Dinge rutschten durch den Ruck nach unten und wären fast vom Tisch gefallen. Takeru machte langsam. Irgendwann blieb die Kette stecken. Es mussten also erst die Sachen von oben auf die Seite geschoben werden, sodass er wieder an der Kette ziehen konnte. Mit einem Ruck kam zwischen einer alten Porzellanpuppe und einer alten, verstaubten Uhr aus Holz ein rundes Objekt aus Messing hervor. Die Oberfläche war mit einem feinen Muster aus Linien überzogen, ein altertümliches Ornament wie man es vielleicht vor Jahrhunderten benutzt hatte. Auf der rechten Seite befand sich ein kleiner, unscheinbarer Knopf, in dem ein Stern graviert war. Mit einem schwachen Klicken öffnete sich der Deckel und ein Kompass kam zum Vorschein.

Im Inneren war der Kompass noch viel schöner, als Takeru angenommen hatte. Ein nachtblauer Boden aus dem feinsten Emaille ließ den reichlich verschnörkelten Zeiger noch schöner aussehen.

„So einen wollte ich schon immer haben“, murmelte Takeru wie hypnotisiert vor sich hin.

„Dann nimm ihn doch“, antwortete Eimi, der hinter ihm stand und einen Blick über Takerus Schulter warf. „Funktioniert der auch? Ich sehe nicht, wo Norden ist.“

Takeru war noch gar nicht aufgefallen, dass sich auf dem Kompass keine Buchstaben befanden, die die Richtung anzeigten. Die Nadel wackelte nur etwas unruhig hin und her.

„Das ist ein besonderer Kompass“, erklärte ein alter Mann, der gerade hinter der Theke hervortrat. Er trug einen dunkelroten Turban. Sein weißer Bart war zottelig und strohig. Seine langen, dürren und faltigen Finger nahmen Takeru den Kompass aus der Hand.

„Man sagt, er sei ein besonderer Kompass, der nicht am Tage funktioniere. Allein die Macht des Mondes würde das Geheimnis dieses Kompasses verraten. Einige Leute erzählen sich, dass dieser Kompass einen dort hinführe, wo man am liebsten wäre. Jedoch hat noch keiner es geschafft, wirklich etwas mit diesem Kompass zu sehen.“

„Dann ist er doch gar nichts wert“, meinte Eimi kühl und verzog dabei eine Augenbraue.

„Wertvoll ist er für die Leute, die seinen wahren Wert sehen wollen“, erklärte der alte Mann auf geheimnisvolle Art.

Takeru war hellauf begeistert. Was, wenn es wirklich ein magisches Artefakt wäre und bei ihm auch funktionierte?

„Das ist doch nur ein Verkaufstrick“, flüsterte Eimi ihm mit vorgehaltener Hand ins Ohr.

„Auch wenn“, kündigte Takeru an, „Ich muss ihn haben!“

„So eine Begeisterung habe ich lange nicht mehr gesehen“, sprach der alte Mann und ging wieder zu seinem Tresen, „Ich schenke dir den Kompass. Er liegt bei mir schon so lange herum, keiner wollte ihn haben.“

„Oh, vielen vielen Dank! Das ist echt spitze!“, freute sich Takeru und hängte sich den Kompass gleich um den Hals. „Jetzt müssen wir nur noch etwas für dich finden, Eimi.“

Takeru düste durch den Laden und durchwühlte jeden Tisch, den er finden konnte.

„Also Tak, ich weiß ja nicht, ob…“

Doch bevor Eimi seinen Satz beenden konnte, stand Takeru wieder vor ihm und hielt ihm ein Schwert unter die Nase.

„Es ist ein Schwert!“

„Ja, das sehe ich“, erkannte Eimi und wunderte sich über Takerus Eifer. Er nahm das Schwert in die Hand und wollte es aus der Scheide ziehen. Doch es ging einfach nicht heraus.

Plötzlich stand der alte Mann wieder neben Eimi, von einer auf die andere Sekunde. Wie machte das der alte Mann so schnell?

„Es ist ein sehr altes Schwert“, fing der Mann an zu erzählen.

„Oh, nicht wieder so eine Geschichte“, murmelte Eimi.

„Es hat einst einem sehr starken Krieger gehört, der einhundert Kriege damit gewonnen hat. Es ist unzerstörbar. Doch nach ihm hat keiner es geschafft, das Schwert wieder aus der Scheide zu ziehen. Man sagt sich, nur wer den wahren Kriegergeist in sich trägt, würde es wieder schaffen, das Schwert zu befreien.“

„Aber was nützt mir ein Schwert, wenn ich es nicht aus der Scheide ziehen kann?“, wunderte sich Eimi und sah Takeru ernsthaft fragend an.

„Naja… ehm… also…“, grübelte Takeru.

„Du kannst zumindest mit der Scheide jemandem über die Rübe hauen“, lachte der alte Mann, gab ihm das Schwert und ging wieder hinter den Tresen.

„Siehst du!“, versuchte ihn Takeru zu überzeugen, „Es nützt also doch etwas. Und vielleicht schaffst du es ja wirklich, das Schwert herauszuziehen!“

„Aber das ist doch nur ein Verkaufstrick, um es besonders wirken zu lassen“, tuschelte Eimi und sah sich das Schwert an.

Es war sehr leicht. Die Scheide war aus einem festen, grauen Leder und hatte beschlagenes goldenes Metall darauf, in Form von den Ästen und Zweigen eines Baumes. Der Griff war perfekt geformt, es lag geschmeidig in seiner Rechten.

„Du musst es einfach nehmen! Es passt perfekt zu dir Eimi!“, grinste ihn sein junger Freund bis über beide Ohren an.

„Okay okay… ich nehme es ja schon“, gab Eimi nach. Dann bezahlte er das Schwert und beide verließen den Laden.

 

Kioku hantierte glücklich pfeifend mit ihrem neuen Gegenstand umher. In einem Laden hat sie ein Band aus besonderem Stoff gefunden. Es war eine Armspanne lang und samtig. Wenn Kioku es aber mit einem starken Ruck bewegte, versteifte sich der Stoff und wurde hart wie Stahl. So konnte es hart und weich zugleich sein. Kioku fand das sehr praktisch und wollte es unbedingt haben. Immer wieder ließ sie den Stoff erhärten und dann wieder weich werden.

Sie und Alayna kamen an dem nächsten Laden an. Es war ein Geschäft für Kampfkunstausrüstung. In den Regalen lagen viele Waffen, an den Stangen hingen die verschiedensten Kleidungsstücke für Männer und Frauen.

Es dauerte nicht lange, da ging Alayna an einen Tisch für Accessoires. Sie wühlte sich durch Stirnbänder, Schnürsenkel, Handtaschen, Socken, Ketten und noch mehr Zeugs. Auf dem Boden des Tisches fand sie zwei Paar Handschuhe. Das eine war grün und bestand aus einem feinen, samtigen Stoff. Das andere Paar war aus weißem Leder gefertig, hatte nur halbe Finger, besaß jedoch aber schmale silberne Metallplatten für den Handrücken und die Knöchel. Alayna hielt beide fragend in ihren Händen.

„Du kannst das doch nicht wirklich abwägen, oder?“, meinte Kioku. „Die Grünen sind ja grässlich!“

„Aber sie sind aus einem tollen Stoff“, entgegnete Alayna.

„Stoff hin oder her, papperlapapp! Denk doch dran, was uns bevorsteht, nimm die Weißen, mit denen kannst du wenigstens zuhauen.“

Alayna sah ein, dass Kioku da schon Recht hatte, aber irgendwie war sie sich noch nicht sicher. Handschuhe wären schon etwas Praktisches gewesen für die Reise. Aber wollte sie wirklich gezielt Leute damit verprügeln?

Kioku nahm ihr das weiße Paar ab und betrachtete sie genau. Abwechselnd sah sie die Handschuhe und dann Alayna an.

„Außerdem stehen dir diese Handschuhe viel besser. Das weiße Leder und das Silber passen doch ausgezeichnet und harmonieren gut mit deinen weißen Haaren“, argumentierte Kioku.

„Meinst du echt?“ Alayna war sich nicht sicher, fuhr sich mit ihrer Hand einmal durch die Frisur. Das grüne Paar wäre wirklich unpraktisch gewesen.

„Gut, ich nehme die Weißen!“

 

So hatte auch Alayna etwas für sich gefunden. Die wichtigsten Besorgungen waren für die Reise nun gemacht. Als die Vier sich abends wieder trafen, zeigten sie sich gegenseitig die neuen Errungenschaften. Außerdem setzten sie sich noch einmal zusammen um einen Plan zu erstellen, wie sie als nächstes vorgehen würden. Takeru war der Überzeugung, dass es sinnvoll wäre weiter nach Nordwesten zu gehen, weil sich ihr Vater am Anfang ebenfalls in diese Richtung bewegt hatte. Die Anderen stimmten zu, denn ohne weitere Anhaltspunkte konnten sie nicht viel machen.

Am nächsten Tag sollte die Reise vorgesetzt werden.

Kapitel 13 – Wie ein harter Schlag

 

Der Tag war grau. Dicke und schwere dunkle Wolken bedeckten tiefhängend den Himmel. Der Wind war stark. Er riss einige lose Blätter und Zweige von den Bäumen und wehte sie zwischen den Stämmen mal nach links, mal nach rechts hindurch. Sie hatten alle kein Ziel.

Takeru hatte aber ein Ziel. Er musste seinen Vater finden, koste es, was es wollte. Unruhig spielte er mit dem Kompass in seiner Hand und führte die Gruppe nur halbherzig aus dem Wald, den sie bald hinter sich lassen sollten. Seit gestern waren sie unterwegs, hatten Hakata nach Nord-Westen verlassen, kamen aber nur langsam voran. Erst hinderte sie starker Regen am Vorankommen. Glücklicherweise ließ dieser am Abend nach, sodass sie sich einen Schlafplatz im Wald suchen konnten. Durch den Regen aber fanden sie kein Feuerholz, sie hatten eine kurze und kalte Nacht.

Dementsprechend war auch die Stimmung der Freunde. Alayna konnte man gar nicht ansprechen, weil sie sich sonst über alles und jeden sofort aufregen würde. Eimi dachte viel darüber nach, wie der Start seiner Reise begonnen hatte und was er denn nun alles hinter sich ließ.

Kioku war die einzige, die sich etwas über den Regen gefreut hatte. Sie freute sich auch, dass sie bald das Meer sehen würde. Sie war auch froh darüber, diese große Stadt hinter sich gelassen zu haben.

 

Ein kalter Windhauch streifte über die Wiesen der Klippen, als die Freunde den Wald verließen. Es erstreckten sich weite Felder vor ihren Augen. Wie ein Silberstreifen zog der Wind über das Gras, nahm hier und dort ein paar Halme mit auf und verschwand in der grauen Ferne der Landschaft.

Es rauschte ziemlich laut. Die Wellen, die sich gegenseitig an Höhe und Stärke übertreffen wollten, schlugen mit aller Kraft gegen den harten, blassen Fels der Küste. Es wurde kälter. Ein starker Duft nach Salz und See stieg empor.

Alayna rannte auf die Wiese, drehte sich einige Male um sich selbst.

„Ich will wieder die Sonne sehen!“, brüllte sie mit aller Kraft und machte ihren Ärger Luft, indem sie sich auf die Wiese fallen ließ. Es war kalt, das Gras war feucht, aber das alles störte sie nicht mehr.

„Aber das Meer! Wir sind am Meer Alayna!“, rief Takeru, legte seine Sachen auf den Boden und sprang ihr hinterher.

„Es ist so groß! Seht euch die Wellen an!“, rief er, während er den Anderen winkte.

„Ist wirklich unglaublich“, gab Eimi kühl von sich und fuhr sich einmal durch die Haare.

Über dem Meer krachten gerade graue Wolken ineinander und wurden schwarz. Ein starker Windstoß blies gegen das Land. In der Ferne hörte man Donnergrollen.

Und als hätte es ihr gegolten, verdrehten sich Kiokus Augen, sodass man das Weiße von weiten hervorblitzen sah, ihr Mund öffnete sich und wie in Zeitlupe fiel sie zu Boden. Als ihr Körper auf den feuchten Untergrund aufkam, erschütterte ein weiterer Donner, der viel lauter war als der erste, die Umgebung in der Ferne.

 

Alayna, Takeru und Eimi kamen zu Kioku geeilt. Als Eimi ihre Schulter berührte und versuchte, sie zu wecken, reagierte sie nicht. Ihre Augen blieben geschlossen. Voller Panik versuchte Takeru seine Schwester dazu zu bringen, etwas zu unternehmen, doch auch Alayna wusste keinen Rat. Eimi überprüfte den Atem von Kioku und stellte zur Erleichterung fest, dass sie ruhig atmete.

Takeru schlug vor, sie an einen besseren Ort zu bringen und sprintete los, um für Kioku einen geeigneten Platz zu finden, an dem sie sicher liegen konnte. Nicht weit entfernt gab es einen leichten Abhang, der zum Strand führte. Unter einem der Felsen gab es eine Möglichkeit sich unterzustellen. Mit aller Kraft packten Alayna und Eimi zusammen Kioku und trugen sie an die geeignete Stelle, an der Takeru ein kleines Lager aufbaute.

Jetzt konnten sie nur warten, dass Kioku wieder aufwachte, während sie sich überlegten, was sie als nächsten tun sollten.

 

Es drückte. Es drückte an ihrem Bein, in der anderen Sekunde auf ihre Brust, die Ohren waren zu, es war einfach zu viel Druck. Der Schmerz kam pulsierend. Wie starke, stählerne Wellen drückte es immer wieder auf ihren Körper, immer wieder waren es andere Stellen. Wenn sie versuchte, sich zu befreien, weigerten sich ihre Knochen sich auch nur einen Millimeter zu bewegen. So musste sie sich treiben lassen.

Alles hing über ihr wie ein Schleier aus Blei. Undurchsichtig und schwer. Der Atem blieb weg. Der Versuch, die Augen zu öffnen, kostete unheimlich viel Kraft und als sie diese öffnete, sah sie Regen. Viel zu viel Regen, als die Welt jemals hätte aufsaugen können. Vor ihr schob sich eine Silhouette hin und her. Es war eine Frau, doch Kioku konnte nicht erkennen, wer diese Frau war. Die Worte dieser Frau klangen wie tiefer, unverständlicher Bass einer Trommel, deren Klang ihr doch vertraut vorkam.

Sie fiel. Die Haare vor dem Gesicht, war der einzige Blick gen Himmel gerichtet, an dem die grauen Wolken vorbeizogen, als wäre es ihnen egal, dass sie fiel. Der Körper war taub vor Schmerz, der kalte Wind peitschte ihr um die Ohren und das, was sie danach empfand, war ein Schmerz, den man nicht beschreiben konnte.

Zugleich stand sie auf der Klippe und vernahm wieder Silhouetten. Diesmal waren es mehrere, undefinierte Schatten, die lauerten. Die Angst schnürte Kioku die Kehle zu. Atem gelangte nur unrhythmisch in ihre Lunge. Danach fühlte sie Hitze, die Haut kratzte.

Immer wieder vernahm sie ein Wort. „Blau“ wiederholte sich in ihrem Kopf, wie ein Lied ohne Ende.

Ihr Herz pochte und pochte immer schneller. Was war nur los? Es fühlte sich an, als würde sie einen kalten Gang entlang laufen. Wer war sie? Wer war sie denn nur? Sie wollte nur ihre Erinnerungen zurück.

Dann fand sie sich in einem Raum wieder. Überall standen Menschen ohne Gesichter, sie standen wie dunkle Schatten, die bedrohlich schwiegen. Keiner konnte ihr eine Antwort geben.

 

Der Regen wollte nicht aufhören. Es war schwierig, an ihrem Lager, unter dem feuchten Fels, ein Feuer zu entzünden. Kiokus Temperatur hatte abgenommen, weswegen Eimi und Alayna einige Kleidungsstücke auf sie legten, die sie wärmen sollten. Es war nun schon eine Stunde vergangen, seitdem Kioku in Ohnmacht gefallen war. Sie atmete und sie schien nur zu schlafen. Jedoch bewegten sich ihre Augen unter ihren Lidern schnell und oft. Träumte sie etwa?

Takeru spielte mit seinem Kompass herum. Konnte er einem wirklich zeigen, was man sehen wollte? Er fuhr vorsichtig mit seinem Finger über den Deckel, dann klappte er den Kompass auf.

„Zeig mir, wohin ich möchte“, flüsterte Takeru, ohne, dass es wer hörte und drückte den Kompass an sein Herz. Er hielt etwas inne, vielleicht würde das die Magie ja ausmachen. Etwas Geduld. Dann sah er sich den Zeiger an.

Bewegte er sich nicht gerade? Ein kurzes Zittern? Der Zeiger hatte seine Position nicht verändert. Takeru wurde müde. Doch er konnte noch nicht schlafen. Er wollte warten, bis Kioku wieder aufwachte. Um sich die Langeweile etwas interessanter zu gestalten, holte er das Tagebuch heraus und blätterte darin herum. Relativ weit hinten fand er einen neuen Eintrag: „Ama hat mir von seiner Geschichte erzählt. Es muss schwer sein, seine Familie auf einmal zu verlieren. Wo ist meine Familie?“

Was sollte das bedeuten? Wer war Ama, der gerade so oft erwähnt wurde?

Aufeinmal setzte sich Eimi neben ihn.

„Was hast du da für ein Buch?“, fragte er neugierig. Takeru erschreckte sich. Stimmt, er hatte Eimi noch gar nichts über das Tagebuch erzählt. Unsicher sah er zu Alayna hinüber, die bestätigend nickte. Dann blickte er wieder Eimi an und wusste, dass er ihm vertrauen konnte. Er erzählte ihm über das Tagebuch und zeigte den beiden den neuen Eintrag.

 

Kioku stand auf einer gepflasterten Straße. Um sie herum liefen einige Menschen wild hin und her. In der Ferne konnte sie das Meer erblicken. Sie war in einer Stadt. Zunächst lief sie ziellos über die Straße, die Menschenmenge machte es nicht einfach voranzukommen. Dann stand sie auf einmal am Hafen. Vor ihr lag das Wasser, in dem viele Boote und kleine Schiffe schwammen. Auf einmal bewegte sie sich, ohne dass sie wollte. Sie wollte diese Szenerie noch länger genießen.

Ihr Weg führte sie vorbei an den kleinen Schiffen und führte sie zu relativ großen Booten. Dann ging sie auf einen Steg, an dessen Ende sich ein kleines Segelboot befand. Kioku stieg hinein.

Irgendwie wusste sie, dass es ihr eigenes Boot war. Wie von allein fuhr es los und ließ die Stadt hinter sich. Sie erkannte die Stadt.

 

Dann wachte sie aus ihrem Traum auf. Vor Schreck setzte sie sich plötzlich auf und erschreckte Alayna so sehr, dass sie einen Schrie von sich ließ. Takeru und Eimi kamen sogleich zu ihr und knieten sich zu ihr hin.

„Ich weiß etwas!“, rief Kioku aus und sah ihre Freunde begeistert an.

„Wie, was, was weißt du?“, stotterte Alayna, die erst noch mit dem Schock klarkommen musste.

„Wie geht es dir, ist alles in Ordnung?“, hakte Eimi nach.

„Du warst ziemlich lange ohnmächtig, wir haben uns Sorgen gemacht!“, meinte Takeru und sah sie mit großen Augen an.

„Was… ich war ohnmächtig? Ich… ich habe geträumt“, erklärte Kioku und stützte ihren Kopf auf ihre Arme. „Ich, ich habe ein Boot in einer Stadt, einer Hafenstadt!“

„Woher weißt du das?“, wunderte sich Alayna.

„Ich weiß es einfach. Ich hab es gesehen, im Traum. Es ist am Hafen. Wir müssen es holen!“

„Aber, weißt du auch, in welcher Stadt es ist?“, fragte Eimi.

„Es ist hier irgendwo in der Nähe. Wenn ich dort bin, weiß ich es!“

„Dann gehen wir doch dorthin, hier irgendwo wird es schon eine Hafenstadt geben, nicht? Dann kannst du dich vielleicht auch an mehr erinnern“, meinte Takeru und sah seine Freunde fragend an.

„Stimmt, es liegt eine Stadt hier ganz in der Nähe, wir müssen nur am Strand entlang“, erinnerte sich Eimi. „Ich war da einmal als kleiner Junge.“

„Dann ist die Sache entschieden?“, freute sich Takeru.

„Aber wir müssen doch auch schauen, dass mit Kioku alles in Ordnung ist“, wandte Alayna ein, „Fändet ihr es nicht besser, sie einmal zum Arzt zu schicken?“

„Wo du recht hast“, meinte Eimi und sah Kioku durchdringlich an, „Wir bringen dich erst zum Arzt und suchen dann dein Boot, einverstanden?“

„Einverstanden“, willigte Kioku ein. „Aber erst hab ich einen riesigen Kohldampf!“

Kapitel 14 – Wie Nichts

 

Sachte schlug Takeru das Tagebuch auf. Etwa im dritten Viertel des Buches fand er einen Eintrag.

 

Nun fällt es mir erst richtig auf. Sayoko habe ich damals als ziemlich zurückhaltend und distanziert erlebt. Sie war nie jemand, die es darauf anlegte, mit jedem eine Freundschaft aufzubauen. Aber wenn ich sie jetzt sehe, wie sie sich um Tsuru, Jumon und auch Ginta kümmert, da wird mir warm in der Brust. Sie ist wie eine Mutter, die ihre Kinder liebt. Nur dass wir alle „Waisen“ sind, unser Ziel ist ein unbestimmter Weg.

Was bedeutet es, eine Mutter zu haben?

 

Augenblicklich legte Takeru das Buch beiseite. Er musste an seine Mutter denken, wie sie ihn jeden Morgen weckte, wie sie ihn erwartete, wenn er von der Schule wiederkam, wie sie mit ihm lachte. Es war ein unangenehmes Gefühl in der Bauchgegend, als hätte man etwas Schlechtes gegessen, aber noch viel schlimmer. Gerade in diesem Moment war sie irgendwo auf der Welt und vielleicht verzweifelt. Ihr Zuhause war keines mehr, weil es in einem Flammenmeer untergegangen war. War ihre Mutter alleine? Machte sie sich schlimme Sorgen? Einige tausend Fragen schossen durch Takerus Kopf.

„Keine Sorge“, flüsterte Eimi zu ihm, „Kioku wird schon wieder. Da bin ich mir sicher.“

Eimi, Alayna und er saßen gerade in einem Wartezimmer. Sie hatten Kioku zu einem Arzt gebracht, der sie gerade untersuchte. Während der Untersuchung durften sie nicht dabei sein, also mussten sie hier ihre Zeit verbringen.

„Es ist nicht das“, antwortete Takeru, nachdem er seine Gedanken wieder geordnet hatte, „Es geht um wen Anderes.“

Alayna war dem Gespräch nicht gefolgt. Ihre Gedanken waren in diesem Moment woanders. Ein merkwürdiges Gefühl ließ sie wie hypnotisiert einen Blick auf das Tagebuch werfen und sie las die Wörter, die in dem offenliegenden Eintrag standen.

Eimi sah Takeru fragend an. Takeru stand auf und ging etwas umher. Er steckte die Hände in seine Hosentaschen und suchte nach Worten. Als er seine Hand herausholte, um sich am Kopf zu kratzen, fiel ihm ein kleiner Zettel aus der Tasche. Dieser Zettel war ihm vorher noch gar nicht aufgefallen, deswegen hob er ihn auf. Darauf stand:

 

Eurer Mutter geht es gut.

R.

 

„Denkst du manchmal an Mama?“, frage Alayna vorwurfsvoll mit zitternder Stimme, als sie Takeru den Zettel aus der Hand nahm. Sie sah abwechselnd auf den Zettel und auf Tak. Sie machte sich Vorwürfe.

„Natürlich denk ich an Mam! Die ganze Zeit!“, verteidigte sich ihr Bruder.

„Ich habe so ein schlechtes Gewissen, dass wir sie zurückgelassen haben. Tun wir hier überhaupt das Richtige? Wir haben ihr nicht einmal Bescheid gegeben!“, verzweifelte Alayna.

Wie konnten sie nur überhaupt auf die Idee kommen, ihre Mutter allein zu lassen? Sie warf ihre Hände auf die Schultern ihres kleineren Bruders und drückte fest zu.

„Wir müssen zu ihr zurück, verstehst du das!?“

Takeru verteidigte sich, in dem er sich von dem Griff löste und seine Schwester flehend an die Jacke griff.

„Wenn wir das hier nicht tun, finden wir Dad niemals! Meinst du Mam wird glücklich sein, wenn wir Dad verlieren? Ich will mit ihm zurückkommen! Es gibt doch keine anderen Möglichkeiten!“, brüllte er. Seine Augen waren rot, er konnte die Tränen nicht kontrollieren. Auch Alayna fing jetzt zu schluchzen an.

Sie wollte ihrem Bruder Recht geben, aber es fiel ihr so schwer. In letzter Zeit waren so viele Sachen vorgefallen, dass sie selbst kaum an ihre Mutter dachte und sie fühlte sich unheimlich schlecht deswegen. Jetzt auf einmal war ihr aufgefallen, dass ihre Mutter wirklich irgendwo war und das alleine. Als sie sich das genauer vorstellte, blieb ihr der Atem weg. Also schob Alayna diese Bilder wieder beiseite und sah ihrem Bruder direkt in die Augen. Heute war für sie kein guter Tag.

„Siehst du nicht“, fing Takeru an, als er sich etwas beruhigte, „Ryoma schreibt, dass es Mama gut geht. Wir müssen uns keine Sorgen machen.“

Nun stand Eimi auf, der diese Situation bisher nur beobachtet hatte.

„Beruhigt euch“, meinte er kühl, „Es hilft nichts, sich darüber jetzt zu streiten.“

„Aber wie, wie können wir…“, schluchzte Alayna erneut, „Wie können wir wissen, dass das hier stimmt!? Woher kommt dieser blöde Zettel überhaupt plötzlich?“

„Es scheint so, als hätte ihn mir Ryoma irgendwann zugesteckt“, analysierte Takeru, „Aber bisher habe ich ihn noch gar nicht bemerkt.“

„Wenn er denn überhaupt von Ryoma kommt“, entgegnete Alayna harsch. „Ich glaub nicht daran.“

„Aber das ist von ihm, bestimmt!“

„Ihr könnt nur nach einem eurer Elternteile zur Zeit suchen. Entweder nach eurem Vater, der ganz sicher verschwunden ist oder nach euer Mutter, der es laut diesem Zettel gut geht. Wollt ihr wirklich den ganzen Weg, den ihr bis jetzt zurückgelegt habt, wieder zurückgehen, nur um dann festzustellen, dass es eurer Mutter gut geht? Dann würdet ihr euch wieder auf die Suche nach eurem Vater begeben und wärt wieder ungewiss, ob es eurer Mutter gut geht.“, meinte Eimi und lächelte sanft.

Bevor die beiden Parteien noch etwas dagegen sagen konnten, ging die Tür auf und Kioku kam mit einem Arzt heraus.

„Kioku!“, rief Takeru und lief zu ihr, „Wie geht es dir jetzt?“

„Gut“, meinte Kioku verlegen und lächelte.

„Wie sieht es aus, Herr Doktor?“, fragte Eimi.

„Es sieht so aus, als wäre ihr Zustand stabil. Ich denke, es war nur ein kleiner Schwächeanfall. Ihr solltet dafür sorgen, dass ihr alle genug esst und trinkt. Der Mensch sollte am Tag zwei bis drei Liter Wasser zu sich nehmen“, erklärte der Arzt.

„Vielen Dank“, bedankte sich Eimi.

Der Arzt verabschiedete sich und ging. Um die Situation besser zu besprechen, setzten sich die Freunde nochmal ins Wartezimmer.

 

„Wie geht es jetzt weiter?“, fragte Alayna entkräftet. Sie hatte sich kaum beruhigt und musste sich zwingen, sich nun auf die weiteren Pläne zu konzentrieren. Eigentlich wollte sie es ja einsehen, dass sie ihren Vater zuerst finden sollten, da er sicherlich in größeren Schwierigkeiten steckte, als ihre Mutter. Aber dennoch war da einfach dieses zweifelnde und kritische Gefühl in ihr, welches ihr kein Vertrauen für diese Situation haben ließ. „R“ konnte doch auch wer anders sein, das musste nicht Ryoma sein. Welchen Grund hätte er denn gehabt, seinen Namen abzukürzen?

Kioku sah etwas geschwächt aus. Ihr Blick war aber ernst, als sie meinte: „Ich möchte dieses Boot finden, welches ich gesehen habe. Ich glaube es ist ein Hinweis darauf, wer ich bin.“

Takeru hatte bisher erst einmal Kioku so ernst dreinblicken sehen. Damals, als die Stadt überfallen wurde und Alayna entführt worden war. Er wusste, dass Kioku die Suche nach dem Boot wirklich wichtig war.

„Das ist eine gute Idee“, stimmte er ohne Einwände zu.

„Sollen wir uns in Gruppen aufteilen?“, schlug Eimi vor, „Dann können wir auf jeden Fall schneller mit der Suche vorankommen. Ich würde sagen, wir treffen uns dann bei Sonnenaufgang vor der Stadt wieder, dann sehen wir ja, ob jemand erfolgreich mit der Suche war?“

„In Ordnung!“, stieß es aus Kioku heraus, als sie sich plötzlich erhob. Sie ballte motiviert ihre Faust und ihr Ausdruck wirkte schon viel entspannter. „Dann beschreibe ich auch mal, wie das Boot aussieht…“

 

Takeru war der erste, der losging. Mit der Beschreibung des Bootes im Kopf schlenderte er durch die Straßen und kam schon bald an der westlichen Ecke der Stadt an. Die Stadt lag an einer nördlichen Landeszunge und war im Grunde genommen ein riesiger Hafen. Es gab in drei Himmelsrichtungen Häfen, an denen die unterschiedlichsten Schiffe, Kähne und Boote vor Anker gingen.

Bei der Suche war Takeru aber ziemlich unkonzentriert. Immer wieder musste er an Alayna denken, an seine Mutter und an den Tagebucheintrag. Es war schon wieder passiert, dass der Eintrag einfach so aufgetaucht war. Aber warum heute? Warum tauchte dieser Eintrag genau heute auf? Hatte es was damit zu tun, dass er wirklich an seine Mutter dachte? Oder doch eher, dass Ryoma diesen Zettel in seiner Tasche versteckt hatte?

Vernezye war eine riesige Stadt, in der viele Leute unterwegs waren und auch arbeiteten. Allein schon in der Nähe des Hafens war Takeru einer Vielzahl an Matrosen und Arbeitern begegnet, weswegen es ihn nicht schockierte, dass die Zahl der Männer sich hier fast verdreifacht hatte. Es ging geschäftig hin und her, Männer riefen nach ihren Kollegen, sie arbeiteten zusammen, schleppten Kisten, reparierten etwas an Deck der Schiffe, verluden Ware oder sortierten Fisch für den Markt.

Er lief die etlichen Hütten ab, die genau gegenüber der kleinen Bootsstege standen. Hier gab es kleine Läden, die wohl für die Arbeiter gedacht waren. Neben Imbissbuden und kleinen Souvenirläden fand Takeru auch eine Wahrsagerin. Als er am Ende der Straße angekommen war, fing er an, die einzelnen Stege abzulaufen und nach Kiokus Boot zu suchen. Es dauerte einige Zeit, all die Stege abzusuchen, doch am Ende fand er nichts.

 

Alayna ging zusammen mit Eimi. Sie befürchtete, sich in ihrer Verfassung gnadenlos in dieser Stadt zu verlaufen. Aber das störte sie nicht, denn so konnte sie wieder einmal mit Eimi für einige Zeit lang allein sein.

„Weißt du, das mit dieser Nachricht“, fing Eimi aus dem Nichts an, während sie zum nördlichen Hafen schlenderten, „Ich glaube, diese Nachricht ist wirklich von Ryoma.“

„Wie kommst du darauf?“, hakte Alayna nach.

Eimi hatte Ryoma noch nicht kennengelernt, er kannte ihn nur von ihren Erzählungen. Und obwohl Eimi die ganze Geschichte kannte, wunderte sie sich, wieso er so ein Urteil fällen konnte.

„Es ist ein Bauchgefühl. Kennst du das, wenn du etwas weißt, bei dem die Überzeugung vom tiefsten deines Inneren kommt? So fühlt es sich an“, erklärte Eimi und blickte dabei in die Ferne. Seine Augen sahen so konzentriert und überzeugt aus, als er diese Worte sagte. Es faszinierte Alayna. Es faszinierte sie schon seit dem ersten Tag, an dem sie ihn getroffen hatte.

„Ich habe deine Mutter nie kennengelernt, aber wenn sie so ist wie du, Alayna, dann habe ich keine Zweifel, dass sie sich schon längst ihren Weg gesucht hat und es ihr gut geht!“, munterte Eimi sie auf.

Darauf konnte sie nichts antworten. Warum fühlte sie sich plötzlich so gut? Es war, als würde Eimi all sein Vertrauen und seinen Mut wie einen Mantel um sie legen, der sie auch bei dem stärksten Wind warm halten würde. Als könnte sie plötzlich nichts mehr verletzen. Dabei brauchte sie nur in seine Augen schauen und wusste, dass sie auch Vertrauen in sich selbst haben musste. Sie mussten zunächst ihren Vater finden.

„Schau mal!“, rief Eimi, nahm ihre Hand und rannte los.

Der plötzliche Ruck holte sie wieder in die Gegenwart und zusammen mit ihm lief sie einen kleinen Hügel hinunter, direkt auf den nördlichen Hafen hinzu.

„Schau mal, wie die Sonne im Meer glitzert! Das Meer ist so toll!“, rief Eimi und zog Alayna hinter sich her.

Erst nach einigen Sekunden merkte sie, dass sie seine Hand hielt. Sie merkte, wie eine eigenartige Wärme in ihr hochstieg und ihre Ohren plötzlich ganz heiß wurden. Was sie nicht sehen konnte, war, wie sie langsam errötete.

Es fühlte sich grandios an.

 

Kioku sah sich überall um. Irgendwo musste dieses Boot doch sein, sie wusste es! Es war der Schlüssel zu ihren Erinnerungen.

„Verdammt!“, brüllte sie so laut, dass sogar die muskelbepackten Matrosen um sie herum einen Schrecken bekamen.

Seit etwa drei Stunden suchte sie schon und fand keinen einzigen Anhaltspunkt. Sie fragte Leute, Seefahrer und einfach jeden, den sie traf. Doch nirgendwo fand sie auch nur eine kleine Spur ihres Bootes. Bald war Sonnenuntergang und sie hatte nichts gefunden. Erschöpft ging sie über den östlichen Hafen und ließ die untergehende Sonne in ihrem Rücken. In der Ferne des Horizonts schimmerte schon das Blau der Nacht. Ein Fußweg führte sie an den Anlegestellen vorbei zu einigen kleinen Treppen, die sie hinunter zum Strand führten.

Als sie den ersten Schritt auf den weichen, gelben Sand machte und das Rauschen des Meeres nun viel klarer und lauter wurde, stockte ihr der Atem.

Was war in den letzten Stunden mit ihr passiert? Von einen auf den anderen Moment wurde sie immer aggressiver und wütender. Wütend darauf, dieses Boot nicht zu finden und wütend auf sich selbst. Sie schluchzte einmal kurz, als sie merkte, wie schwer ihr Körper plötzlich war. Sie zog die Schuhe aus und ging barfuß über den Sand. Es war kalt, doch es fühlte sich angenehm an, mit den Fußsohlen ein Stück weit in den Sand einzutauchen. Sie ließ ihn einige Male zwischen ihren Zehen hindurchrieseln.

Kioku lief einige Schritte auf das Wasser hinzu, eine Welle spülte Wasser und Sand bis zu ihren Füßen. Es war schrecklich kalt.

Eigentlich war es doch gar nicht so schlimm, das Boot nicht zu finden. Was hatte sie sich davon eigentlich erhofft? Darin ein Blatt zu finden, auf dem stand, wer sie wirklich war?

Der Strand war gehüllt in den langen Schatten der Stadt, nur zwischen den höchsten Gebäuden konnte man gerade die rötliche Sonne sehen. Es wurde kälter.

Das Geräusch des Wassers änderte sich. In der Ferne nahm sie eine Silhouette war. Als sie näher kam, entdeckte sie ein gestrandetes Boot. Der Lack war wohl durch die Steine an der Küste abgewetzt. Dennoch war davon genug übrig, damit sie erkennen konnte, welches Boot es genau war.

Es schien, als wäre es wie aus dem Nichts aufgetaucht, als müsste es sich jetzt genau in diesem Moment vor ihr offenbaren und sich zeigen. Es war ihr Boot.

Sie rannte darauf zu und ließ sich kurz davor auf die Knie fallen. Das war es. Es war das Boot, das genau die Form und Farbe hatte, wie sie es in ihrer Erinnerung gesehen hatte. Sofort drehte sie es um, die Strömung des Wassers hatte es umgeworfen.

Doch darin befand sich nichts außer einigen Algen, die am Holz klebten.

„Was… bedeutet das?“, murmelte sie leise vor sich hin und ließ sich erschöpft nieder. Sie lehnte sich an das Boot und hängte ihren rechten Arm schlaff hinein, der ungeduldig an den Algen zupfte.

„Was zur Hölle heißt das nun? Warum kann ich mich nicht erinnern? Ich weiß, dass du mein Boot bist, doch warum bist du so ramponiert?“

 

„Kioku“, meinte Takeru, der plötzlich vor ihr stand. Er, seine Schwester und Eimi hatten sich getroffen und waren zum Strand gelaufen, nachdem sie ihre Suche aufgegeben hatten. Die Sonne war schon hinter der Stadt und bald auch hinter dem Horizont verschwunden.

„Das ist es, oder?“, hakte Alayna vorsichtig nach.

Kioku nickte nur, ohne ihre Freunde dabei anzuschauen. Ihr Blick blieb starr auf dem Boot haften.

„Steh auf“, schlug ihr Eimi vor und reichte ihr eine Hand. Sie nahm diese und er zog sie hoch.

„Wisst ihr…“, erklärte Kioku mit ruhiger Stimme, „Manchmal wünscht man sich im Leben etwas so stark, dass die Angst, dass es nie wahr wird, ebenfalls mitwächst. Es gibt einige Menschen, deren Wunsch erfüllt sich. Ich kann mich nicht erinnern, welche Wünsche ich jemals hatte. Mein einziger Wunsch ist es, herauszufinden, wer ich bin. Diese Erinnerung und dieses Boot waren für mich ein Zeichen der Hoffnung. Und wenn ich es jetzt so betrachte, wie es mir nichts sagt, ist alles wieder wie vorher. Es ist nichts. Mein Leben ist Nichts, weil ich nicht weiß, wer ich bin.“

„Aber Kioku…“, entgegnete Alayna, wurde aber von ihrem Bruder unterbrochen.

„Dass du nicht weißt, wer du warst, bedeutet doch nichts!“, drängte Takeru, „Das, was du jetzt bist, zählt doch! Und jetzt bist du Kioku und gerade nur auf einer Reise, um Antworten zu finden. Was ist so schlimm daran, dass das Boot dir nichts sagt? Du hast doch immer noch die Chance weiterzugehen und etwas anderes zu finden. Und wenn du nichts findest, ist das auch nicht schlimm, denn du hast uns kennengelernt und hast deine Reise mit uns geteilt und für uns bist du nicht Niemand, du bist Jemand! Und du bist toll und eine gute Freundin!“

Takeru schnaufte theatralisch. Dann, von der einen auf die andere Sekunde drückte Kioku den Jungen fest an sich, sodass er kaum Luft bekam. Dabei legte sie ihren Kopf auf seinen. Ihre Haare fielen über seine und für einen Moment sah es so aus, als würden Beide dieselben schwarzen Haare haben.

„Danke Tak“, bedankte sich Kioku. „Du hast ja so Recht, so pessimistisch kenn ich mich selbst gar nicht, bisher war ich immer motiviert weiterzugehen!“

Als sich Takeru endlich aus dem Schwitzkasten befreien konnte, musste Eimi laut lachen. Alayna nahm das ganze schwerer auf. Die Worte ihres Bruders waren so direkt, dass sie das erst einmal verarbeiten musste. Sie fühlte sich, als müsste sie jetzt auch etwas machen. Dann nahm sie Kiokus Hand, sah ihr direkt in die Augen.

„Gehen wir?“, schlug Alayna vor und die Gruppe machte sich auf den Weg zurück nach Vernezye, um dort einen geeigneten Ort für die Nacht zu finden.

Kapitel 15 -  Arbeit in der großen Hafenstadt

 

Die letzten Regentroffen prasselten gegen die Fensterscheibe des Hotelzimmers. Dann wurde es ruhig und die ersten Sonnenstrahlen drängten sich durch den nächtlichen Regen durch die Wolken. Die Wassertropfen, die sich noch ans Fenster klammerten, streuten die feinen Lichtstrahlen in winzige Kränze.

Kioku war als Erste wach. Vielleicht lag es daran, dass sich die Freunde in dieser Nacht ein Zimmer hatten teilen müssen, da sie kaum noch Geld im Portemonnaie hatten. Aber vielleicht lag es auch daran, dass sich Kioku ein Bett mit Alayna geteilt hatte und sie des Öfteren etwas mehr Platz beansprucht hatte, als sie sollte.

Nichtsdestotrotz hatte Kioku so oder so wenig Schlaf gehabt. Sie konnte die Worte von Takeru am vorigen Tag nicht vergessen.

„Und für uns bist du nicht Niemand, du bist Jemand“, flüsterte sie sich vor sich hin, als sie am Fenster stand und die Morgensonne betrachtete. Sie drehte sich um und sah Takeru, wie er noch schlief. Sein leises Schnarchen brachte sie zum Kichern. Dieser Junge hatte ein Feuer in sich, dass Kioku noch nicht wirklich erschließen konnte. Es war wie eine Leidenschaft, die so stark pulsierte, dass sie auf andere Menschen sofort überging. Die Freude, die er am Leben hatte – selbst wenn die Situation gerade mehr als kompliziert und schwierig für ihn sein mochte – gab ihr eine Sicherheit, dass auch sie einmal dieses Glück empfinden würde. Vielleicht sollte es der Moment sein, in dem Kioku sich wieder an ihre Vergangenheit erinnerte.

„Wir brauchen Geld“, murmelte Eimi, der sich gerade streckte. Er gähnte herzhaft und rieb sich die Augen.

Kioku drehte sich zu ihm. Er schlief die Nacht vor Takerus Bett auf dem Boden und sah dementsprechend erschöpft aus.

„Wir haben einfach kein Geld“, redete er weiter, ohne ihr einen guten Morgen zu wünschen oder Rücksicht auf die noch Schlafenden zu nehmen. „Sonst kommen wir einfach nicht weiter. Wir wissen ja auch gar nicht, wohin wir als nächstes gehen sollten. Es gibt keine weiteren Anhaltspunkte mehr, richtig?“

„Nicht, dass ich wüsste“, entgegnete Kioku und betrachtete wieder die Stadt hinter dem Fenster.

„Also, zumindest wüsste ich nicht, wie wir sonst weiterhin das Hotelzimmer oder Essen bezahlen sollten. Es ist schwierig, ohne Ersparnisse weiterzukommen.“

„Das stimmt. Also sollten wir uns wohl Arbeit besorgen?“

„Arbeit?“, sagte Alayna und gähnte herzhaft. Dann fuhr sie sich mit der Hand durch die Haare und setzte sich auf. Sie streckte sich und gähnte ein zweites Mal herzhaft. „Das klingt so nach Arbeit.“

„Du bist lustig, natürlich heißt das Arbeit“, lachte Kioku. „Aber Eimi hat Recht, wir brauchen das Geld.“

Alayna ließ einen Seufzer los und starrte dann aus dem Fenster. „Gibt es wirklich keine andere Möglichkeit? Das ist nicht gerade ein schönes Thema, wenn man gerade aufgewacht ist.“

„Also auf der Straße werden wir kein Geld finden“, erklärte Eimi. „Und ich kenn mich mit der Straße aus.“

„Was schlagt ihr dann vor?“ Alayna hatte keine andere Wahl. Sie hatte zwar noch nie in ihrem Leben gearbeitet, aber in dieser Situation blieb ihr nichts anderes übrig. Für alles gab es ein erstes Mal und ohne Geld kam man nicht weiter.

„Wir werden uns heute Jobs suchen und etwas Geld verdienen, heute Abend sehen wir dann ja weiter. Vielleicht bekommen wir während der Arbeit Anhaltspunkte, wohin es weiterhin gehen könnte.“

„Klingt gut!“, bekräftigte Kioku und setzte sich zu Alayna aufs Bett.

„Das sollten wir deinem Bruder auch gleich sagen“, meinte Eimi. „Hey Tak, aufwachen!“

Takeru murmelte etwas vor sich hin und drehte sich um.

„Er kommt immer schwer aus dem Bett“, grinste Alayna und schnappte sich ihr Kissen um es auf ihren Bruder zu werfen. Doch der reagierte nicht. „Na warte!“

Sie stand auf zog ihrem Bruder die Decke weg um ihn dann mit ihrem Fuß wachzurütteln. „Aufwachen!“

„Ja… schon gut“, beschwerte sich Tak und versuchte sich unter seinem Kissen zu verstecken.

„Nichts da“, entgegnete Alayna, zog ihm auch das Kissen weg und setzte sich auf ihren Bruder.

„Hey, du bist so schwer! Dicke Kuh!“, ärgerte Tak sie zurück.

Doch Alayna streckte nur die Zunge heraus und meinte: „Ich hab nichts gehört!“

„Dicke Kuh!“, brüllte Tak und schob seine Schwester von sich und stand auf. „Das kriegst du zurück!“

Bevor sich Takeru ein anderes Kissen schnappte, stand Eimi schon zwischen den Geschwistern und versuchte beide wieder zu beruhigen, doch dann bekam er schon zwei Kissen ins Gesicht.

Die Geschwister sahen sich beide in die Augen und fielen schon in lautes Gelächter. Vielleicht war der Morgen doch nicht so schlecht, wie Alayna zunächst dachte.

 

Später blätterte Takeru die Zeitung durch. Auf der vorletzten Seite fand er Stellenanzeigen für Tagelöhner. Er bat seine Freunde um Ruhe und las einige der Anzeigen durch. Als er fertig war, legte er die Zeitung auf den Tisch.

„Sieht echt so aus, als würden wir nicht darum herum kommen, heute zu arbeiten. Da muss ich mich meinem Schicksal fügen“, seufzte Alayna theatralisch und ließ sich zurück aufs Bett fallen. Sie fuhr langsam mit dem Finger über die Anzeigen. „Ich glaube ich nehme das.“

„Kellnerin in einem Restaurant?“, stellte Kioku fest, „Ist doch gar nicht so schlecht!“

„Ich denke, es ist machbar. Einen Teller Essen zu den Leuten bringen?“

Eimi schmunzelte. Ob das wirklich so einfach werden würde?

Takeru entschied sich das Tagesblatt der Zeitung auszutragen.

„Wir können im Hafen aushelfen, was hältst du davon?“, schlug Kioku vor und wandte sich zu Eimi. „Da verdient man das meiste, weil es körperlich anstrengender ist. Aber es könnte gut funktionieren.“

„Klar, wenn du das willst, hab ich gar nichts dagegen“, lächelte Eimi.

Nach den netten Worten Eimis am Vortag fühlte sich Kioku sicherer und entschloss sich deshalb, ihn besser kennenlernen zu wollen. Nicht zu wissen, wer man war, hält einen nicht davon ab, herauszufinden, wer andere waren. So nett wie Eimi doch war, empfand sie ihn trotzdem als unnahbar. Er hatte etwas in seinen Augen, das einem spiegelnden Vorhang glich. Man wusste, dass man von ihm gesehen und wahrgenommen wurde. Dennoch hatte sie das Gefühl, dass sich noch etwas anderes, unbestimmtes dahinter versteckte. Sie musste es herausfinden.

 

So dauerte es nicht lange, da packten die Freunde ihre Sachen und machten sich auf den Weg zu ihren potentiellen Arbeitgebern. Alayna kam als erste bei ihrem Arbeitgeber an. Als sie sich vorstellte, drückte der Restaurantbesitzer ihr gleich eine Schürze und einen Notizblock mit Stift in die Hand. Ihre Aufgabe war es, die Wünsche der Gäste zu notieren, dies den Köchen zu sagen und dann das Essen den Gästen zu bringen. Vorerst dachte sie, dass es machbar war, aber als sie merkte, dass es schwierig war, sich alles zu merken, welches Gesicht zu welcher Person, und welche Person zu welcher Bestellung gehörte, versuchte sie trotzdem immer zu lächeln. Wenn sie sich vertan hatte, entschuldigte sie sich höflich und meistens gab es auch keine weiteren Probleme deswegen. In einer Ecke saßen einmal ziemlich reich wirkende Damen, die mit schnippischen Kommentaren um sich warfen, als würden sie wie zu einem Fest Feuerwerk in die Luft jagen.

Alayna schoss die Wut durch den gesamten Körper. Sie war kurz davor, ihrem Ärger Luft zu machen. Wie konnten sich diese Zicken nur so etwas erlauben?

„Und diese Klamotten, wie kann man nur so aus dem Haus gehen, geschweige denn Kellnerin werden?“, bemerkte eine der Frauen, die eine große Goldkette und ebenso große Kreolen trug. Ihre drei Freundinnen kicherten darauf wie wild, um ihr den nötigen Ruhm für ihre Kommentare zu geben.

Alayna ballte ihre Faust und war gerade dabei zu schreien, als der Restaurantbesitzer hinter ihr stand und sanft die Hand auf ihre Schulter legte. Mit seinen Augen sagte er ihr, dass sie in der Küche warten sollte. Sie verstand erst nicht, aber als sie bemerkte, was der Koch zu den Ladys sagte, als sie gerade wegging, schlich sich ein breites Grinsen auf ihr Gesicht.

In der Küche herrschte geschäftiges Treiben. Essen wurde hin- und hergetragen, die Anweisungen der Köche, das Klappern der Töpfe und Küchenutensilien klangen in einer rhythmischen Melodie.

Der Chefkoch kam herein. Alayna blieb still.

„Eines musst du im Leben lernen“, fing der Chefkoch an. Seine Stimme war so tief und angenehm. Sein grauer Bart bewegte sich kaum, als er redete. „Es gibt zwei Arten von Menschen: Die einen wollen dir etwas Gutes, die anderen fühlen sich besser, wenn sie dich schlecht machen. Halte dich einfach diesen Leuten fern und konzentriere dich auf die Guten.“

Er legte wieder seine Hand auf ihre Schulter, sah ihr tief in die Augen und Alayna nickte bestätigend.

„Dann geht es weiter mit der Arbeit.“

Und Alayna machte sich wieder auf.

 

Takeru befand sich schon auf seiner Reise durch die Stadt. Hinter sich zog er einen Bollerwagen, der befüllt mit Zeitungen und Werbung war. In der Hand hielt er eine Karte mit der Route, an welche Haushalte er die Zeitungen ausliefern sollte. Jedes Mal, wenn er vor einem Haus stand und dabei war, einen Stapel Zeitungen dazulassen, machte er eine kurze Pause und las in der Zeitung.

So ging das eine Weile, bis Takeru immer langsamer und immer langsamer wurde. Dann setzte er sich vor eine Haustür, schlug die Zeitung auf und las sich die großen Berichte durch: „Feuersbrunst zerstört ganzes Dorf“, „Geiselnahme mit glimpflichen Ausgang“, „Schneemonster und Lichtgestalt“.

Der letztere Bericht interessierte Takeru sehr.

„Augenzeugen berichten, dass in der Nähe ihrer Dörfer auf dem Fuße des Shimorita eine Lichtgestalt gesehen wurde, die von einer Art Schneemonster verfolgt worden sei. Die abergläubischen Dorfbewohner reden von einem Yeti und die Heilige Rothea, die Menschen aus Schneestürmen retten soll. Es wird gebeten, dass weitere Aussagen den örtlichen Behörden gemeldet werden solle, weil noch nicht sicher ist, um was es sich bei diesem Ereignis handelt“, las er halblaut vor. „Eine Lichtgestalt und ein Schneemonster, das sind sicherlich mein Vater und das Lichtwesen!“

Takeru jubelte vor Freude, das musste es sein! Doch wie kam er nach Ruterion, damit er die Spur seines Vaters nicht verlieren konnte? Es war momentan unmöglich, ohne Geld weiterzukommen. Sie müssten sich ein Schiff leisten können. Oder doch eher als blinder Passagier mitreisen? Das wäre zu gefährlich.

Er seufzte und ließ die Zeitung fallen. Was sollte er nur tun? Grübelnd starrte er auf den Boden und entdeckte in der fallen gelassenen Zeitung ein Gewinnspiel.

„Gewinnen Sie ein Gratisrundflug für 5 Personen nach Saiyhô! Gratis Hotelübernachtung und Rundführung durch die Stadt. Melden Sie sich jetzt an und gewinnen Sie!“

„Das ist es!“, rief Takeru voller Freude. Er stürzte sich in diesem Augenblick auf alle Zeitungen, riss alle Anmeldeformulare für das Gewinnspiel heraus und füllte sogleich alle aus. Den Wagen mit den Zeitungen ließ er stehen. Dann rannte er zum Verlag und gab über dreihundert ausgefüllte Gewinnspielformulare ab. Jetzt hieß es nur noch abwarten und gewinnen. Die Ziehung sollte am Abend erfolgen.

 

Eimi und Kioku waren währenddessen damit beschäftigt, am Hafen Kisten hin und her zu schleppen. Die Arbeit war anstrengend. Die Hafenarbeiter waren alle muskulöse, braungebrannte Männer, einer größer als der Andere. Sie schleppten die schwersten und unhandlichsten Kisten und Fässer über den Hafen und zogen zu mehreren Karren, auf denen bestimmt eine halbe Tonne Fisch und Nahrungsmittel zum nächsten Schiff transportiert wurden. Es war ein Knochenjob.

Kioku betrachtete Eimi. Er war jung und stark. Es schien ihm nichts auszumachen, so schwer zu arbeiten. Sie stellte die sperrige Kiste kurz ab und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Irgendetwas war an diesem Jungen, was ihn unglaublich sympathisch wirken ließ. Aber was war das? Kioku wollte dem unbedingt auf den Grund gehen.

„Arbeitest du zum ersten Mal?“, fragte sie ihn kurz darauf, als sie zusammen eine große Kiste trugen.

„Nein, im Waisenhaus habe ich solche Arbeiten oft erledigt. Anfangs war das alles so chaotisch, Chojiro war nicht immer so ein organisierter Mann gewesen. Da hab ich einiges aushelfen müssen. Und obwohl ich so jung war, hat er meine Vorschläge immer sehr wertgeschätzt. Komisch, irgendwie…“

Sie antwortete erst nichts darauf und ließ ihn erzählen. Er erzählte seine Geschichten mit einer Leidenschaft, die sie so noch nie gespürt hatte. Wie konnte Kioku das überhaupt beurteilen?

„… und obwohl meine Eltern mich zuhause nie dazu zwangen, zum Beispiel irgendetwas im Haushalt zu tun, hatte ich das Bedürfnis, etwas zu tun. Und das Waisenhaus bot mir da die beste Gelegenheit dafür. Ich habe mich plötzlich so nützlich gefühlt.“

Kioku starrte tief in seine Augen. Es musste einfach diese pure Ehrlichkeit sein, die von ihm ausging. Er versteckte nichts in dem was er sagte und wie er es sagte. Dieser angenehme Ton, in dem er redete, verstärkte dieses Gefühl enorm.

„Das wurde dann auch noch durch die Wertschätzung von allen bestätigt. Chojiro fand meine Arbeit super und irgendwann sahen auch die kleinen Kinder zu mir auf. Das spornte mich natürlich an, mich noch mehr für das Waisenhaus einzusetzen! Frag mich nicht wieso, aber mir machte das alles nichts aus. Ich tat das gerne.“

„Das ist ziemlich nobel“, antwortete Kioku. Eimi zog verwundert eine Augenbraue nach oben. „Ich mein, also… Das klingt gut.“

Kioku wusste nicht, was sie jetzt darauf antworten sollte. Ein Glück, dass die beiden genau in diesem Moment die Kiste auf einem kleinen Boot abstellen mussten und von ihrem Chef den nächsten Auftrag bekamen. Sie wollte auch nicht mehr darüber reden. Mit der Zeit würde sie schon noch mehr von Eimi erfahren.

 

Am Abend trafen sich die Freunde in ihrem Gasthaus. Erschöpft ließen sich Alayna und Kioku auf dem Bett nieder.

„Was für ein Tag!“, seufzte Alayna erschöpft. „Es gab so viel zu tun und die Gäste waren teilweise richtig grässlich. Also falls ich jemals fies gegenüber einer Kellnerin war, möchte ich mich hier offiziell dafür entschuldigen!“

Eimi nahm sich eines der Gläser, die auf dem Tisch standen und schenkte sich Wasser ein. Er gönnte sich erstmal einen großen Schluck eiskalten Wassers.

„Aber immerhin haben wir eine Menge Geld verdient“, lachte Kioku. „Es fühlt sich richtig gut an, wenn die Glieder schlapp machen, nach so einem harten Tag. Und der Geldbeutel ist voll!“

Auf einmal ging die Tür auf und Takeru kam schnaufend herein. Er war der letzte, der noch fehlte.

„Ich hab die Lösung!“, rief er voller Freude und knallte eine der Zeitungen, die er eigentlich austragen sollte, auf den Tisch.

„Was ist das?“, hakte Eimi nach.

„Das, liebe Freunde, ist die Zeitung von heute. Seht ihr das hier?“, er deutete auf den Beitrag mit dem Schneemonster und der Lichtgestalt. „Das ist unser heißer Tipp, ich weiß wo unser Papa ist!“

„Auf dem Shimorita? Dieser Berg liegt doch auf einem anderen Kontinent. Wir haben nicht genug Geld, dort rüberzukommen“, entgegnete Kioku.

„Das ist kein Problem“, grinste Takeru und war ganz stolz, als er fünf Freiflugscheine aus seiner Tasche zog. „Es war zwar nicht ganz legal, aber ich hab von jeder Zeitung einen Teilnahmeschein ausgefüllt und bei der Fluggesellschaft eingereicht und hab tatsächlich gewonnen!“

„Du ausgefuchster Glückspilz“, meinte Kioku und wuschelte ihm einmal durchs Haar. „Das hast du echt super gemacht!“

„Na hoffentlich kommen wir dafür nicht in den Knast“, rief Alayna aufgebracht. „Spinnst du!? Dafür hättest du ziemlich großen Ärger bekommen können!“

„Aber…“, flüsterte Takeru eingeschüchtert.

„Glück gehabt“, seufzte Eimi. „Es ist nicht in Ordnung, was du da getan hast, aber es ist wenigstens eine Chance, weiterzureisen. Solange das keiner mitbekommt.“

Es war nicht nur das, Alayna zweifelte etwas an der ganzen Sache. „Bist du sicher, dass das Dad ist? Und wirklich nicht einfach ein Yeti oder sonst etwas? Was, wenn Dad noch hier ist und wir einfach auf dem falschen Kontinent suchen? Ich mein, es ist nicht einfach nur die falsche Stadt, sondern dann der falsche Kontinent.“

Takeru griff nach seinem Kompass und sah seiner Schwester entschlossen in die Augen.

„Alayna, vertrau mir, irgendetwas sagt mir, dass das richtig ist“, erklärte er, „Es ist nicht wie damals, als ich dir weis machen wollte, dass Mama in dieses eine Geschäft gegangen war und sie aber doch am ganz anderen Ende der Stadt war und wir sie deswegen stundenlang suchen mussten. Diesmal ist es anders, das spür ich!“

„Also ich finde, dass es einen Versuch wert ist“, fügte Kioku hinzu, „Außerdem haben wir ja Freiflugscheine, da verlieren wir nichts.“

„Und wenn es ein falscher Hinweis war, dann kommen wir einfach zurück“, schlug Eimi vor.

„Gut“, sah Alayna ein, „Dann probieren wir es aus.“

„Yay!“, rief Takeru und sprang aufs Bett, „Wir fliegen also nach Ruterion und finden unseren Papa!“